Fernverkehr
Gefahr für Bahn durch Fernbusse bleibt
Deutscher Bahnkunden-Verband
17. Aug 2011
Ein EuroCity-Zug Richtung Berlin abfahrbereit in Dresden Hbf. Angesichts der nunmehr bereits seit vielen Jahren unattraktiven Fahrzeiten auf der Schiene hat der Fernbus in dieser Relation bereits einen Marktanteil von rund 16 Prozent am öffentlichen Fernverkehr. Fatal an dieser Entwicklung ist, dass die Politik versucht, sich über die Fernbus-Liberalisierung ihrer Pflicht zum zügigen Ausbau der Schieneninfrastruktur zu entziehen. Foto: Christian Schultz
Das Bekenntnis der Deutschen Bahn, sich
auf die Verbesserung und den wirtschaftlichen
Erfolg des „Brot- und Buttergeschäfts“
zu konzentrieren, ist im Grundsatz positiv
zu bewerten. Es ist zugleich eine überfällige
Entscheidung angesichts seit Jahren
bestehender chronischer Fahrzeugengpässe
im Schienenpersonenfernverkehr und
gravierender technischer Störungen an den
Fahrzeugen, z. B. überlastete/ausgefallene
Klimaanlagen bei hochsommerlichen Temperaturen,
Abschalten der Neigetechnik bei
den ICE-T. Dennoch sind bei derartigen Bekenntnissen
Zweifel angebracht.
Im Koalitionsvertrag der CDU/CSU/FDPKoalition
wurde u. a. die Zulassung von
Busfernlinienverkehren in Deutschland
vereinbart. Der Referentenentwurf für ein
novelliertes Personenbeförderungsgesetz
(PBefG) wurde seitens des Bundesministeriums
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(BMVBS) inzwischen erstellt; die Novellierung
soll im 1. Quartal 2012 abgeschlossen
sein. Die geplante Zulassung von Fernbusverkehren
auch in direkter Konkurrenz zu
Angeboten des Schienenverkehrs dürfte
dabei künftig die wirtschaftliche Betriebsführung
etlicher Fernverbindungen auf
der Schiene gefährden, da Fernbuslinien
vorzugsweise zwischen Ballungsräumen
angeboten werden – so wie derzeit schon
Berlin—Hamburg bzw. Berlin—Dresden.
Dies ist verkehrs- und umweltpolitisch kontraproduktiv.
Die negativen Folgen
für den Schienenverkehr
wurden dabei bereits im
Herbst 2010 aufgezeigt.
Intraplan Consult GmbH
und die Beratergruppe
Verkehr+Umwelt GmbH
(BVU) sind im Auftrag
des BMVBS im Rahmen
der Überprüfung des Bedarfsplans
für die Bundesschienenwege
zu dem Ergebnis
gekommen, dass
es sich bei den Nutzern
zukünftiger Fernbusangebote
zu 60 Prozent (!)
um verlagerte Nachfrage
vom Schienenpersonenverkehr
handeln wird, zu 20 Prozent um induzierten
Verkehr und lediglich zu 20 Prozent
um Umsteiger vom motorisierten Individualverkehr
(einschließlich Fahrgemeinschaften/
Mitfahrzentralen).
Der Schienenpersonenverkehr könnte so
in Relationen, in denen er eine starke Wettbewerbsposition
besitzt, bis zu 10 Prozent
seiner Nachfrage verlieren, in Relationen
mit einer schwächeren Verkehrsnachfrage
sogar bis zu 20 Prozent. Der Marktanteil des
Buslinienverkehrs am öffentlichen Fernverkehr
liegt in der Relation Berlin—Hamburg
derzeit bei 8 Prozent. Auf der Strecke Berlin—
Dresden liegt der Anteil aufgrund der
unattraktiven Fahrzeiten auf der Schiene
sogar bei 16 Prozent!
Falls das im Rahmen der Bedarfsplanüberprüfung
beschriebene Szenario tatsächlich
eintritt, dürfte wohl kein Unternehmen
tatenlos zusehen, wie die Kunden
davonlaufen. Es wird bzw. es muss handeln.
