International
18. Mär 2011
Mit der Überarbeitung des Ersten Eisenbahnpaketes, dem sogenannten „Recast“, wird 2011 eine neue Seite der europäischen Eisenbahngesetzgebung aufgeschlagen und die Schaffung eines „Einheitlichen Europäischen Eisenbahnraumes“ angestrebt. Doch so notwendig dieser Schritt ist, so sehr untergräbt der Protektionismus der EU-Mitgliedstaaten und vieler etablierter Eisenbahnunternehmen bisher diese Anstrengungen.
Viele Mitgliedstaaten – auch Deutschland – setzen seit Jahren das geltende EUEisenbahnrecht nicht oder nur mangelhaft um. Nach den EU-weiten Erfahrungen ist es allerdings erstaunlich, dass ein EU-weiter Wettbewerb weniger von der Trennung von Netz und Betrieb abhängt, als von einer unabhängigen Regulierungsbehörde. Wichtig ist außerdem, dass die Entscheidungen für eine Trassenvergabe schnell erfolgen und die Trassen- und Stationspreise transparent und
nachvollziehbar sind.
Eine Analyse zeigt, dass seit der Öffnung der Netze die Schiene enorm gewonnen hat. So hat der Schienengüterverkehr in Großbritannien um 60 Prozent, in den Niederlanden um 42 Prozent, in Polen um 30 Prozent und in Deutschland um 25 Prozent zugenommen, während er in Frankreich, das sein Netz abschottete, einen Verlust von 28 Prozent verzeichnen musste. Das bedeutete dort eine Verlagerung von der umweltfreundlichen Schiene auf die klimafeindliche Straße und einen Verlust von Arbeitsplätzen.
Deshalb brauchen wir den „Einheitlichen Europäischen Eisenbahnraum“ in der EU. Wie weit wir davon aber noch entfernt sind, soll an drei Beispielen verdeutlicht werden.
Obwohl die Trennung von Netz und Betrieb entgegen der EU-Gesetzgebung noch immer nicht vollzogen wurde, fahren auf dem deutschen Schienennetz mehr als 300 Eisenbahnunternehmen. Gäbe es diese Zustände in der EU, dann wäre der Einheitliche Europäische Eisenbahnraum keine Utopie mehr. Trassenanfragen müssen in Deutschland innerhalb von 14 Tagen entschieden werden, und eine unabhängige Regulierungsstelle verhindert mögliche Diskriminierungen von Wettbewerbern. Ob aber das deutsche Modell – Trennung der Sparten innerhalb eines Konzerns – mit dem EU-Recht vereinbar ist, wird der Europäische Gerichtshof demnächst entscheiden. Wir Grünen sind nach wie vor dafür!
Kritikwürdig ist in Deutschland jedoch die fehlende Transparenz bei den Trassenpreisen und den Investitionen. So sind die Trassenpreise z. B. für die S-Bahn in Berlin doppelt so hoch wie in Hamburg und dort doppelt so hoch wie im Rhein-Main-Gebiet. Die Bundesländer zahlen zwar 84 Prozent der Stationspreise und 64 Prozent der Trassenentgelte, haben aber keinen Einfluss auf die Investitionsentscheidungen. Beispielsweise wird am Berliner S-Bahnhof Waidmannslust seit mehr als 20 Jahren der südliche Zugang versperrt, anstatt die Treppe vom Fußgängertunnel zum Bahnsteig zu sanieren. Der Zugang von der Rönnestraße (Wohngebiet am Lietzensee) zum Berliner S-Bahnhof Westkreuz wird von der DB AG in der Schublade abgelegt, obwohl er vom Berliner Senat im Zusammenhang mit der Verschiebung des S-Bahnhofs Charlottenburg bereits vor sechs Jahren bestellt wurde und eine Finanzierungszusage vorliegt. Offensichtlich spielt die Fahrgastfreundlichkeit keine Rolle.
In Italien muss zwar innerhalb von zwei Monaten über eine Trassenvergabe entschieden werden – aber nur, wenn die Angaben vollständig sind. Das sind sie selten, so dass eine Entscheidung oftmals auch nach 18 Monaten noch aussteht. Außerdem hatte die italienische Regulierungsbehörde einem Gemeinschaftsunternehmen von Deutscher Bahn und Österreichischer Bundesbahn im letzten Moment untersagt, dass die bereits genehmigten Personenfernverkehrszüge von München nach Mailand bzw. nach Venedig auf italienischen Zwischenbahnhöfen halten.
In Frankreich versuchte man mit anderen Mitteln den Netzzugang zu erschweren. Nachdem dort die Gewerbesteuer abgeschafft wurde, führte man zum Jahresbeginn 2010 eine Pauschalabgabe auf rollendes Material ein, die „Imposition Fortfaitaire sur les Entreprises de Réseaux“ (IFER), die alle Eisenbahnunternehmen zu entrichten haben. Für die französischen Eisenbahnunternehmen blieb die Höhe der Abgaben gleich, nur das Wort änderte sich. Aber die nicht-französischen Eisenbahnunternehmen zahlen nun doppelt: zuhause die Gewerbesteuer und in Frankreich zusätzlich die IFER.
Kein Wunder, dass es auf dem französischen Eisenbahngüterverkehrsnetz gerade mal ein gutes Dutzend – vorwiegend regionale – Eisenbahnunternehmen gibt. Beschwerden gibt es auch darüber, dass Trassenanfragen zum Teil selbst nach 24 Monaten noch nicht beantwortet, geschweige denn erteilt werden.
Durch Interventionen der Europäischen Kommission, der deutschen Bundesregierung und auch von uns Grünen im Europäischen Parlament konnte inzwischen zwar erreicht werden, dass Italien die Halteverbote zwischen München und Mailand – nicht aber zwischen München und Venedig – für drei Monate aussetzte und dass Frankreich die grenzüberschreitenden Verkehre von der neuen Abgabe ausnahm. Doch die Ereignisse zeigen, dass man vom Geist einer gegenseitigen Öffnung des Bahnsektors in Europa noch weit entfernt ist und dass jeder Erfolg im Einzelfall hart erkämpft werden muss.
Solange sich an diesem Zustand nichts ändert, ist eine Weiterentwicklung der europäischen Eisenbahngesetzgebung nur bedingt sinnvoll. Notwendig ist vor allem eine diskriminierungsfreie Regelung bei der Vergabe von Trassen und der Behandlung von Beschwerden. Was in einem Mitgliedstaat schon funktioniert, wird in einem anderen noch Jahre dauern. Eine EUweite Standardisierung der Ablaufprozesse ist überfällig. Und – natürlich – muss die Kommission als „Hüterin der Verträge“ bei Verstößen unverzüglich Verletzungsverfahren einleiten, damit durch entschiedenes Vorgehen diskriminierende Nachahmer abgeschreckt werden.
Michael Cramer, MdEP,
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament
aus SIGNAL 1/2011 (März 2011), Seite 24-25