Berlin
17. Aug 2011
Im Februar 2011 geschah in Berlin etwas Unerwartetes: Der Volksentscheid über ein „Gesetz für die vollständige Offenlegung von Geheimverträgen zur Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe“ bekam genügend Stimmen. Dieser Erfolg des „Berliner Wassertisches“ animierte die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG, ehemals Transnet und GDBA), zusammen mit anderen Organisationen einen Monat später den „Berliner S-Bahn-Tisch“ zu gründen und den großen Unmut über die Zustände bei der Berliner S-Bahn für ein ähnliches Volksbegehren zu nutzen – eine erfolgversprechende Strategie.Aber schnell zeigte sich, dass viele vom S-Bahn-Tisch formulierte Ziele nicht geeignet waren, sie in ein Gesetz zu bringen. Forderungen, Netz und Betrieb nicht zu trennen oder auf eine Ausschreibung des S-Bahn-Verkehrs für die Zeit nach 2017 zu verzichten, konnten in einem Landesgesetz nicht untergebracht werden. Hinzu kommt, dass in einem Berliner Gesetz keine Regelungen für die in Brandenburg liegenden S-Bahn-Strecken getroffen werden können. So musste man sich am Ende auf drei Punkte beschränken, die nicht im Widerspruch zu anderen gesetzlichen Regelungen stehen und die zumindest in Berlin umsetzbar sein könnten:
Zwischen dem Selbstverständnis der Initiative und dem, was das vorgelegte Gesetz bewirken kann, liegen Welten. Eine „Privatisierung“, was auch immer damit gemeint sei, wird durch das Gesetz nicht ausgeschlossen, ein Verbleib des ganzen S-Bahn-Betriebes und -Netzes in der Hand der DB AG nicht erreicht, eine Ausschreibung und Vergabe, wie sie nach EU-Recht erforderlich ist, nicht verhindert. Die Initiatoren werben für ihren Gesetzentwurf mit „Anti-Privatisierung“, aber dazu steht nichts darin. Sie nennen es „Gesetz zur Beendigung des Chaos bei der Berliner S-Bahn“, aber alle wichtigen strukturellen Veränderungen, die dazu beitragen könnten, sind nicht Thema dieses Gesetzes. Auch das Anliegen einer „bezahlbaren S-Bahn“, also sozial-verträglicher Tarife, fehlt.
Im Gesetzentwurf steht nichts Falsches, aber der Anspruch der Initiatoren, das Chaos zu beenden und zur Zukunftssicherung der Berliner S-Bahn beizutragen, wird nicht einlöst.
Warum darf die Deutsche Bahn mit dem Netz und den Stationen Gewinne machen, die nicht reinvestiert werden müssen? Warum konnte die Deutsche Bahn die Berliner S-Bahn personell und finanziell „ausquetschen“, bis der Betrieb zusammenbrach? Warum hat die Bundesregierung nicht gegensteuert, sondern beteiligt sich nun sogar noch am „Ausquetschen“, indem sie der Bahn jährlich 500 Millionen Euro für die Sanierung des Bundeshaushaltes abnimmt, der vorher mit 5 Milliarden Euro für die staatliche Förderung der Autoindustrie in Gestalt einer Abwrackprämie belastet wurde? Warum denken die Länder Berlin und Brandenburg nicht ernsthaft darüber nach, die Infrastruktur und den Fahrbetrieb der S-Bahn in eine Landeseisenbahngesellschaft zu überführen?
All das sind Zukunftsfragen, zu deren Lösung das Volksbegehren nichts beiträgt. Deshalb hat sich der Berliner Fahrgastverband IGEB entschlossen, das Volksbegehren des Berliner S-Bahn-Tisches wohlwollend zu begleiten, aber nicht aktiv zu unterstützen. Auch Deutscher Bahnkundenverband, BUND und VCD haben von einer Unterstützung abgesehen.
Bis 15. Dezember 2011 müssen 20 000 Unterschriften
zusammenkommen, damit das
laufende Volksbegehren in die dann folgende
Volksabstimmung münden kann. Dafür sind
dann 172 000 Unterschriften innerhalb von
vier Monaten nötig. Bei dessen Erfolg kommt
es zum Volksentscheid in der Wahlkabine.
Weitere Infos unter www.s-Bahn-tisch.de
Gesetz zur Beendigung des Chaos bei der Berliner S-Bahn
§ 1 Offenlegung der Verträge Alle Verträge, Beschlüsse und Nebenabreden, die im Zusammenhang mit dem Abschluss des jeweils gültigen Verkehrsvertrages zwischen dem Land Berlin und der S-Bahn Berlin geschlossen werden, sind innerhalb von zehn Werktagen nach Unterzeichnung vorbehaltlos auf den Internetseiten des Landes Berlin offen zu legen. Bereits geschlossene Verträge in diesem Bereich sind ebenfalls innerhalb von zehn Werktagen nach Inkrafttreten dieses Gesetzes auf gleiche Weise zu veröffentlichen.
§ 2 Anforderungen an den Verkehrsvertrag In jedem neuen Verkehrsvertrag für den S-Bahnverkehr ist sicherzustellen, dass
§ 3 Tarifliche Entlohnung In jedem neuen Verkehrsvertrag für den S-Bahnverkehr ist sicherzustellen, dass die Entlohnung und Sozialstandards der beim Leistungserbringer beschäftigten Mitarbeiter, einschließlich der Leiharbeitnehmer, mindestens denen der einschlägigen, repräsentativen Tarifverträge in der jeweils gültigen Fassung entspricht. Die Tarifverträge müssen mit einer tariffähigen Gewerkschaft abgeschlossen sein. Es ist sicherzustellen, dass diese Bedingungen auch auf alle Subunternehmer angewendet werden.
§ 4 Inkrafttreten Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin in Kraft.
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 3/2011 (August 2011), Seite 10-11