Aktuell
Das Strukturreformversprechen von 2006 wurde wieder nicht eingelöst
2. Mai 2012
Am 15. März 2012 war es wieder einmal soweit. Der VBB-Aufsichtsrat tagte mit dem Ziel, die Fahrpreise in Berlin und Brandenburg zu erhöhen. Die üblichen Rechtfertigungen wie höhere Energie- und Personalkosten waren schon im Vorfeld kommuniziert worden, und da derzeit in beiden Bundesländern keine Wahlen bevorstehen, stellte sich niemals die Frage, ob, sondern nur wie stark die Fahrpreise erhöht werden können.
Vergessen ist, dass die einstige Senatorin für Stadtentwicklung, Ingeborg Junge-Reyer, und die Verkehrsunternehmen sich im Oktober 2006 darauf verständigt hatten, dass die VBB-Tarifstruktur grundlegend überarbeitet werden soll (siehe u. a. SIGNAL 2/2008). Der Fahrgastverband IGEB hatte hierzu 2007 zahlreiche Vorschläge gemacht (siehe SIGNAL 3/2007), doch nur wenige davon wurden bisher umgesetzt. Zu den Erfolgen zählen in Berlin die Wiedereinführung der Sammelkarte, jetzt 4-Fahrten-Karte genannt, und das Abonnement für die 10-Uhr-Karte ab August 2012. Demgegenüber ist der Berliner Kurzstreckentarif noch immer nicht verbessert worden (siehe unten), und auch die von der IGEB wiederholt geforderte Modifizierung des viel zu kleinteiligen VBB-Wabentarifs in Brandenburg steht noch aus.
Welche positiven Ergebnisse mit strukturellen Reformen möglich sind, hat das 2009 eingeführte Seniorenticket gezeigt. Hier gelang es, mit einem sehr einfachen und preiswerten Angebot neue Fahrgäste zu gewinnen, ohne finanzielle Einbußen zu erleiden.
Doch zum 1. August 2012 werden die Fahrpreise wieder pauschal angehoben mit nur wenigen strukturellen Akzenten. Vergessen scheinen auch die Zusagen, die Fahrgäste mit Zeitkarten nach zahlreichen überproportionalen Erhöhungen bei der nächsten Tarifrunde zu schonen. Denn bei diesen Stammkunden sehen die Verkehrsunternehmen noch immer Abschöpfungspotenziale, die sie bis zu der Preisschwelle ausreizen wollen, ab der mit nennenswerten Abo-Kündigungen zu rechnen ist. Das verkehrs- und umweltpolitische Ziel, neue Fahrgäste zu gewinnen, interessiert die Verkehrsunternehmen nur dann, wenn mit den zusätzlichen Fahrgästen auch zusätzliche Einnahmen verbunden sind, ohne dass zusätzliche Verkehrsangebote gefahren werden müssen. Unehrlich sind vor allem die vielen Politiker, die nicht zugeben, dass sie genau das von den Verkehrsunternehmen verlangen.
Ärgerlich ist auch das regelmäßige Präsentieren einer nicht nachvollziehbaren Durchschnittsprozentzahl, mit der der VBB und die Verkehrsunternehmen „beweisen“ wollen, dass die Tariferhöhung unter der sogenannten Inflationsrate liegt. Tatsächlich werden die Fahrpreise für einen großen Teil der Fahrgäste um deutlich mehr als die vom VBB angegebenen „durchschnittlich 2,8 Prozent“ steigen. Hinzu kommt, dass die deutlich stärkeren Steigerungen bei den studentischen Semestertickets vom VBB nie eingerechnet werden und auch strukturelle Verschlechterungen wie der einstige Wegfall der Rückfahrmöglichkeit beim Berliner Einzelfahrschein unberücksichtigt blieben, obwohl sie für einen Teil der Fahrgäste eine erhebliche Verteuerung bedeuteten.
Vertrauensbildend ist es außerdem nicht, wenn am 14. März die Tariferhöhung vor allem mit den stark gestiegenen Energiepreisen begründet wird, am 30. März aber in der Berliner Zeitung zu lesen ist: „2011 zahlte die BVG für Strom und Kraftstoff knapp 108 Millionen Euro, rund eine Million weniger als 2010“.
