Nahverkehr
Ein Rückblick auf das Kriegsende
1. Jun 1995
Vielfach wurde in diesen Wochen an die Zeit vor 50 Jahren, an das Ende des 2. Weltkrieges im Mai 1945 erinnert. Auch das Berliner S-Bahn-Museum will dieses wichtige Datum zu einem Rückblick nutzen. Da die Autoren des nachfolgenden Beitrages alle erst nach dem Krieg geboren wurden, basiert ihre Arbeit auf dem Studium der üblichen Quellen wie Fotos und Bücher aus dieser bzw. über diese Zeit. In Umrissen soll gezeigt werden, welche schrecklichen Folgen der von Deutschland ausgehende Krieg für Berlin und seine S-Bahn hatte. Viele Fragen blieben aber offen. Alle älteren Leser, die diese Zeit miterlebt haben, ob als Eisenbahner, Fahrgast oder Anwohner der S-Bahn, möchten wir deshalb bitten, uns Ihre Erlebnisse und Erfahrungen mitzuteilen. Es gilt, mehr als nur Zahlen oder Fotos zerstörter Bahnhöfe aufzubewahren.
Um das in der Einleitung beschriebene Ziel zu erreichen, ist Ihre aktive Hilfe nötig. Wir sind dankbar für jeden Hinweis, der in das zumeist sehr dunkle Bild der damaligen Zeit mehr Licht bringt:
Auf diese und unzählige andere Fragen zur Kriegs- und Nachkriegszeit gibt es viele, gerade für die später Geborenen interessante, aufzubewahrende Antworten.
Sie können uns in unterschiedlicher Form helfen:
Wichtig ist in beiden Fällen: Schreiben oder erzählen Sie uns bitte möglichst nur das persönlich Erlebte oder glaubhaft Verbürgte, auch Daten, Orte und Namen. Vielleicht verfügen Sie auch über Fotos oder andere Erinnerungsstücke, anhand derer sich zusätzliche Infomationen sammeln lassen.
Ergebnis Ihrer Mithilfe könnte sein,
Wenn Sie uns Ihre Erinnerungen schriftlich mitteilen möchten, schreiben Sie bitte an die nachfolgende Adresse. Wenn Sie mit uns reden möchten oder Fotos zeigen können, empfehlen wir ebenfalls eine schriftliche Kontaktaufnahme (einfache Postkarte), wir melden uns dann bei Ihnen, um einen Termin zu verabreden.
Vielen Dank!
Berliner Museum GbR
Fahrgastzentrum
Straße der Pariser Kommune 12
10243 Berlin (Friedrichshain)
Der 2. Weltkrieg brachte erhebliche Veränderungen die Berliner S-Bahn mit sich. Zunächst begannen sofort die Verdunkelungsmaßnahmen, d.h. die schrittweise Abschaffung nahezu sämtlicher Beleuchtung an den Zügen und auf den Bahnhöfen, allenfalls erfolgte ein "Ersatz" durch mattes blaues Licht. Leuchtfarbe an den Dachstützen und Gebäudeecken, die abgedunkelten Scheinwerfer an den Fahrzeugen, die Schutzhügel an den Wagenenden (gegen Stürze in die Wagenzwischenräume bei Verdunkelung) oder die (schlecht) beleuchteten Stationsschilder ermöglichen heute eine leichte Zuordnung älterer Fotos in die Kriegszeit. Ferner wurden auf den Bahnsteigen als Reaktion auf die ab Mitte 1943 verstärkt einsetzenden Bombenangriffe auf Berlin Splitterschutzbunker für das Personal gebaut - einzelne sind bis heute erhalten.
Für Fremdarbeiter, für durchreisende Soldaten oder für in der Reichshauptstadt Arbeitende aus der "Provinz" - sprich: für alle Ortsunkundigen wurden an die Fahrzeugdecken große Übersichtspläne des S-Bahn-Netzes gemalt. Das komplizierte Tarifsystem mit 28 Preisstufen wurde im Oktober 1944 durch einen stark vereinfachten Zonentarif mit 8 Stufen abgelöst. Dieser "Kriegseinheitstarif" galt - mit Modifikationen in Berlin (Ost) bis zum Jahre 1990 weiter!
Schrittweise wurde das Personal ausgetauscht, junge Eisenbahner wurden immer seltener, zunehmend wurden sie durch Frauen ersetzt. Arbeitstrupps - bestehend aus Mitgliedern des Reichsarbeitsdienstes, Fremdarbeitern oder sogar KZ-Häftlingen - mußten Schäden beseitigen, Blindgänger entschärfen und die Züge möglichst schnell wieder zum Rollen bringen. Dies war umso nötiger, als der private und der Busverkehr der BVG weitgehend abgeschafft bzw. stark reduziert worden waren. Zugleich wurde die Rüstungsproduktion in Berlin immer stärker ausgeweitet, und die S-Bahn war wichtigster Zubringer zu den Fabriken. So beförderte die Berliner S-Bahn 1943 mit 789,1 Mio Reisenden eine nie wieder erreichte Rekordzahl an Fahrgästen.
