Straßenbahnausbau in Berlin

Eine Frage des Geldes? Oder des politischen Willens?

Mit der Eröffnung der Adlershofer Strecke ist, mehr als vier Jahre nach der letzten Inbetriebnahme einer neuen Trasse, das Berliner Straßenbahnnetz wieder ein Stück gewachsen. Allerdings geschieht das Wachstum schon seit zwanzig Jahren nur im Schneckentempo. Ist dies, vor allem angesichts der wirtschaftlichen Verhältnisse, nicht anders möglich?


Jan Gympel

19. Okt 2011

Ein Provisorium sollte die Endhaltestelle am U-Bahnhof Warschauer Straße sein, als sie im Mai 2000 in Betrieb ging. Doch wann die geplante Verlängerung Richtung Schlesisches Tor und Hermannplatz erfolgt, ist inzwischen völlig offen.
Als 1976 die U-Bahn zur Osloer Straße eröffnet wurde, war die Straßenbahn schon einmal dort gewesen: 1927/28 ging die Strecke durch die See-, Osloer, Bornholmer und Wisbyer Straße (erstmals) in Betrieb.
Von 1927 bis 1966 fuhr die Straßenbahn über die Heerstraße nach Spandau. Der Platz für die Gleise ist über weite Strecken immer noch vorhanden. Fotos: Jan Gympel

Reden wir nicht von dem, was die DDR seit Mitte der siebziger Jahre in nur anderthalb Dekaden an neuen Straßenbahnstrecken aus dem Boden stampfte. Die Rahmenbedingungen im damaligen Ost-Berlin waren ganz andere als heute in der wiedervereinten Stadt, zudem wurde zum großen Teil auf der „grünen Wiese“ gebaut statt in bereits besiedeltem Gebiet.

Aber blicken wir doch einmal zurück in die Zeit der Weimarer Republik. Weitgehend in Vergessenheit geraten ist, wie viele Tramtrassen damals in Berlin neu entstanden. Eine kleine Chronik:

1. März 1925 – Mit der Strecke in der Jostystraße (heute Teil der Mollstraße) wird – wie östlich bereits vorhanden – auch nördlich des stark frequentierten Alexanderplatzes ein Einrichtungsverkehr eingerichtet: Alle Züge zur Greifswalder Straße und zur Prenzlauer Allee verlassen den Platz über die Neue Königstraße (heute Otto-Braun-Straße), alle Züge von dort erreichen ihn über die Prenzlauer Straße (heute ersetzt durch die Karl- Liebknecht-Straße). Der teilweise notwendige Wechsel des Straßenzuges erfolgt über die Jostystraße, die nur in westlicher Richtung befahren wird.

31. Mai 1925 – Nachdem eine Gleisverbindung zu den Strecken der ehemaligen „Städtischen Straßenbahn Cöpenick“ hergestellt worden ist, beginnt der durchgehende Linienverkehr aus dem Berliner Netz über die Ecke Linden- und Bahnhofstraße hinaus. Zeitgleich geht die Trasse zum Krankenhaus Köpenick in Betrieb.

20. Juli 1926 – Eröffnung der Strecke in der Straße Unter den Eichen von der Drakestraße bis in den Dahlemer Weg hinein. Sie ist als erster Abschnitt einer Verlängerung nach Zehlendorf-Mitte, wenn nicht gar bis nach Potsdam, gedacht.

12. April 1927 – Eröffnung der Strecke auf der Heerstraße: Sie verbindet die bestehenden Gleisanlagen am Bahnhof Heerstraße mit jenen in Pichelsdorf und beinhaltet auch eine Schleife zur Grunewald-Rennbahn (heute Standort des Olympiastadions) über Rennbahnstraße (heute Flatowallee), (späterer) Stadionallee (heute Jesse-Owens-Allee) und Rominter Allee (heute Passenheimer Straße).

22. September 1927 – Eröffnung der Strecke von der Berliner Straße (heute Tempelhofer Damm) über die Flughafenstraße (in Fortsetzung der Paradestraße, heute in diesem Bereich nicht mehr vorhanden) zum (damaligen) Abfertigungsgebäude des Flughafens Tempelhof, der damit wenige Jahre nach seiner Inbetriebnahme an die Straßenbahn angeschlossen worden ist.

15. November 1927 – Eröffnung der Strecke in der Seestraße zwischen

ANZEIGE

Eckernförder Platz und Amrumer Straße.

2. Juli 1928 – Eröffnung der Strecken in der Bornholmer und Wisbyer Straße, in der Lichtenberger Straße (heute Indira-Gandhi- Straße) und im an sie anschließenden Weißenseer Weg.

12. Oktober 1928 – Eröffnung der Strecke durch die Christianiastraße (heute Osloer Straße).

17. Oktober 1928 – Eröffnung der Strecke nach Lichtenrade (Verlängerung von der Mariendorfer Rennbahn bis zum Bahnhof Lichtenrade über die heutige B 96, die Goltz- und die Bahnhofstraße).