Dies gilt speziell für den Fall, dass die Auslastung
eines Fernzuges unter die seitens der
Deutschen Bahn für einen wirtschaftlichen
Betrieb benannte Rentabilitätsschwelle von
150 Reisenden fällt.
Berücksichtigt werden muss dabei auch,
dass die Deutsche Bahn bereits heute größter
Anbieter im deutschen Busverkehr ist. Die zur
DB Bahn Regio gehörende Sparte DB Regio
Bus betreibt heute bereits bundesweit eine
Flotte von rund 13 400 Bussen, die im Stadt-/
Regionalverkehr, aber auch im Fernverkehr
eingesetzt wird. Unter den 22 Busgesellschaften
befinden sich z. B. Tochterunternehmen
wie Autokraft Kiel GmbH, Bayern Express &
P. Kühn Berlin GmbH und die Regionalverkehr
Dresden GmbH, die sich auch im Fernverkehr
stark engagieren. Für eine Ausweitung dieser
Geschäftsaktivitäten sind somit die besten
Voraussetzungen vorhanden.
In diesem Zusammenhang kaum überraschend
waren die Zahlen, die die DB im
August 2010 stolz für ihre neue Expressbusverbindung
Nürnberg—Prag verkündete:
rund 120 000 Fahrgäste in einem Jahr. Verschwiegen
wurde dabei natürlich, dass bei
dieser Punkt-Punkt-Verbindung die nicht
bedienten Zwischenstationen wie z. B. Amberg,
Schwandorf oder Furth im Wald weiterhin
auf der Schiene bedient werden – finanziert
aus Regionalisierungsmitteln, also
Steuergeldern!
Auch die Fahrgastrechte versprechen,
zumindest aus Unternehmenssicht, deutliche
Vorteile zugunsten des Fernbusses. Bei
einer eingetretenen Verspätung ab 1 Stunde
am Zielort hat derzeit ein Bahnkunde
Anspruch auf 25 Prozent Fahrpreiserstattung,
bei 2 Stunden sind es sogar 50 Prozent.
Von derart weitgehenden Rechten ist
beim Fernbus überhaupt nicht die Rede.
Erstattungsregelungen sollen hier ab 2013
beispielsweise erst bei einer planmäßigen
Wegstrecke von mehr als 250 km gelten.
Für eine verspätete Ankunft, etwa durch
Stau, trifft die entsprechende EU-Verordnung
gar keine Regelungen.
Zu dem eingangs benannten „Brot- und
Buttergeschäft“ gehört nicht zuletzt auch
eine zügige Verbesserung der Infrastruktur.
Fahrzeiten der InterCity- bzw. Euro-
City-Züge beispielsweise zwischen Berlin
Hbf und Dresden Hbf von 2 Stunden 4 Minuten
erreichen nicht einmal Vorkriegsniveau.
Sie sind leider das Ergebnis einer
bereits seit vielen Jahren vernachlässigten
Infrastruktur, deren Zustand angesichts
verschleppter Sanierungsmaßnahmen
zurzeit lediglich in Teilabschnitten die
von der Trassierung her mögliche Höchstgeschwindigkeit
von 160 km/h (und auch
darüber hinaus) zulässt.
Mit dem Wegfall des InterRegio- bzw. D-Zug-Verkehrs vor mehr als fünf Jahren hat sich bei der Fernbahnbedienung zwischen den ICE- bzw. IC-Zügen
und Regionalzügen eine Kluft aufgetan, die bekanntlich dazu führte, dass zahlreiche Groß- und die meisten Mittel- und Kleinstädte sowie eine Reihe
von Funktionsstädten vom qualifizierten Fernbahnverkehr abgekoppelt wurden. Auf Basis der bei den Verbänden aufgelaufenen Erkenntnisse haben
diese in gemeinsamer Beratung am 27. Juni 2011 in Berlin nachstehende 20 Grundlagen entwickelt, die den Entscheidern und Verkehrsanbietern
dringend zur Umsetzung nahegelegt werden.
