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EU-Weißbuch: Mit angezogener Handbremse gegen den Klimawandel

Eine Strategie für die Zukunft des Verkehrs in der EU zu entwerfen – nicht weniger hat sich das neue am 28. März 2011 von der Europäischen Kommission vorgestellte „Weißbuch für einen wettbewerbsfähigen und nachhaltigen Verkehrssektor“ zum Ziel gesetzt. Auch wenn die Kommission in ihrem Strategiepapier nur für ein Umsteuern mit angezogener Handbremse eintritt, so steht doch fest, dass sie mit ihren Plänen die deutsche Bundesregierung und deren kurzsichtige Konzepte überholt.


Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament

1. Jun 2011

Die große Stärke des Weißbuchs ist das langfristige Denken über die nächsten Jahrzehnte hinaus. So wird im Weißbuch – anders als in der Koalitionsvereinbarung der schwarzgelben Bundesregierung – ein konkretes langfristiges CO2-Reduktionsziel für den Verkehrssektor vorgeschlagen. Bis 2050 soll eine Minderung von 60 Prozent erreicht werden. Als Zwischenziel wird bis 2030 eine Reduzierung von 20 Prozent im Vergleich zu 2008 angestrebt.

Doch hier ist zugleich auch die größte Schwäche des Weißbuches zu sehen: Leider hat die Kommission Angst vor der eigenen Courage und leitet aus ihren richtigen Langfristzielen nicht die nun zwingend notwendigen Maßnahmen ab. Anstatt die Notwendigkeit eines sofortigen Umlenkens im Verkehrsbereich anzuerkennen, wird dem Klassenletzten beim Klimaschutz – der Verkehr verursacht mittlerweile 30 Prozent aller CO2-Emissionen – weiterhin eine Vorzugsbehandlung durch Wettbewerbsverzerrungen und laschere CO2-Ziele zugestanden. Und eine Vermeidung von überflüssiger Mobilität ist in den Augen der Kommission gar grundsätzlich „keine Option“.

Vielmehr sollen künftige Generationen und das Klima die Zeche des Verkehrsrausches zahlen, denn echte Anstrengungen werden auf die Zeit nach 2030 verschoben. So begnügt sich die Kommission bis 2030 mit Trippelschritten von jährlich 1 Prozent, um bis dahin lediglich 20 Prozent der Treibhausgase gegenüber 2008 einzusparen. Dies läge noch immer 8 Prozent über dem Niveau von 1990. Auf diese Weise würde der Verkehrssektor für seine Versäumnisse der letzten Jahrzehnte auch noch mit weiterer Vorzugsbehandlung belohnt!

Erst ab 2030 sollen plötzlich wundersame Riesenschritte folgen, um bis 2050 eine Minderung um mindestens 60 Prozent gegenüber 1990 zu erreichen. Doch selbst wenn dies gelänge, wären die Anstrengungen des Klimas nicht dem selbst gesteckten EU-Ziel einer gesamtwirtschaftlichen Minderung von 80 bis 95 Prozent bis 2050 vereinbar.

Für das laufende Jahrzehnt begnügt sich die Kommission mit einem Sammelsurium von ohnehin bereits angestoßenen Einzelmaßnahmen. Eine faire Besteuerung und das Ende der Subventionierung von Klimakillern wie dem Luftverkehr will die Kommission lediglich „prüfen“. Denn obwohl die Emissionen in der Luft für das Klima drei- bis viermal so gefährlich sind wie am Boden, bekommen die Airlines durch die Befreiung von Kerosinund Mehrwertsteuer jedes Jahr 30 Milliarden Euro (!) vom EU-Steuerzahler geschenkt. Beim immer dringenderen Problem des Bahnlärms will die Kommission sich ebenfalls Zeit lassen: Gemeinsame Anstrengungen sollen erst bis Ende des Jahrzehnts erfolgen.

In allen EU-Städten soll es 2050 Fahrverbot für herkömmliche Autos geben

Positiv ist das EU-Ziel, konventionelle Autos bis 2050 aus den Städten zu verbannen. Zudem sollen 30 Prozent des Straßengüterverkehrs bei Distanzen über 300 km auf die Schienen und die Wasserstraßen verlagert und die EU-Förderung endlich offiziell auf „grüne Infrastruktur“ statt auf teure und langwierige Megaprojekte konzentriert werden

Vage bleibt die Kommission leider bei einem der ganz entscheidenden Themen: dem Prinzip der Internalisierung externer Kosten. Eine verursacherbezogene Anlastung aller von den Verkehrsträgern verursachten Kosten ist unverzichtbar für einen fairen intermodalen Wettbewerb, doch konkrete Vorschläge lässt das Kommissionspapier vermissen. So wird eine umfassende Maut für Lkw und Pkw lediglich als Option genannt. Dabei gilt auf der Schiene bereits eine EU-weit verpflichtend vorgeschriebene und in der Höhe unbegrenzte Maut, die für jede Lokomotive auf jedem Streckenkilometer erhoben werden muss. Auf der Straße hingegen ist es den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie überhaupt eine Maut erheben. Zudem ist diese Maut in der Höhe begrenzt und gilt meist nur auf Autobahnen und nur für Lkw ab 12 t. Deutschland muss hier endlich tätig werden und mit einer Lkw-Maut bereits ab 3,5 t und auf allen Bundesstraßen vorangehen.

EU scheut klare Forderung nach Tempolimit auf Autobahnen

Auch das Thema Tempolimit geht die Kommission nur zurückhaltend an und beschränkt sich zunächst auf Kleintransporter. Da Deutschland jedoch als einziger EU-Mitgliedstaat kein Tempolimit auf Autobahnen vorgibt, ist hier schon jetzt großer Nachholbedarf. Denn durch ein solches Tempolimit ließen sich laut Umweltbundesamt sofort 3 Prozent und auf die Dauer sogar 30 Prozent der CO2-Emissionen einsparen.

Trotz großer Schwächen bei der Ableitung konkreter Maßnahmen hat die Kommission mit dem Weißbuch deutlich gemacht, dass sich auf EU-Ebene endlich die Einsicht in die Notwendigkeit einer nachhaltigeren Mobilität durchgesetzt hat. Nun muss die deutsche Bundesregierung, die sich in der EU gerne als Musterschüler darstellt, nachziehen. Sie muss als Vertreterin des größten Mitgliedsstaats dieses Umdenken auf EU-Ebene unterstützen und auf nationaler Ebene umsetzen. Ansonsten droht dem vermeintlichen Musterschüler Deutschland das Sitzenbleiben im Kampf gegen den Klimawandel.

Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament

aus SIGNAL 2/2011 (Juni 2011), Seite 23