11. Dezember 1928 – Eröffnung der Strecke von Altglienicke, Kirche zur Straße Am Falkenberg.

19. Dezember 1928 – Eröffnung der Strecke von der Markt- über die Hauptstraße und die Cöpenicker Chaussee in Rummelsburg zum neuen, als modernes Wahrzeichen Berlins gefeierten Großkraftwerk Klingenberg.

2. Mai 1929 – Eröffnung der Strecke vom Bahnhof Wittenau (Nordbahn) zum Bahnhof Waidmannslust.

17. Juli 1929 – Eröffnung der Strecke von Friedrichshagen nach Rahnsdorf (Strandbad Müggelsee).

23. September 1929 – Die „Grunewaldbahn“ in der Königin-Luise-Straße wird von der Gelfertstraße bis zur Kronprinzenallee (heute Clayallee) verlängert. Über letztere führt die Strecke weiter bis zum Schumacherplatz (etwa in Höhe der heutigen Robert- Stolz-Anlage), allerdings wird auf der Kronprinzenallee erst im Mai 1930 ein regelmäßiger Ausflugsverkehr in den Sommermonaten aufgenommen, erst 1941 werden die dortigen Gleise stärker frequentiert.

16. August 1930 – Eröffnung der Strecke vom Adolf-Scheidt-Platz über Zähringerkorso (heute Werner-Voß-Damm), Wittelsbacherkorso (heute Boelckestraße) und Manteuffelstraße zum Attilaplatz.

28. August 1930 – Eröffnung der direkten Verbindung zwischen Warschauer und Kopernikusstraße (Aufgabe des Umwegs über Revaler und Libauer Straße).

8. Oktober 1930 – Die bisherigen Linien 96 (Behrenstraße—Bahnhof Lichterfelde Ost) und 100 (Bahnhof Lichterfelde Ost—Stahnsdorf bzw. Machnower Schleuse) werden zu einer durchgehenden Linie 96 vereinigt, nachdem am genannten Bahnhof eine Verbindung geschaffen worden ist. Die Strecke in Teltow hat man bereits bis zum heutigen Puschkinplatz zweigleisig ausgebaut. Die Gleisanlagen der einstigen Dampfstraßenbahn nördlich des Bahnhofs entfallen.

23. Juli 1931 – Die von Spandau kommende, Gleise der Osthavelländischen Eisenbahn mitbenutzende Linie 120, welche seit 11. November 1929 elektrisch betrieben wird, wird in Hennigsdorf von der Rathenaustraße bis zum Bahnhof Hennigsdorf verlängert.

28. März 1933 – Eröffnung der Strecke in der Köpenicker Landstraße zwischen Baumschulen- und Parkstr. (heute Bulgarische Str.).

So stark wuchs das Berliner Straßenbahnnetz in gerade einmal acht Jahren, nachdem Ende 1923 eine Stabilisierung der Währung und damit auch der Wirtschaft eingesetzt hatte und die Folgen des Ersten Weltkriegs allmählich überwunden wurden. Allerdings begann bereits im Herbst 1929 die Weltwirtschaftskrise, die mit dazu beitrug, dass Anfang 1933 die NS-Diktatur errichtet werden konnte. Viele der in dieser kurzen Zeit neuerrichteten Strecken waren bereits modern ausgebaut, mit besonderem Bahnkörper und Kettenfahrleitung.

Berliner Tempo?
Nicht beim Straßenbahnausbau!

Welche neuen Trassen sind seit der Wiedervereinigung Berlins entstanden, zählt man einmal die am 30. April bzw. 1. Mai 1991 eröffnete nach Hellersdorf, die noch ein Erbe der DDR war, nicht mit?

14. Oktober 1995 – Mit der Eröffnung der wiedererrichteten Strecke von der Björnsonstraße über die Bornholmer, Osloer und Seestraße zum Louise-Schroeder-Platz wird im vormaligen Westteil der Stadt der Straßenbahnverkehr wiederaufgenommen.

25. Oktober 1997 – Verlängerung der 1995 eröffneten Strecke bis zum Eckernförder Platz.

20. Dezember 1997 – Inbetriebnahme der direkten Straßenbahnanbindung des Bahnhofs Friedrichstraße (dafür Aufgabe der Strecke über Am Weidendamm und durch die nördliche Planckstraße).

18. Dezember 1998 – Rückkehr der Straßenbahn auf den Alexanderplatz mit der Eröffnung der Strecke über Otto-Braun-, Gontard-, Karl-Liebknecht- und Spandauer Straße. Am Hackeschen Markt fahren die Trams fortan statt über die Neue Promenade südlich um den S-Bahnhof herum.

28. Mai 2000 – Wiedereröffnung des Straßenbahnverkehrs über die Warschauer Brücke, die neue Endhaltestelle am U-Bahnhof Warschauer Straße wird als Provisorium errichtet, da bald eine Verlängerung in Richtung Hermannplatz erfolgen soll.

