Planung

Friedrichstraße ist die Nummer 1
Erreichbarkeitsstudie für die Berliner Fahrbahnhöfe

Die Bürgerinitiative Westtangente (BIW) stellte im März eine Erreichbarkeitsstudie der vorhandenen, der im „Pilzkonzept“ des Senats geplanten und der im BIW-Ring-Konzept-720 vorgesehenenen IC/ICE-Fernbahnhöfe vor. Die Studie wurde von Bernd Breitkopf erstellt, der für 17 Bahnhofsstandorte im Berliner Raum die Anbindung an den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) untersuchte. Ermittelt wurde die Erreichbarkeit innerhalb von 30 Minuten. Zugrundegelegt wurden das wiederhergestellte S-Bahn-Netz von 1961, das die Bundesregierung finanziert, und das heutige U-Bahn-, Straßenbahn- und Bus-Netz, da Netzerweiterungen voraussichtlich nicht finanziert werden können. Lediglich das Bus-Netz ist recht variabel.

Die Gegenüberstellung der Bahnhöfe Friedrichstraße und Lehrter Zentralbahnhof zeigt, daß der Bahnhof Friedrichstraße mit 177 km2 weit mehr Fläche erschließt als der geplante Lehrter Zentralbahnhof mit 98 km2. Deutsche Bahn AG, Bundesregierung und Berliner Senat planen jedoch, mit Realisierung des "Pilzkonzeptes" den vorhandenen Fernbahnhof Friedrichstraße aufzugeben und stattdessen über 900 Millionen DM für den Lehrter Zentralbahnhof - nur 1,2 km entfernt - in den Sand zu setzen. Werden die die unvermeidlichen Anbindungskosten für den neuen Bahnhof hinzugerechnet, ergeben sich Gesamtkosten von über 4 Milliarden DM.

Lehrter Bahnhof
S-Bf Lehrter Stadtbahnhof. Hier soll in den nächsten Jahren der Lehrter Fernbahnhof, Berlins neuer Zentralbahnhof, entstehen. Größtes Manko dieses Standortes ist die schlechte Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Norden und von Süden her. Verschärft werden diese Probleme durch die Absicht, auch den Transrapid zwischen Berlin und Hamburg am Lehrter Bahnhof starten zu lassen. Foto: Thomas Billik (6/95)

Der zweite untersuchte Standort, der sich deutlich von allen anderen abhebt, ist Landsberger Allee (159 km2) am nordöstlichen Berliner Innenring. Ein solcher Fernbahnhof fehlt jedoch ebenfalls im "Pilzkonzept". Für die östlichen Bezirke wäre er äußerst wichtig.

Besonders markant ist, daß die beiden im "Pilzkonzept" neu geplanten Fernbahnhöfe Lehrter Zentralbahnhof und Papestraße in der unteren Hälfte der Rangliste zu finden sind. Das bedeutet, daß diese Bahnhöfe eine unterdurchschnittliche ÖPNV-Anbindung haben. Laut dem bahneigenen Planungsbüro DE-Consult sollen aber in Zukunft mehr als 2/3 aller Fahrgäste diese beiden "Zentralbahnhöfe" benutzen. Da sie mit dem ÖPNV kaum umsteigeffei und damit bequem zu erreichen sind, werden die Fahrgäste auf das Auto verwiesen. Eine Zunahme des Autoverkehrs in Berlin ist jedoch nicht stadtverträglich. Nachdem die adäquate Einbindung des Lehrter Zentralbahnhofs in den Öffentlichen Nahverkehr aufgrund der Streichung einer neuen S-Bahn-Linie (S 21) nicht erfolgt und auch die Verlängerung der U-Bahn-Linie 5 ins Finanzloch gefallen ist, ist es um so wichtiger, mit wenig Aufwand vorhandene Bahnhöfe attraktiv zu gestalten.

Die BIW fordert deshalb, daß der vorhandene Fembahnhof Friedrichstraße sofort, noch während der gegenwärtigen Umbauphase, mit ICE-gerechten längeren Bahnsteigen ausgerüstet wird, damit im Jahr 1999 ein leistungsfähiger, regierungsnaher Fernbahnhof zur Verfügung steht. Dieser Bahnhof darf auf keinen Fall vernachlässigt werden!