Wer eine Monatskarte für Berlin (AB) kauft, zahlt künftig 77 statt 74 Euro (+ 4,1 Prozent), die Jahreskarte AB kostet 710 statt 695 Euro (+ 2,2 Prozent). Lediglich Abonnenten der Jahreskarte werden für ihre Treue belohnt und müssen nur 0,7 Prozent mehr bezahlen: 680 statt 675 Euro. Damit wird der Anreiz zum Abonnement richtigerweise erhöht.
Sehr viel stärker zur Kasse gebeten werden die Stammkunden im Tarif Berlin ABC, also einschließlich ca. 15 km Umland. Die Monatskarte kostet 95 statt 91 Euro (+ 4,4 Prozent), die Jahreskarte 895 statt 848 Euro (+ 5,5 Prozent). Erstmals bietet das Abonnement der Jahreskarte (endlich) einen Vorteil: Sie wird von 848 auf „nur“ 885 Euro verteuert (+ 4,4 Prozent).
Die 10-Uhr-Karte Berlin AB kostet künftig 55,50 statt 53 Euro (+ 4,7 Prozent). Erfreulich ist, dass es diese Karte nun endlich im Abonnement gibt, bei monatlicher Abbuchung für umgerechnet 42,67 Euro und bei jährlicher Abbuchung für umgerechnet 40,92 Euro. Das könnte einige sparsame Senioren, die nie Berlin verlassen, zum Umstieg veranlassen, denn ihre nur im Abonnement erhältliche VBBGesamtnetzkarte kostet künftig bei monatlicher Abbuchung umgerechnet 48 Euro (+ 2,1 Prozent) und bei jährlicher Abbuchung umgerechnet 46,58 Euro (+ 2,2 Prozent).
Brandenburger Stammkunden müssen in der Regel noch größere Erhöhungen verkraften als die Berliner. So werden die Monatskarten für einzelne Waben, ganze Landkreise oder mehrere Landkreise um 3,4 bis 4,4 Prozent teurer. Da wie beim Tarif Berlin ABC eine Differenzierung zwischen der einzelnen Jahreskarte und der Jahreskarte im Abonnement eingeführt wird, steigt der Preis für die einzelne Jahreskarte sogar um 4,5 bis 5,5 Prozent.
Ähnlich sind die Steigerungsraten in den kreisfreien Städten Brandenburgs. Einzige Ausnahme ist Potsdam. Hier werden die Zeitkarten nur um 1,7 bis 2,0 Prozent teurer, und lediglich bei der einzelnen Jahreskarte liegen die Raten bei 2,7 bis 3,1 Prozent. Das ist bemerkenswert, da die Landeshauptstadt schon heute das größte Verkehrsnetz, aber die geringsten Zeitkartentarife der kreisfreien Städte hat.
Bei den Zeitkartentarifen für Schüler und Auszubildende liegen die Erhöhungen in Berlin und Brandenburg fast ausnahmslos über dem Durchschnitt von + 2,8 Prozent. Die Schülertickets in Berlin sind aber dennoch mit 28 Euro monatlich (+ 3,7 Prozent) und 17 Euro für das Geschwisterticket (+3,0 Prozent) sehr moderat.
Der Einzelfahrschein Berlin AB wird von 2,30 auf 2,40 Euro verteuert (+ 4,3 Prozent), der Ermäßigungsvorschein sogar um 7,1 Prozent von 1,40 auf 1,50 Euro. Auch der Preis für die Tageskarte AB steigt überdurchschnittlich von 6,30 auf 6,50 Euro (+ 3,2 Prozent). Demgegenüber wird die 4-Fahrten-Karte nur um 2,4 Prozent von 8,20 auf 8,40 Euro verteuert. Damit wird der Anreiz, sich bei voraussichtlich drei Fahrten besser gleich eine Tageskarte zu kaufen, geringfügig abgeschwächt statt abgeschafft. Außerdem führt die prozentual stärkere Verteuerung fast aller Zeitkartentarife dazu, dass die Schwelle, ab der sich der Kauf einer Zeitkarte lohnt, in Berlin weiterhin sehr hoch ist. Ein Beispiel: Wer mit der 4-Fahrten-Karte unterwegs ist, kann monatlich 36 Fahrten machen und hat dann mit 75,60 Euro immer noch gegenüber der Monatskarte mit 77 Euro gespart.