Grundlagen für einen flächendeckenden Fernbahnverkehr in Deutschland
- Fernzüge sollten halten in
- allen deutschen Großstädten (ab 90 000 Einwohnern)
- allen großen Mittelstädten ab 50 000 Einwohnern – Halt für Auslandsreisezüge,
(ausgenommen vertakteter Ballungsraum- und Stichstreckenverkehr
sowie Bahnhöfe mit ausschließlich S-Bahn-Verkehr)
- allen kleinen Mittelstädten ab 20 000 Einwohnern, in Ostdeutschland
ab 15 000; in NRW ab 50 000 – Halt für Inlandsfernverkehrszüge (ausgenommen
vertakteter Ballungsraum- und Stichstreckenverkehr sowie
Bahnhöfe mit ausschließlich S-Bahn-Verkehr)
- Kleinstädten ab 10 000 Einwohnern – Halt für vereinzelte Inlandsfernverkehrszüge.
- Unabhängig von der Einwohnerzahl müssen auch mit dem Fernverkehr
erreichbar sein
- zielgruppenspezifische, touristisch oder kulturell bedeutende Orte,
z. B. Heilbäder, Kur-, Bade-, Wintersport- und Wallfahrtsorte sowie Orte
mit besonderen Sehenswürdigkeiten oder Events
- Städte mit besonderen Funktionen, z. B. Ober- und Mittelzentren sowie
Bezirks- und Kreisstädte, ggf. wesentliche Unterzentren und auch
Militärstandorte und Universitätsstädte
- Umsteigebahnhöfe insbesondere mit einsetzendem Anschlussverkehr.
- Umsteigefreie Verbindungen zwischen der Bundeshauptstadt und den
Landeshauptstädten sowie den Haupt- und Funktionsstädten Europas.
Bei technischen Implikationen, z. B. Spurwechsel oder wegen Fahrzeugbeschaffenheit
nicht mögliche durchgängige Fahrten, sollte das Ziel mit
einmaligem Umsteigen erreicht werden.
- Viele Reisende vermissen bewährte frühere Fern-Direktverbindungen
von Deutscher Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn (z. B. FD, IR, IEx,
Städte-Ex), die durchaus ihre Berechtigung haben, z. B. Berlin—Chemnitz,
Berlin—Regensburg—München.
- Durchgehende umsteigefreie Fernzugverbindungen, notfalls auch mit
verlängerten Fahrtzeiten, zur Berücksichtigung der besonderen Belange
mobilitätseingeschränkter Reisender und zur bedarfsgerechten
Reaktion auf die Auswirkungen des demografischen Wandels (“Alterspyramide”)
sind zeitgemäß.
- Umsteigefreie Fernverbindungen zur Flächenerschließung, insbesondere
auch der Rand- und Urlaubsgebiete zur Förderung des Bahntourismus
innerhalb Deutschlands, durch ein- bis zweimal täglich verkehrende
Regelreisezüge und saisonale Urlaubs- und Wochenend-Ausflugszüge
sind sehr gefragt.
- Trotz angestrebten Wettbewerbs sollten zunächst keine parallelen Angebote
zu vorhandenen Leistungen der DB bzw. nichtbundeseigenen
Eisenbahnen (NE), sondern eher Ergänzungen hierzu entwickelt werden.
Bestehende Angebote könnten angepasst werden, z. B. durch Tagesrandhalte.
- Schließen von landes- bzw. verbundgrenzenbedingten Lücken zugunsten
von Direktverbindungen, ggf. Verquickung mit bzw. Verlängerung
oder Ersatz vorhandener Regionalleistungen mit Fernverkehrsangeboten
mittlerer Reiseweiten müssen geprüft werden.
- Zughalte sollten in der Regel max. einmal im Abstand von mindestens
25 km angeboten werden, jedoch nicht zwingend in den Ballungsräumen
mit vertaktetem Verkehr. Eine Feinverteilung durch häufigere Halte
in der Quell- und Zielregion sowie in den Tagesrandlagen, ggf. auch in
Ballungsräumen ist nachgefragt.
- Zur optimalen Auslastung einzelner Streckenabschnitte sollten sich die
Beteiligten, z. B. Aufgabenträger, Bahnen etc., auf mögliche Verquickungen
mit bzw. Aneinanderreihungen vorhandener Regionalleistungen
zu faktischen Fernbahnangeboten sowie auch zur Konzipierung von
Bogenzugläufen einigen.