Es wäre fatal für die Bevölkerung, gut zu erreichende Fernbahnhöfe zukünftig vom Fernverkehr abzuhängen, wie jetzt geplant. Die von der Bahn AG beabsichtigte Degradierung der heute betriebenen Fernbahnhöfe Schöneweide (130 km2), Lichtenberg (106 km2) und Schönefeld (nur 46 km2, aber Flughafenstandort) ist verkehrt ich nicht zu begründen.

Es sei noch kurz auf den Mythos eingegangen, der Eisenbahntunnel mit dem Lehrter Zentralbahnhof bringe ungeheure Reisezeitverbesserungen. Reisezeit ist sinnvoll nur wie folgt zu definieren: Zugangszeit + Wartezeit + Fahrzeit + Umsteigezeit + Abgangszeit. Die Reisezeit ist demnach die Zeit, die benötigt wird, um z.B. von Hannover (Ausgangsort) nach Berlin (Ziel) zu gelangen ("Reisezeit von Haustür zu Haustür"). Reisezeitverbesserungen entstehen durch

  • mehr direkte Zugverbindungen,
  • gesicherte Anschlüsse durch Fahrplanverbesserungen,
  • Verbesserungen der Erreichbarkeit der Bahnhöfe (mehr Bahnhöfe, Ausbau der ÖPNV-Anbindung, Park & Ride etc.).

Friedrichstr
Die Erreichbarkeitsstudie der BIW ergab, daß kein Berliner Fernbahnhof mit öffentlichen Verkehrsmitteln so gut erreichbar ist, wie der Bf Berlin Friedrichstraße. Dennoch sollen hier nie wieder Fernzüge halten, nicht einmal in den Jahren bis zur Fertigstellung des Lehrter Zentralbahnhofes. Foto: Marc Heller (6/95)

Minutenweise Fahrzeitverbesserungen auf ausgebauten Strecken führen nicht zur Reisezeitverbesserung, wenn die Züge nur an wenigen Bahnhöfen halten, die womöglich noch schlecht an den Nahverkehr oder an das Straßennetz angebunden sind. Genau das ist aber (unnötigerweise) die Situation, die uns heute in Berlin erwartet. Für Minutengewinne bei der Fahrzeit werden Milliarden DM investiert, während vorhandene Fernbahnhöfe nicht mehr angefahren werden.

Schnelle Lückenschlüsse im Schienennetz zwischen ehemals West-Berlin und Ost-Berlin und DDR wurden nicht durchgeführt und sind noch immer nicht absehbar. Durch diese i.d.R. preiswerten Lückenschlüsse könnten aber mehr und schnellere Direktverbindungen angeboten werden (z.B. Innenring). Doch die Optimierung des Gesamtnetzes bleibt auf der Strecke, weil politisch forcierte Prestigebauten alle Planungskapazitäten und Finanzmittel aufsaugen.

Die Erreichbarkeitsstudie der BIW liefert wertvolle neutrale Daten. Die wichtigsten Schlußfolgerungen sind für uns:

  • Die vorhandene Infrastruktur sollte Grundlage sein, um schnell Verbesserungen zu erreichen.
  • Die betriebenen Fernbahnhöfe müssen vorrangig genutzt werden.
  • Die Bahnsituation muß und kann mit geringem finanziellen Aufwand verbessert werden.
  • Es müssen kostengünstige Fernbahnhöfe an geeigneten Stellen neu gebaut werden.
  • Jede Zentralisierung sollte vermieden werden, um Überlastungen der Bahnhofsanbindungen, beim ÖPNV (Gedränge, Streß) ebenso wie bei den Straßen (Stau, Lärm), zu verhindern bzw. um Kosten für neue Bahnhofsanbindungen zu vermeiden.

Zu handeln bleibt Sache der Politik. Die Politik muß überprüfen, was Verwaltung und Deutsche Bahn AG machen.

Bürgerinitiative Westtangente

aus SIGNAL 3-04/1996 (Mai 1996), Seite 24-25

 

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