29. September 2000 – Eröffnung der Strecke durch das Neubaugebiet in Französisch- Buchholz von Buchholz, Kirche zur Guyotstr.

24. November 2000 – Inbetriebnahme der neuen Trasse in der Köpenicker Altstadt (Müggelheimer statt Grünstraße).

28. Mai 2006 – Wiedereröffnung des Straßenbahnverkehrs in der Bernauer Straße von der Schleife Eberswalder Straße bis zur provisorischen Endhaltestelle am Nordbahnhof.

30. Mai 2007 – Inbetriebnahme der Strecke über die nördliche Karl-Liebknecht-Straße zum Alexanderplatz (dafür Einstellung des Linienverkehrs in der Neuen und der Alten Schönhauser Straße).

Und nun endlich, am 4. September 2011, die Strecke über die Rudower Chaussee, welche man wiederum nur als Ersatz für eine deutlich längere aufgegebene betrachten kann, schließlich verkehrten die Straßenbahnen bis Ende 1992 vom Bahnhof Adlershof nach Altglienicke.

Einundzwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung führt nur eine einzige Straßenbahnstrecke tief in den ehemaligen Westteil der Stadt, eine weitere streift diesen. Konkret gearbeitet wird momentan nur an der Trasse zum Hauptbahnhof – die, wie schon die zweite Alex-Anbindung, wie schon die Adlershofer Strecke, erst mit erheblicher Verzögerung fertig werden wird. Und für die man die Gleise zur Schwartzkopffstraße aufgeben wird.

Überhaupt scheint das Tempo des Netzausbaus nicht etwa zuzunehmen, sondern im Gegenteil seit dem Jahr 2000 deutlich nachgelassen zu haben. Von einer „Renaissance der Straßenbahn“ ist in Berlin wenig zu spüren. Zwischen Mitte Mai 1991 und Mitte September 2011 ist das Streckennetz gerade einmal von rund 176 auf 191,4 Kilometer gewachsen.

Hätte man sich eine solche Bilanz vor zwanzig Jahren vorstellen können? Hätte man sie sich vorstellen wollen?

Zugegeben: Das Berliner Straßenbahnnetz wurde seit 1990 weitgehend neugebaut – ob Gleiskörper, Signal-, Haltestellen- und Fahrleitungsanlagen oder die Stromversorgung: Fast nur von den regelmäßigen Nutzern der jeweiligen Strecken bemerkt, sind diese umfassend erneuert worden. Und natürlich hat man den Fahrzeugpark modernisiert.

Mehr als Streckenneubau

Aber: Auch in der Weimarer Zeit blieb es nicht beim Streckenneubau. Nebenher nahm man z. B. ab 1924 insgesamt 501 Trieb- und 803 Beiwagen in Betrieb. Ferner je 50 vier- und zweiachsige Beiwagen, zehn Einrichtungstriebwagen und ab 1929 die 300 sich als so problembeladen entpuppenden „Schützenwagen“ (die dann rasch umgebaut wurden) sowie zwei Gelenkzüge und 161 teilweise mit alten Komponenten entstandene Wagen. Und man erweiterte bzw. baute die Betriebshöfe Niederschönhausen, Tempelhof, Britz, Müllerstraße, Charlottenburg sowie die Hauptwerkstatt in der Uferstraße.

Ach, und für den umfangreichen Umbau des von vielen Straßenbahnlinien überquerten Alexanderplatzes, unter dem ja auch zwei neue Bahnsteighallen für die U-Bahn entstanden, wurde nicht etwa der heute zumindest bei der BVG so beliebte Busersatzverkehr eingerichtet, sondern – wie für den Neubau der Jannowitzbrücke – eine Umleitungsstrecke gebaut. Überhaupt entstanden damals gleichzeitig zu den vielen Straßenbahn- auch noch zahlreiche neue U-Bahn-Strecken.

Natürlich: Damals und heute sind nicht miteinander vergleichbar. Zum Beispiel waren die vergangenen zwei Jahrzehnte von viel größerem Wohlstand geprägt als die gerade einmal sechs halbwegs stabilen Jahre der Weimarer Republik. Zum Beispiel hatten damals die Stadt Berlin bzw. ihre Verkehrsunternehmen all die genannten Investitionen selbst zu finanzieren, ohne nennenswerte Hilfen vom Reich oder dem preußischen Staat. Weshalb der wichtigste Unterschied sein dürfte: Damals bestand der politische Wille zum Ausbau des Berliner Straßenbahnnetzes – anders als bei den von Eberhard Diepgen und Klaus Wowereit geführten Senaten.

Nur unverbesserliche Miesmacher würden noch einmal in das Reklameheftchen blicken, welches die Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr unter dem Titel „Berlin in Fahrt“ im Oktober 1997 herausgegeben hat. Diesem zufolge sollte das Straßenbahnnetz bis zum Jahre 2004 um 15 Kilometer verlängert werden, und zwar durch die Strecken:

Jan Gympel

aus SIGNAL 4/2011 (Oktober 2011), Seite 6-7