Aktuell
S21 - Das Poker-Spiel geht weiter. Diese Überschrift in SIGNAL 9-10/94 ist unverändert aktuell, ebenso wie die Meldung der Berliner Morgenpost in der Ausgabe vom 11. Januar 1994, also vor gut einem Jahr: Der zu den Akten gelegte Ausbau der S21 vom Potsdamer Platz über Lehrter Bahnhof zum Flughafen Tegel erhält doch noch eine Chance. Aber während die Morgenpost ihre Einschätzung damals lediglich auf (erfolglose) Bemühungen von DaimIer Benz, Großinvestor am Potsdamer Platz, stützen konnte, gibt es heute einen aktuellen Senatsbeschluß zur Trassenfreihaltung für die S21.
1. Feb 1995
Um diese wohl kurioseste (um nicht zu sagen chaotischste) Berliner Schienenplanung zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick geboten, entnommen aus einer Stellungnahme des Tübinger Juristen Michael Ronellenfitsch vom 6.12.94 für den Berliner Senat:
"Die - der Öffentlichkeit vorgestellte Planung der Verkehrsanlagen im Zentralen Bereich von Berlin hatte ursprünglich auch eine neue S-Bahn-Linie 21 zum Gegenstand. Aus finanziellen Erwägungen beschloß der Senat von Berlin jedoch, auf den sofortigen Bau der 2l zu verzichten. Der Senatsbeschluß vom 5. Oktober 1993 war allerdings noch von dem Wunsch getragen, die Trasse, vorbehaltlich einer Prüfung der finanziellen Auswirkungen, eine zu einem späteren Zeitpunkt zu bauende S-Bahn-Linie 21 freizuhalten.
Wegen der Weigerung des Bundes, sich an den hierbei entstehenden Kosten in einer aus der Sicht des Landes als angemessen betrachteten Weise zu beteiligen, beschloß der Senat dann aber am 30. November 1993, auch keine Vorhaltungen für die Trasse einer S-Bahn-Linie von Yorckstraße über Gleisdreieck, Potsdamer Platz, Bundesforum, Lehrter Bahnhof zum östlichen Nordring (Bahnhof Wedding) - Arbeitstitel "S21" - zu treffen.
Die mit dem Beschluß vom 30. November 1993 eingetretene Beschlußlage ist nicht eindeutig. Der Beschluß könnte als endgültiger Verzicht auf die geplante S-Bahn-Linie 21 verstanden werden. Derart definitiv ist der Beschluß aber nicht gefaßt. Abgesehen davon, daß sich im Beschluß immerhin ein Hinweis auf die für die Realisierung der S-Bahn-Linie 2l ausreichende Tiefenlage der geplanten U5 im Bereich des Brandenburger Tores findet, hätte es nahe gelegen, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, daß ein gewiß nicht unerheblicher Teil der geplanten Verkehrsanlagen im Zentralen Bereich aufgegeben wird. Dies ist aber nicht geschehen. Der Beschluß vom 30. November 1993 läßt sich somit sinnvollerweise nur als Bekräftigung der Entscheidung vom 5. Oktober 1993 verstehen, die konkrete Planung der zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht weiterzubetreiben.
Folgerichtig wurde die S-Bahn-Linie 21 nicht mehr unter die Vorhaben aufgenommen, die Gegenstand des am 28. April 1994 eingeleiteten Planfeststellungsverfahrens für die Verkehrsanlagen im Zenralen Bereich von Berlin im Planfeststellungsbereich... sind. lm Erläuterungsbericht finden sich daher zur S-Bahn-Linie 21 nur wenige Ausssagen."
Anders ausgedrückt: Den Befürwortem der S21, hier der Senatsverkehrsverwaltung, war es gelungen, zum einen am 30.1l.1994 einen ausreichend unpräzisen Senatsbeschluß gegen die S21 zu formulieren und zum anderen durch wenige, scheinbar unbedeutende Sätze die Trassenfreihaltung sogar in das Planfeststellungsverfahrcn "einzuschmuggeln".
Einen weiteren Erfolg errangen die S21-Befürworter mit dem Abgeordnetenhausbeschluß zum Flächennutzungsplan vom 23.6.94, in dem es heißt: "Es ist zu überprüfen. ob für eine zusätzliche S- bzw. Regionalbahnstrecke auf dem Abschnitt zwischen Gleisdreieck und Lehrter Bahnhof eine Trasse freigehalten werden kann." Gestützt auf diesen Beschluß und auf "wesentliche neue Erkenntnisse" (Korrektur der Fahrgastprognosen für 2010 und zwingend erforderliche Mehrleistungen zur Trassenfreihaltung südlich des Potsdamer Platzes) unternahm die Senatsverkehrsverwaltung im Herbst 1994 einen neuen Anlauf, um den Senatsbeschluß vom 30.11.1993 zu revidieren. Dazu schreibt Ronellenfitsch:
"Nach eingehender Aussprache [im Senat] wurde der Vorgang bis zur Senatssitzung am 13. Dezember 1994 mit der Bitte zurückgestellt, die möglichen Auswirkungen einer Trassenfreihaltung auf das laufende Planfeststellungsverfahren durch einen externen Gutachter prüfen zu lassen." Diesen Prüfauftrag erhielt dann Ronellenfitsch, der seine Aufgabe so beschreibt: "Geprüft wird, ob die Trassenfreihaltung für eine künftige S-Bahn-Linie 21 im Planfeststellungsbereich das laufende Planfeststellungsverfahren für die Verkehrsanlagen im Zentralen Bereich insbesondere in zeitlicher Hinsicht negativ beeinflußt."
