Vorsicht, Satire
Ulricke Jokiel (42), technische Leiterin der gelegentlich umbenannten Abteilung für Propagandaroboter (V-TM4), arbeitet gemeinsam mit ihrem Kollegen Peter Wille (54) in der Landesanstalt (AöR) für Öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) und ist zuständig für die einwandfreie Funktionsweise der Marketingandroiden. Eine Aufgabe voller Rückschläge.
2. Mai 2012
Dienstagvormittag. Als Peter das Büro betritt, erwartet ihn bereits Ulricke mit finsterer Miene und verschränkten Armen. Mit den Augen deutet sie auf den Tisch vor sich. „Nicht schon wieder der R-TZ- 2000!“ denkt er laut. Ulricke erwidert: „Oh doch! Diese Fehlfunktionen häufen sich. Es scheint, als ob das Sofortlügen-Modul keine Plausibilitätsprüfungen mehr durchführt!“
„Was hat es diesmal wieder angestellt?“ fragt Peter vorsichtig. „Diesmal”, antwortet Ulricke schnippisch, „diesmal hat es behauptet, kein einziger Behinderter hätte sich über die testweise Abschaffung des automatischen Kneelings bei unseren Bussen beschwert! Kein einziger! Nicht ‚wenige’, nicht ‚eine geringe Anzahl’, nicht ‚einige vernachlässigbare Einzelfälle’! Sondern ‚kein einziger’! Hast du gehört?! KEIN EINZIGER!”
Ulricke redet sich in Rage: „Das erkennt doch jeder Idiot sofort, dass das gelogen ist! Und es ist vor allem so leicht widerlegbar! Meine Güte, ich persönlich hab allein sechs Beschwerden zum abgeschalteten Kneeling abwimmeln müssen, und das, obwohl ich faktisch nie ans Telefon gehe …“ Sie rennt im Büro auf und ab.
Peter nutzt die Sprechpause seiner Kollegin, um laut Ursachenforschung zu betreiben: „Das zweite Mal innerhalb von zwei Wochen. Erst kürzlich hatte es öffentlich verkündet, die Monatskarte wird nur aus Kulanz einen Tag vor und einen Tag nach dem Monat noch akzeptiert, obwohl diese Regel ganz klar im Tarif steht, also Vertragsbestandteil ist. Und der Tarif ist sogar lokal auf dem Festplattenspeicher abgelegt.”
„Vergiss nicht die Sache mit dem Video,” betont Ulricke, „wo der R-TZ-2000 behauptete, es gibt zwar kein Verbot fürs Filmen und fotografieren, es wäre aber trotzdem verboten, auch wenn das nirgends steht. So was trau nicht einmal ich mich zu behaupten!“ Peter muss beipflichten.
Ulricke tobt: „Wir waren mal bekannt für unsere hinterhältigen Lügen und aufwändigen Statistikfälschungen! Aber das? Am liebsten würd ich das Ding …“, doch Peter unterbricht sie. „Du weißt, das geht nicht. Schon seit Jahren gibt es keinen Menschen mehr, der diese Arbeit mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Seitdem müssen wir auf die Marketing- Lügenroboter zurückgreifen. Die Alternative wäre: Fehler eingestehen und fortan im Sinne der Fahrgäste zu handeln. Willst du das etwa?!“ Ulricke schweigt. Nach ein paar Minuten bedrückender Stille bietet sie ihrem Kollegen einen Schokoriegel zur Versöhnung an. (hm)
IGEB Stadtverkehr
aus SIGNAL 2/2012 (Mai 2012), Seite 15