Aktuell
1. Jun 2011
„Als Kursbuch der Berliner Verkehrspolitik“ betrachtet der Berliner Senat den Stadtentwicklungsplan (StEP) Verkehr, in dem nicht nur der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur geregelt wird, sondern auch die verkehrspolitischen Ziele definiert werden. Der jetzt beschlossene „StEP Verkehr 2.0“ ist die Fortschreibung des 2003 aufgestellten „StEP Verkehr – mobil 2010“.
Viele der im fortgeschriebenen StEP benannten Ziele, Strategien und Maßnahmen sind durchaus positiv zu bewerten, denn sie berücksichtigen zumindest teilweise den auch im Verkehrsbereich festzustellenden gesellschaftlichen Wertewandel hin zu einem umwelt- und stadtverträglicheren Verkehr.
Anzuerkennen ist der in der Verkehrspolitik bisher eher unübliche (siehe „Stuttgart 21“) Erarbeitungs- und Beteiligungsprozess zum StEP Verkehr durch einen wissenschaftlichen Beirat und einen durch Vertreter der Fachöffentlichkeit besetzten Runden Tisch, zu dem auch der Berliner Fahrgastverband IGEB geladen war.
Die Positionen am Runden Tisch waren entsprechend den unterschiedlichen Interessenlagen der Vertreter naturgemäß sehr breit gefächert. So werteten manche Interessenvertreter die Ausdehnung der Parkraumbewirtschaftung als Folterinstrument für Autofahrer und die Ausweitung von Tempo-30-Zonen als ernste Bedrohung für den Wirtschaftsstandort Berlin. Andere Verbände kritisierten demgegenüber die im StEP Verkehr fehlende eindeutige Prioritätensetzung zugunsten von Maßnahmen, die die Verkehrsarten des Umweltverbundes unterstützen, insbesondere weil diese bei knappen Finanzen erfahrungsgemäß als erste gestrichen werden.
Sehr unterschiedlich war auch die Bewertung der Verkehrsprognose für das Jahr 2025, die für viele der auf Wachstum gepolten (Auto-)Verkehrsexperten offenbar kaum begreiflich ist. Das Ergebnis der Gesamtverkehrsprognose für die Länder Berlin und Brandenburg ist so nachvollziehbar wie eindeutig: Der Straßenverkehr wird zukünftig in Berlin und Brandenburg nicht mehr wachsen, sondern – teilräumlich differenziert – zum Teil erheblich zurückgehen. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Die ersten Auswirkungen sind schon erkennbar: Berlinweit ist der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen in den letzten 10 Jahren von 10 auf 13 Prozent deutlich gestiegen und erreicht in den Innenstadtbezirken zum Teil über 20 Prozent. Zumindest in der Innenstadt ist der Autoverkehr auf einigen Straßen in den letzten Jahren messbar zurückgegangen, in einzelnen Innenstadtbezirken liegt der Anteil des motorisierten Individualverkehrs bei nur noch 17 bis 20 Prozent. Auf die Gesamtstadt bezogen ist der Anteil des Autoverkehrs am Gesamtverkehr im letzten Jahrzehnt von 38 auf 32 Prozent gesunken. Der Anteil des ÖPNV blieb mit 27 Prozent nahezu konstant.
Bis zum Jahr 2025 wird sich nach den Senatsprognosen der Anteil der Autofahrten sogar auf nur noch 25 Prozent verringern, während öffentlicher Verkehr, Rad- und Fußverkehr einen Anteil von 75 Prozent erreichen. Vor allem der Anteil des Radverkehrs wird sich weiter deutlich auf 18 Prozent erhöhen, der Anteil des öffentlichen Verkehrs wird moderat auf 29 Prozent steigen und der Anteil des Fußverkehrs wird in etwa auf dem jetzigen Niveau verbleiben.