Sein Ergebnis vom 6.12.94 entsprach den Hoffnungen des Verkehrssenators: "Durch die vorgesehenen Maßnahmen zur Trassenfreihaltung für eine S-Bahn-Linie 21 im Planfeststellungsbereich wird das laufende Planfeststellungsverfahren für die Verkehrsanlagen im Zentralen Bereich von Berlin in keiner Weise rechtlich negativ beeinflußt. Verfahrensverzögerungen können ausgeschlossen werden. Die Planrechtfertigung für die Gemeinschaftsvorhaben wird nicht tangiert."
Einige Absätze zuvor schreibt Ronellenfitsch allerdings: "Die Planrechtfertigung im laufenden Planfeststellungsverfahren geht davon aus, daß auch ohne die S-Bahn-Linie 21 der vorhandene Verkehr bewältigt werden kann. Die Begründung für die Trassenfreihaltung darf diese Planrechtfertigung nicht in Frage stellen. Dies ist nicht der Fall bei einer Begründung, die die geplanten Vorhaben als Minimallösung zur Verkehrsbewältigung als ausreichend erklärt, aber gleichzeitig zum Ausdruck bringt, daß sich der künftige Verkehr durch eine S-Bahn-Linie 21 noch besser bewältigen lassen wird." Und weiter unten heißt es: "Durch die Trassenfreihaltung als solche wird die Planrechtfertigung für das laufende Planfeststellungsverfahren folglich nicht gefährdet. Eine Gefährdung könnte allenfalls eintreten durch eine unzutreffende ('dramatisierende') Begründung die Trassenfreihaltung."
Genau diese "dramatisierende” Begründung wurde allerdings schon bald für die S21-Befürworter erforderlich, um die Trassenfreihaltung im Senat durchsetzen zu können. Denn trotz des Ronellenfitsch-Gutachtens konnte Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) sich in der Senatssitzung am 13. Dezember nicht gegen Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) durchsetzen - der Senat lehnte die Trassenfreihaltung erneut ab. Daraufhin wurde von den eine breite öffentliche Debatte initiiert, in der Fachleute aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft u.a. von einer "katastrophalen Fehlentscheidung" (Berliner Morgenpost vom 19.l2.94) sprachen.
Zwar verteidigte Bausenator Nagel seine Position hartnäckig und zunehmend unsachlicher, so z.B. im Landespressedienst vom 16.1.95 (Bausenator bleibt dabei: S21 völlig überflüssig"), aber im Berliner Parlament formierte sich eine parteiübergreifende Mehrheit gegen den Senatsbeschluß. Als sich am 24. Januar selbst die SPD-Fraktion gegen ihren Bausenator stellte und sich mehrheitlich für die Trassenfreihaltung ausprach, war der Weg frei für eine große parlamentarische Mehrheit zugunsten der S21. Der Beschluß folgte schon am 26. Januar, ohne die sonst übliche Vorab-Beratung in den zuständigen Ausschüssen des Abgeordnetenhauses. Daraufhin mußte auch der Senat seine Entscheidung vom 13. Dezember korrigieren, er tat dies bereits in seiner Sitzung am 3l. Januar.
Das Ergebnis ist in der nun vierjährigen Amtszeit von Verkehrssenator Haase sein erster nennenswerter Erfolg zugunsten eines ÖPNV-Projektes und zulasten des Bausenators. Doch gebaut ist die S21 damit noch lange nicht. Zwar müssen nun die Bauplanungen am Potsdamer Platz und Lehrter Bahnhof korrigiert und Vorleistungen für die S21 erbracht werden, aber in das Planfeststellungsverfahren für die Tunnel im Zentralen Bereich wurde sie ja, um eine erneute Bürgerbeteiligung zu umgehen, nur als Trassenfreihaltung aufgenommen, so daß vor dem Bau der S21 ein neues Planfeststellungsverfahren erforderlich ist. Hinzu kommt, daß die Trasse aus dem "Tunnelbündel" herausgenommen wurde, so daß die jetzt zur Freihaltung vorgesehene Trasse verkehrstechnisch schlechter und in der Realisierung teurer ist. Nur wenn die Lage der S21-Trasse auf die alte Planung und die S-Bahn auch realisiert wird, was durch Verzicht auf das überflüssige Milliarden-Projekt der U5-Verlängerung möglich wäre, nur dann hätte sich der Einsatz des Verkehrssenators und der vielen anderen für die S21 gelohnt. So aber ist zu fürchten, daß der Lehrter Zentralbahnhof, wenn er denn kommen sollte, noch für lange Zeit von den meisten Fahrgästen aus dem Norden und Süden Berlins nur auf Umwegen über die Stadtbahn erreichbar ist. Das Kapitel S21 ist also noch lange nicht abgeschlossen, das Poker-Spiel geht weiter.
IGEB
aus SIGNAL 1/1995 (Februar 1995), Seite 6-7