Aktuell
Wieder einmal steht eine Erhöhung der Fahrpreise im Berliner ÖPNV an. Wie üblich wird dies mit leichtem Murren hingenommen. Vor vierzig Jahren sah das im damaligen Westteil der Stadt anders aus – obwohl das Preisniveau verglichen mit heute lächerlich niedrig war.
2. Mai 2012
Eine Fahrt mit der Berliner U-Bahn für 30 Cent, eine Fahrt mit dem Bus für 35 – absurde Träumereien politischer Phantasten? Nein: West-Berliner Realität anno 1972. Was heute, wo gut ein Jahr nach der letzten Verteuerung des VBB-Tarifs schon wieder die nächste beschlossen worden ist, als paradiesischer Zustand erscheint, sorgte seinerzeit für heftige Auseinandersetzungen. Dabei waren die BVG-Fahrpreise seit 1964 nicht mehr erhöht worden.
Nun fiel die Steigerung etwa beim Einzelfahrschein der U-Bahn mit fünfzig Prozent zwar happig aus – andererseits geschah sie auf niedrigem Niveau: Statt 40 kostete das Ticket ab 1. März 1972 nun 60 Pfennig. Der Busfahrschein verteuerte sich von 50 auf 70 Pfennig. Der „Umsteiger“ für die Benutzung mehrerer Buslinien oder von Bus und U-Bahn wurde abgeschafft. Die U-Bahn- Sammelkarte zu 2 DM galt fortan nur noch für vier statt zuvor fünf Fahrten. Der Preis der Bus-Sammelkarte für fünf Fahrten wurde von 2,20 DM auf 3 DM erhöht. Die Umsteige- Sammelkarte bot für 3 DM nur noch vier Fahrten, zuvor waren es fünf Fahrten für 3,50 DM gewesen. Die Ermäßigungs-Sammelkarte hingegen verteuerte sich nicht: Weiterhin sechs Fahrten mit Umsteigeberechtigung für 2,10 DM.
Neu hinzu kam, „dem allgemeinen Trend entsprechend“, wie die „Berliner Verkehrsblätter“ Nr. 11/1971 bemerkten, eine Seniorenkarte für Männer ab 65 und Frauen ab 60 Jahren: Das Gesamtnetz kostete die neuerdings nicht mehr als alte Menschen titulierten 15 DM im Monat, allerdings galt die Karte nicht montags bis freitags vor 9 Uhr sowie zwischen 15 und 19 Uhr.
Schon die vorhergehende Tariferhöhung war drastisch ausgefallen, die
„Berliner Verkehrsblätter“ bemerkten in Ausgabe 3/1964, es „war sich die Öffentlichkeit nicht im geringsten klar darüber, was ihr diesmal bevorstand und war wegen der Höhe der neuen Fahrpreise schockiert“: Zum 1. April 1964 stieg der Preis für den Einzelfahrschein für U- und Straßenbahn von 35 auf 40, für den Bus von 40 auf 50 Pfennig. Ein Billett zum einmaligen Umsteigen bei den BVG-Bahnen verteuerte sich von 40 auf 60 Pfennig, beim, vom oder zum Bus von 45 auf ebenfalls 60 Pfennig. Der Preis des kurz nach dem Mauerbau eingeführten „Doppel-Umsteigers“ wurde von 50 auf 70 Pfennig erhöht. Eine Monatskarte für das U-Bahn-Netz kostete statt 17 fortan 21 DM. Die Sammelkarte für U- und Straßenbahn war sogar ganz abgeschafft, nach Protesten aber bereits am 1. Juni 1964 wieder eingeführt worden. Allerdings bot sie nun keinen „Mengenrabatt“ mehr, wodurch sich eine Fahrt von 32,5 auf 40 Pfennig verteuert hatte.
Die unmittelbare Folge war ein deutlicher Rückgang der Fahrgastzahlen, wie die „Berliner Verkehrsblätter“ Nr. 5/1964 berichteten: Im April 1964 seien bei der BVG rund sieben Prozent weniger Passagiere als im Vorjahreszeitraum gezählt worden. Die Zahl der S-Bahn-Fahrgäste wäre hingegen von 100 000 auf 130 000 pro Tag gestiegen – in diesem Fall, so kann man wohl vermuten, nicht trotz, sondern gerade wegen des fehlenden Tarifverbunds mit der BVG: Solange die DDR-Reichsbahn die West-Berliner S-Bahn betrieb, hielt sie deren Fahrpreis immer etwas unter dem der BVG. Bei jener sank die Zahl der Fahrgäste auch in den restlichen sechziger Jahren stetig.