Verstärkt wird dieser Effekt, weil der Kurzstreckenfahrschein in Berlin erfreulicherweise nicht verteuert wird und weiterhin 1,40 und ermäßigt 1,10 Euro kostet. Auch in Potsdam bleibt der Preis mit 1,30 Euro unverändert, während in den anderen kreisfreien Städten künftig 1,40 statt 1,30 Euro (+ 7,7 Prozent) zu zahlen sind.
Die Freude am in Berlin stabilen Preis für die Kurzstrecke wird allerdings erheblich geschmälert durch die wieder nicht erfolgte Strukturreform, denn die Bedingungen der Kurzstrecke sind unzureichend und kompliziert. Drei Stationen dürfen inklusive Umstieg mit S- und U-Bahn, nicht jedoch dem Regionalverkehr, zurückgelegt werden. In Bussen und Straßenbahnen sind zwar 6 Stationen zulässig, dafür darf jedoch das Fahrzeug nicht gewechselt werden. Wer einen Expressbus nutzt, braucht Adleraugen, denn die ausgelassenen Haltestellen paralleler Linien sind mitzuzählen. Da ist schon einiges taktisches Geschick notwendig, um die Kurzstrecke richtig anzuwenden. Viele Fahrgäste kaufen daher aus Angst lieber gleich einen Einzelfahrschein. Als Geheimtipp könnte sich die Kurzstrecke jedoch zum Umgehen des Anschlussfahrscheins entwickeln. Nach Neuenhagen mit der S 5 oder Potsdam Hbf mit der S 7 spart dies nun bereits 20 Cent pro Fahrt.
Stabil sind auch die Preise für Einzelfahrscheine in Brandenburg bei 2 bis 5 Waben. Über 5 Waben steigen die Preise um 1,6 bis 2,8 Prozent, also geringer als die Zeitkartentarife – eine Fehlentwicklung zulasten der Stammkunden.
Sehr viel attraktiver als in Berlin ist in Brandenburg die Tageskarte. Sie kostet immer genau das Doppelte eines Einzelfahrscheins, lohnt sich also bereits ab zwei Fahrten. Lediglich in Potsdam sind zwei Fahrten noch geringfügig preiswerter als eine Tageskarte. Unverständlicherweise gilt Letzteres auch für den Ermäßigungstarif der anderen kreisfreien Städte – es wäre ja sonst auch zu einfach.
Überdurchschnittlich erhöht werden die Preise für die brandenburgische Gruppenkarte auf größeren Distanzen. In der Stufe von 75 bis 85 Kilometer wird die höchste Steigerungsrate der diesjährigen Erhöhungsrunde mit 15,2 Prozent erreicht. Pro Person sind hier statt bisher 6,60 dann 7,60 Euro zu bezahlen. Bei einer Mindestgruppengröße von 5 Personen bedeutet dies eine Erhöhung um 5 Euro von 33 auf 38 Euro. In der höchsten Stufe bis 255 Kilometer sind pro Person zusätzlich 1,60 Euro fällig. Damit ist das Gruppenticket auf längeren Relationen geradezu Wucher und das Brandenburg-Berlin-Ticket für Gruppenreisende die günstigere Alternative. Selbst im ungünstigen Fall mit 6 Personen und zwei Tickets zu 56 Euro ist das Länderticket der Bahn ab 105 Kilometer günstiger und flexibler als der VBB-Tarif.