- Die Bahnen sollten bei der Angebotsgestaltung verstärkt die Möglichkeiten
des freien grenzüberschreitenden Bahnverkehrs in der Europäischen
Union nutzen.
- Aktive Vermarktung des Zugangebots, z. B. Herausgabe eines gemeinsamen
Fahrplans durch Zusammenarbeit mit Verkehrsverbänden und
-unternehmen, sind dringend geboten. Wichtig ist eine zwischen allen
Anbietern und Produkten abgestimmte Gesamtkonzeption, um die Orientierung
der Reisenden zu erleichtern und Anschlüsse sicherzustellen.
- Fahrscheine sollten für eine durchgehende Reisekette angeboten werden,
eventuell Verbundtarife bzw. Kooperationstarife des TBNE (Tarifverband
der Bundeseigenen und Nichtbundeseigenen Eisenbahnen).
Umsteigefreie Direktverbindungen sind geboten, um Tarifunterschiede
bei Umsteigeverbindungen so gering als möglich zu halten.
- Eine wesentliche Forderung richtet sich an die Bereitstellung ausreichender
Plätze zur reservierungsfreien Fahrradmitnahme, auch im Fernverkehr
sowie Bordservice mit Speisen und Getränken, 1. und 2. Wagenklasse
sowie höheres Platzangebot insbesondere zur Beförderung
mobilitätseingeschränkter Reisender.
- Besondere Aufmerksamkeit sollte den Zugverbindungen gelten, die die
Erschließung touristischer Ziele und das Zusammenwachsen zwischen
den alten und neuen Bundesländern fördern, z. B. Direktverbindungen
Berlin—Starnberger See oder Bayerischer Wald, Ostfriesland—Vorpommern
oder Lausitz—Schwarzwald. Gerade durch den Wegfall der
IR-Verbindungen fielen die neuen Bundesländer zum Teil wieder in ihre
frühere Rolle als Transitländer im Fernverkehr zurück.
- Auch besondere touristische Relationen wie Zugverbindungen entlang
von Flüssen, werden vorgeschlagen, z. B.“Elb-Ursprung” von der Elbquelle
bei Hohenelbe (CZ) bis zur Mündung in Cuxhaven oder ein Alpenquerzug
zwischen Basel und Salzburg sowie Angebote zwischen aktiven
Partnerstädten, z. B. Cottbus—Saarbrücken.
- Fernverbindungszüge sollten auch über Neben(fern-), Güter- oder sporadisch
betriebene Strecken sowie zum Teil über Reaktivierungsstrecken
(DB- u. NE-Infrastrukturen) zur Erreichung von Städten bzw. Touristikgebieten
geführt werden, die nicht an das Fernverkehrs- bzw. reguläre
Personenverkehrsnetz angeschlossen sind.
- Der Nebenstreckenstandard für die Befahrung mit Fernzügen soll bei
mindestens 80 km/h liegen.
- In Berlin muss im Fernverkehr der polyzentrischen Struktur entsprochen
werden. Hierbei sollte verstärkt auf die Durchquerung der Stadt,
insbesondere über die Stadtbahn, mit grundsätzlichem Halt auf allen
Fern- und Regionalbahnhöfen gesetzt werden. Die Wiederanbindung
der City West an den Fernverkehr mit Systemhalt am Bahnhof Berlin
Zoologischer Garten ist ein ungebrochener Kundenwunsch in Berlin.
- Zu zahlreichen Relationen der aufgeführten Vorschläge gibt es keine
Erhebungen oder Erfahrungswerte oder gar Ergebnisse standardisierter
Bewertungsverfahren zur Ermittlung der Reisendenzahlen. Hier müssen
weitere Untersuchungen bis hin zum Probebetrieb Aufschluss über die
Akzeptanz und somit der Entscheidung für ein dauerndes Angebot geben.
Deutscher Bahnkunden-Verband
aus SIGNAL 3/2011 (August 2011), Seite 24-25