So weit, so schlüssig. Vor dem Hintergrund dieser Prognosen, die auch vom wissenschaftlichen Beirat in ihren Grundaussagen mitgetragen wurden, überraschen dann umso mehr die zahlreichen im StEP Verkehr vorgesehenen Straßenausbauten: Tangentiale Verbindung Nord und Ost, Nordumfahrung für Köpenick oder Südostverbindung, Verbindungsstraße zwischen Alt-Karow und B2, Verkehrslösung Heinersdorf oder Verlängerung Granitzstraße, Ortsumfahrung Ahrensfelde und Ausbau der Landsberger Chaussee, Ausbau des inneren Ringes und vor allem natürlich die A 100 – übrigens bis zur Frankfurter Allee. Auch der fortgeschriebene StEP Verkehr enthält ein ganzes Bündel von Straßenneubauten. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Weiterbau des Autobahnringes A 100 scheinen alle oben genannten Verkehrsprognosen außer Kraft gesetzt. Überall in der Stadt wird der Autoverkehr deutlich zurückgehen – nur im Umfeld der A 100 wurden im Rahmen einer vertiefenden Untersuchung gravierende Zunahmen des Verkehrs prognostiziert – ein Schelm wer Arges dabei denkt.
Dennoch kann man dem StEP Verkehr keine einseitige Autolastigkeit vorwerfen. Die vorgesehen Maßnahmen und Strategien zur Förderung des Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehrs kann man nur ausdrücklich befürworten, und viele Infrastrukturmaßnahmen betreffen auch die Verbesserung des öffentlichen Verkehrs. Wie schon im Vorgänger-StEP sind wieder eine Vielzahl von positiven Zielen für den öffentlichen Verkehr (z. B. Beschleunigung, Anschlusssicherung, Qualitätssteigerung) und eben Infrastrukturmaßnahmen benannt. Zahlreiche Neubauten für Regionalbahnhöfe gehören ebenso dazu wie weitere S-Bahn-Strecken (S 21 und Spandau—Hackbuschstraße) und -Bahnhofsneubauten. Und während im Vorgänger-StEP noch die Aufgabe von einzelnen Straßenbahnstrecken vorgesehen war, z. B. die Aufgabe des inzwischen zum Metroliniennetz gehörenden Astes nach Niederschönhausen, so sieht der jetzt beschlossene StEP Verkehr keine Streckenstilllegungen bei der Straßenbahn mehr vor. Ganz im Gegenteil: Nicht weniger als sieben Straßenbahnverlängerungen sind geplant, und weitere sieben Straßenbahnstrecken sind als Infrastruktur-Langfristvorhaben eingestuft.
Nur Papier ist eben geduldig. So zeigte eine im StEP Verkehr erfolgte Abschätzung der für den Verkehrsbereich zur Verfügung stehenden Finanzmittel, dass diese nicht mal für den Betrieb des ÖPNV und für den Unterhalt des bestehenden Straßennetzes reichen werden, für das schon heute ein milliardenschwerer Instandhaltungsrückstau konstatiert wird. Hinzu kommt, dass die Rahmenbedingungen für die Finanzierung des öffentlichen Verkehrs durch den Bund sich in den nächsten Jahren eher verschlechtern als verbessern werden, u. a. durch das Auslaufen des Gemeindeverkehrsfinanzierungs- bzw. Entflechtungsgesetzes und die bevorstehende Überprüfung der Regionalisierungsmittel.
So ist zu befürchten, dass für den öffentlichen Verkehr im laufenden Jahrzehnt nur die aus dem Bundesetat finanzierten Großprojekte wie die U-Bahn-Linie 5 und die S 21-Nord realisiert werden. Über die bereits im Bau befindlichen Straßenbahnstrecken in Adlershof und zum Hauptbahnhof hinaus wird wohl in den nächsten 10 Jahren, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, keine Straßenbahnstrecke finanzierbar sein – es sei denn, die einbehaltenen S-Bahn-Millionen werden endlich zum Straßenbahnausbau eingesetzt, wie es die IGEB seit langem fordert. Auch die vielen kleinen, unter Nutzen-Kosten-Gesichtspunkten im Vergleich zu U 5 oder S 21 sehr viel sinnvolleren Projekte zum Ausbau des öffentlichen Verkehrs werden wie bisher auf der Strecke bleiben – obwohl sie alle im StEP Verkehr 2.0 enthalten sind und eines Tages sicherlich auch im StEP Verkehr 3.0 enthalten sein werden.
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 2/2011 (Juni 2011), Seite 7-9