In Brandenburg ist der Fahrradtarif nur in Brandenburg an der Havel, Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam erhältlich. Die Monatskarte AB wird dort einheitlich um 5,6 Prozent auf 9,50 Euro verteuert. Die Einzelfahrausweise und Tageskarten AB und BC werden abgeschafft, so dass nur noch der teurere Tarif ABC verfügbar ist. Damit der Sprung nicht zu groß ist, wird dieser allerdings im Preis gesenkt, in Potsdam zum Beispiel für die Tagesfahrradkarte ABC von 4,10 auf 3,40 Euro. Wer aber bisher Potsdam AB für 2,90 Euro nutzen konnte, muss nun + 17,2 Prozent mehr zahlen. In den anderen drei Städten sind es sogar 2,90 statt 2,10 Euro (+ 27,6 Prozent). Doch diese hohen Prozentzahlen weist der VBB in seinen Übersichten lieber nicht aus.
Nicht viel übersichtlicher ist der Fahrradtarif in Berlin: Hier gibt es beim Einzelfahrschein Kurzstrecke sowie AB, BC und ABC, bei der Tageskarte AB, BC und ABC und bei der Monatskarte AB und neu ABC, aber weiterhin nicht BC. Unverändert fehlt die Möglichkeit, die Fahrrad- Monatskarte zu abonnieren.
Außerdem leistet sich Berlin auch weiterhin mit CityTourCard und WelcomeCard, sowie der WelcomeCard-Museumsinsel unterschiedliche Touristen-Angebote mit nahezu gleichem Angebot.
Der VBB bezeichnet die Tariferhöhungen stets als Tarifanpassungen, weil es vereinzelt stabile oder gar sinkende Fahrpreise gibt. Doch für die weitaus meisten Fahrgäste gibt es auch 2012 wieder nur eine Tariferhöhung ohne strukturelle Verbesserungen. Die Chance, durch übersichtlichere und attraktivere Tarife neue Kunden zu gewinnen und „Graufahrer“ zu vermeiden, die einen Fahrschein, aber nicht den richtigen erworben haben, wurde wieder einmal verpasst.
Hinzu kommt, dass die Fahrgäste in Berlin und Brandenburg mehr zahlen sollen, obwohl die S-Bahn noch längst nicht die bestellten Verkehrsleistungen erbringt und die BVG viele Millionen Euro einsparen könnte, wenn endlich die vom Berliner Senat seit Jahren geplanten und versprochenen Vorrangschaltungen für Bahnen und Busse realisiert würden.
Die steigenden Benzinpreise haben viele Autofahrer zum Umsteigen bewegt und zumindest den großen Verkehrsunternehmen zusätzliche Einnahmen beschert – auch ohne Tariferhöhung. Bezieht man in die Betrachtung noch die Entschuldigungszahlungen der S-Bahn GmbH mit ein, fällt die Tariferhöhung 2012 erheblich höher aus und könnte zum schnellen Verlust so mancher gerade erst gewonnener Neukunden führen.
Zu bedenken ist auch, dass eine Tariferhöhung viel Geld kostet. Fahrscheinautomaten und Drucker müssen umprogrammiert werden. Neue Tarifbroschüren müssen gedruckt, Aushänge auf den Bahnsteigen und an den Haltestellen getauscht werden. Fahrscheinblöcke werden wertlos und müssen ersetzt werden.
Ein kleiner Lichtblick ist die neue VBBfahrCard – zumindest für die Verkehrsunternehmen. Die Verwaltung der Abokunden wird dadurch einfacher, und die Fahrgäste müssen am Monatsanfang nicht mehr daran denken die neue Marke herauszuholen. Karten, die verloren wurden oder von säumigen Zahlern stammen, können einfacher gesperrt und ersetzt werden. Doch auch damit sind Nachteile verbunden. Anhand der Karte ist der Tarif nicht mehr erkennbar, wodurch eine einfache Auskunft durch Fahrer oder andere Fahrgäste zur Nutzbarkeit unmöglich werden. Kontrolleure müssen die Karten mit einem Lesegerät auslesen. Außerdem entfällt der gern genutzte Kulanztag durch das Vorhandensein mehrerer Abschnitte am Monatsersten und -letzten – auch das ist eine Tariferhöhung, die der VBB nicht einrechnet.
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 2/2012 (Mai 2012), Seite 6-7