Dabei stellte sich damals, als die Massenmotorisierung auf vollen Touren lief, der Wohlstand wuchs und der Treibstoff billig war, generell die Frage, welche Rolle der öffentliche Personennahverkehr in Zukunft noch spielen würde. Womöglich hatte man deshalb so lange mit einer neuerlichen Tariferhöhung gewartet.
Als sie im Juli 1971 zum 1. Januar 1972 angekündigt wurde und schließlich mit zweimonatiger Verspätung erfolgte, geschah dies im Zuge einer deutlichen Verteuerung auch anderer städtischer Dienstleistungen – wollte man doch endlich den Haushalt sanieren (der Jahresverlust der BVG hatte in der Bilanz für 1970 rund 121,4 Millionen DM betragen). Und es geschah in einem gesellschaftlichen Umfeld, das hochgradig politisiert und auch politisch polarisiert war. Insbesondere die damals sehr aktive linksextreme Szene nutzte das Thema in der Hoffnung, damit Massen für sich mobilisieren zu können. Die traditionelle Zerstrittenheit dieses Milieus tat ein übriges – sicher war es mindestens ebenso verlockend, den Abtrünnigen vom angeblich rechten linken Glauben eins auswischen zu können wie dem verabscheuten „System“.
Am Abend des 29. Februar 1972 fand eine Demonstration mit rund 3000 Teilnehmern statt, die vom Kottbusser Tor zum Karl- Marx-Platz führte. Einige hundert Militante spalteten sich ab, es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die mindestens sechs Verletzte zur Folge hatten. Aus dem „Tagesspiegel“ vom 1. März 1972 erfährt man weiter, auf dem U-Bahnhof Karl- Marx-Straße wäre mehrmals der Notsignalschalter betätigt, dort und auf der Station Boddinstraße seien mit Farbspritzpistolen Parolen für einen Nulltarif angebracht worden. Bereits in der Nacht zum 29. Februar hätten Unbekannte auf drei Betriebshöfen „über 100 Busse der BVG mit Losungen gegen höhere Fahrpreise und für Forderungen nach dem Nulltarif beschmiert“.
Der „Tagesspiegel“ vom 2. März 1972 berichtet von Aktionen von Schülern in Spandau, Steglitz und am Kranzler-Eck, stellt aber zufrieden fest: „Ohne schwere Zwischenfälle und Verkehrsstörungen ist (…) der erste Tag mit den erhöhten Tarifen verlaufen.“ Auf dem Hermannplatz habe es eine Kurzkundgebung mit vierhundert Teilnehmern gegeben, anschließend hätten „mehrere Gruppen Freifahrten auf der U-Bahn erzwungen“ und auf den Stationen Hermannplatz, Kurfürstenstraße und Wittenbergplatz „unbefugte Notbremsungen“ bewirkt. „Die Verteilung von Flugblättern und der Verkauf von Plaketten, mit denen sich Anhänger des Nulltarifs ausweisen sollen, wurden vor und auf U-Bahnhöfen seit Beginn des Früh-Berufsverkehrs geduldet, stießen jedoch bei den Fahrgästen auf keine nennenswerte Resonanz, wie auch während der U-Bahn-Fahrt vorgebrachte Argumente jugendlicher Gruppen.“
Ganz so ruhig ging es denn aber doch nicht zu, wie der Ausgabe vom 3. März zu entnehmen ist, die von der Blockade eines Eingangs des U-Bahnhofs Voltastraße berichtet und von der Besetzung eines Doppeldeckers, ebenfalls durch Jugendliche, was ebenfalls einen Einsatz der Polizei zur Folge hatte. Diese schwang den Schlagstock auch, als am Nachmittag die Kreuzung Badstraße/ Prinzenallee blockiert wurde. „Unbefugte Notbremsungen“ gab es gleichfalls wieder. Und einen dritten Schlagstockeinsatz bei der Räumung des besetzten U-Bahnhofs Hermannplatz von mehreren hundert Demonstranten am 3. März.
Die „Berliner Verkehrsblätter“ Nr. 3-4/1972 bemerken: „Neben tumultartigen Protestaktionen gegen die Tariferhöhung der BVG-West wurden auch solche mit leisen Tönen durchgeführt, die beispielsweise mit Plakaten Gegenstimmung erzeugen wollten. Einer dieser Aktionen kann eine gewisse Originalität nicht abgesprochen werden.“ BVGReklameplakate mit dem Text „Müller zahlt so viel täglich, wie Kollege Meier wöchentlich. Müller fährt Auto. Man fährt besser mit der BVG“ seien von einem „aktionskomitee rote schiene“ parodiert worden durch solche mit dem Spruch: „Müller zahlt die neuen Preise. Meier fährt mit seinen Kollegen umsonst. Man fährt besser schwarz mit der BVG“ – „So Anfang März 1972 in der Karl-Marx-Straße in Neukölln zu lesen.“
Der von den BVG-Werbern erdachte Kollege Meier fand dann auch in die Populärkultur Eingang, durch den seinerzeit als Foliensingle verkauften oder gratis verteilten Song „Mensch Meier“. Der Titelheld dieses Lieds der Politrockband Ton Steine Scherben entschließt sich „in aller Hergottsfrühe im 29er kurz vor Halensee“ spontan zum Fahrpreisboykott – woraufhin sich ihm die anderen Insassen des überfüllten Busses prompt anschließen. Denn: „Wenn die da oben x-Millionen Schulden haben, dann soll’n ses bei den Bonzen holen, die uns beklauen.“ (Der vollständige Liedtext ist nachzulesen unter www.riolyrics.de/ song/id:155)
Das Lied, welches „die da oben“ dazu sangen, dürfte dem Menschen des Jahres 2012 seltsam vertraut vorkommen: „Berlin will mit den Preiserhöhungen den Nachweis führen, ‚insbesondere auch westdeutschen Kritikern gegenüber’, daß es bereit ist, ‚eigene Beiträge zur Bewältigung der Finanzprobleme zu leisten’“, liest man im „Tagesspiegel“ vom 8. Juli 1971. Der sozialdemokratische Finanzsenator „Striek wies darauf hin, daß Berlin bei der Verwirklichung der Tarifvorschläge weiterhin die Stadt mit den niedrigsten Verkehrstarifen der Bundesrepublik sei.“ In dem Artikel erfährt man übrigens auch, welche im Abgeordnetenhaus vertretene Partei bei den jüngsten Wahlen einen Nulltarif bei der U-Bahn gefordert habe: die FDP.
In der aufgeheizten Stimmung fühlte sich der Finanzsenator bemüßigt, zwecks Rechtfertigung eine „Zur Tariferhöhung bei der BVG“ betitelte „kleine Broschüre“ herauszugeben, wie die „Berliner Verkehrsblätter“ Nr. 9/1971 zu berichten wissen. Darin seien die geplanten Eröffnungsdaten für die in Bau befindlichen U-Bahn-Strecken genannt worden. Dies waren die Verlängerungen der U 7 nach Rudow und Spandau, der U 8 nach Wittenau und der U 9 nach Steglitz und nach Osloer Straße. Deutlich später als seinerzeit avisiert wurden schließlich nur die Abschnitte Rohrdamm—Rathaus Spandau (1971 noch Falkenseer Platz; Oktober 1984 statt Anfang 1982) und Osloer Straße—Wilhelmsruher Damm (Frühjahr 1987 und Herbst 1994 statt Anfang 1981) fertiggestellt.
Ihren traurigen Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen, als es am 13. März 1972, einem Montag, gegen 10 Uhr vormittags zu einem Sprengstoffanschlag in der BVG-Hauptverwaltung an der Potsdamer Straße kam: Eine Rohrbombe explodierte auf dem Flur, sinnigerweise vor der Strafgeldstelle. Zwei Verletzte waren zu beklagen.
Die Anhänger des West-Berliner SEDAblegers SEW hatten sich mit Kritik an der Preispolitik von Senat und BVG übrigens zurückhalten müssen. Denn wie bei Tariferhöhungen der West-BVG üblich, zog die von der DDR-Reichsbahn betriebene S-Bahn nach einer kurzen Schamfrist nach: Zum 1. September 1972 wurde der Preis für einen Einzelfahrschein in West-Berlin von 30 auf 50 Pfennig erhöht. Neu war neben anderem eine Sammelkarte mit elf Fahrten für 5 DM.
Der zum 1. März 1972 eingeführte BVG-Tarif sollte vier Jahre lang Bestand haben – trotz der Ölkrise, die schon 1973 hereinbrach und ein Ende machte mit den Zeiten unglaublich billigen Erdöls. Dementsprechend kräftig wurde dann wieder den Fahrgästen in die Taschen gegriffen: Der Einzelfahrschein kostete ab 1. März 1976 1 DM. Allerdings galt er nun, wie es bereits fünf Jahre zuvor im Gespräch gewesen war, für U-Bahn und Bus und zum beliebig häufigen Umsteigen – die 1952 bei der West-BVG wieder eingeführte Trennung der Fahrpreise für (die in der Betriebsführung deutlich teureren) Busse einerseits und Uund Straßenbahnen andererseits wurde endgültig abgeschafft. Eine Sammelkarte für fünf Fahrten gab’s für 4,50 DM, womit sich eine U-Bahn-Fahrt auf einen Schlag von mindestens 50 auf mindestens 90 Pfennig verteuerte. Die Wiedereinführung eines Kurzstreckentarifs, die ebenfalls bereits 1971 diskutiert worden war, ließ noch bis 1988 auf sich warten.
Nichtsdestoweniger hatten die Verantwortlichen wohl aus den Auseinandersetzungen um die Tariferhöhung von 1972 gelernt: Viele kleine Preissteigerungen lassen sich besser „verkaufen“ als eine große. Jedenfalls vollzog sich die Verdoppelung des Preises für einen Einzelfahrschein von 1976 bis 1983 in mehreren Schritten. Mit 2 DM lag er dann immer noch traumhaft niedrig – zumindest aus heutiger Sicht, wo angeblich selbst 2,30 Euro (entspricht 4,50 DM) nicht genug sind. Eine Monatskarte für das BVG-Gesamtnetz kostete ab 1. März 1972 übrigens 60 DM, eine Monatskarte für das U-Bahn-Netz gab es bereits für 26 DM – ja, für rund 13 Euro.
Natürlich kommt bei Hinweisen auf diese Fahrpreise immer das Argument, die damaligen Verhältnisse ließen sich doch mit den heutigen nicht vergleichen. Zugegeben: Dieser Tarif galt – gezwungenermaßen – nur für West-Berlin (in Ost-Berlin kostete die Einzelfahrt allerdings sogar nur 20 Pfennig). Heute hingegen kann man mit einem Fahrschein für demnächst 2,40 Euro von Spandau nach Köpenick reisen, von Marzahn nach Steglitz oder von Pankow nach Wannsee. Und das auch mit der S-Bahn (wenn die denn fährt). Nur: Wie oft reist man denn, wenn dies nicht gerade der Arbeitsweg ist, von Spandau nach Köpenick, von Marzahn nach Steglitz oder von Pankow nach Wannsee?
Die wichtigste Veränderung gegenüber der Situation von vor 40 Jahren hat denn wohl auch im politischen Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit stattgefunden. 1972 wurde nicht nur bescheiden Kritik geübt, es wurden noch Fragen gestellt und Rechnungen aufgemacht. So soll auf dem Cover zu „Mensch Meier“ zu lesen gewesen sein: „Die BVG-Preise wurden erhöht. Warum? Weil der Senat unser Geld nicht für uns ausgibt, sondern für Sachen, die uns nicht nutzen. Der Senat lügt uns vor, daß die BVG ein Defizit hätte, aber gerade soviel kostet die ‚Freiwillige Polizeireserve’. Für die Starfighter der Bundeswehr könnten wir in ganz Berlin 10 (zehn) Jahre umsonst fahren.“
Heute, wo Politik nicht nur dauernd für „alternativlos“ erklärt, sondern dies auch weitgehend unwidersprochen hingenommen wird, sind derlei Vergleiche natürlich undenkbar. Fast so undenkbar wie die Tatsache, dass die BVG-Tarife damals noch vom Berliner Abgeordnetenhaus bestätigt wurden, jeder Volksvertreter sie also gegenüber seinen Wählern zu verantworten hatte.
Geht es nach dem derzeitigen Verkehrssenator, sollen die Fahrpreise im Berliner ÖPNV künftig nicht nur ebenso regelmäßig wie automatisch steigen, sondern quasi im Zuge höherer Gewalt – einfach Jahr für Jahr gemäß einer irgendwie errechneten allgemeinen Teuerungsrate. Ohne Diskussion. Wobei der Senator leider unerwähnt ließ, ob seiner Meinung nach ebenso automatisch auch die Bezüge der Beschäftigten von VBBUnternehmen erhöht werden sollten.
Jan Gympel
aus SIGNAL 2/2012 (Mai 2012), Seite 9-10