Während die einen fahren S-Bahn fahren mußten und dabei Gefahr liefen, aufunbeleuchteten Bahnsteigen zu verunglücken oder bei einem Bombenangriff nicht rechtzeitig genug einen Schutzraum zu finden, durften andere nicht mehr S-Bahn fahren: Seit April 1942 war den - schon vorher durch eine Vielzahl von Maßnahmen schikanierten - jüdischen Einwohnern die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel untersagt. In Sichtweite der S-Bahn, auf den Bahnhöfen Grunewald und Putlitzstraße wurden sie schließlich in die Güterzüge zu den Vemichtungslagern verfrachtet.
Knappe Ersatzteile und Abstriche bei Wartung und Reinigung sowie pausenloser Einsatz setzten dem Wagenpark zu. Ein markanter, weil jedermann sichtbarer Einschnitt wurde jedoch 1942 von einem Bündnis aus Reichsbahndirektion und Fahrzeugindustrie abgewehrt: Der Verzicht auf die traditionellen ocker/ochsenblutrot (3. Klasse) bzw. blau/ochsenblutrot (2. Klasse) zugunsten eines grauen Einheitsanstrichs. Der kriegswichtige Nutzen dieser Veränderung konnte nicht begründet werden.
Der Bombenkrieg und schließlich der "Kampf um die Reichshauptstadt" brachten schrittweise das "Aus" für die Berliner S-Bahn. Zunächst wurden 1943 und 1944 einige Lücken in das Netz gerissen und Streckenabschnitte stillgelegt:
Schließlich wurde - die sowjetische Front rückte immer näher - im April 1945 der S-Bahn-Verkehr schrittweise eingestellt. Schon vorher war nur noch ein begrenzter Kreis von "wehrwirtschaftlich wichtigen" Reisenden die Nutzung der Züge erlaubt. Am 25. April brach die Stromversorgung zusammen - das war das Ende für die S-Bahn.
Entsprechend den Vereinbarungen der Alliierten wurde Berlin 1945 in vier Sektoren geteilt. Jede Besatzungsmacht brachte ihre politischen Ziele mit in die Stadt - der seit Kriegsende offen ausbrechende Konflikt zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion machte Berlin zwischen 1945 und 1989 so zur Frontlinie des Kalten Krieges.
Mit dem Befehl Nr. 8 übergab die sowjetische Militäradministration (SMAD) mit Wirkung zum 1.9.1945 den Betrieb der Eisenbahn in der sowjetischen Besatzungszone bzw. im sowjetischen Sektor Berlins an die Deutsche Reichsbahn. Die drei Westmächte übernahmen wegen der Notwendigkeit der einheitlichen Betriebsführung - diese Anordnung auch die Westsektoren. Baumaßnahmen, Fahrplangestaltung, Arbeitsbedingungen, Personalpolitik alles wurde damit zum Spielball des Ost-West_Konflikts. Die S-Bahn wurde dabei zerrieben. Die Schließung der Kopfbahnhöfe des Fernverkehrs in den Westsektoren, der Eisenbahnerstreik 1949, der Bau von Umgehungsstrecken, schließlich die Spaltung der S-Bahn am 13. August 1961 und der sich daran anschließende S-Bahn-Boykott in Berlin (West), der fast zum völligen Exodus des einstmals so wichtigen Verkehrsmittels im Westteil Berlins hätte - dies alles waren Langzeitfolgen des Krieges. Erst nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung 1990 ging der Krieg für die Berliner wirklich zu Ende.
Die Kriegsfolgen für den Fahrzeugbestand der elektrischen S-Bahn waren verheerend. Bestand der Wagenpark im Dezember 1939 noch aus etwa 2.050 Trieb- und Beiwagen (d.h. ca. 1.025 Viertelzügen), war er im Frühjahr 1945 auf 534 betriebsfähige Wagen (267 Viertelzüge), d.h. etwa ein Viertel des Vorkriegsstandes, zusammengeschrumpft. Der Rest war entweder leicht bis schwer beschädigt oder zerstört (zusammen etwa 300 Viertelzüge) oder infolge von Reparationen (etwa 250 Viertelzüge) nicht mehr vorhanden. Erschwerend kamen die Vernachlässigung bei der Instandhaltung und das Auf-Verschleiß-Fahren während der Kriegsjahre hinzu. Ersatzteilmangel erschwerte Reparaturen oder Instandsetzungen von beschädigten Fahrzeugen. Häufig mußte ein beschädigter Wagen "ausgeschlachtet" werden, um einen anderen fahrfähig zu machen. Die einst vorbildliche Berliner S-Bahn war überwiegend schrottreif.
Verluste beim Fahrzeugpark und den Streckenanlagen gab es auch nach Kriegsende infolge von Reparationen.
Etwa 100 Viertelzüge (d.h. 200 Wagen), die während des Krieges in das RAW Lauban (Schlesien) zur Reparatur gebracht worden waren, wurden in den Wagenpark der Polnischen Staatsbahn (PKP) eingegliedert. Nach Umrüstung auf Oberleitungsstromversorgung wurden die Wagen seit den frühen 50er Jahren im Raum Danzig für den Vorortverkehr eingesetzt.
Zwischen Mai 1945 und April 1946 wurden ca. 140 Viertelzüge als Reparationsleistung an die sowjetische Staatsbahn abgegeben. Die noch gut erhaltenen Fahrzeuge wurden umgespurt und mit Oberleitung versehen. Ihr Einsatz erfolgte im Vorortverkehr Moskaus und der Estnischen Hauptstadt Tallin (Reval). Etwa die Hälfte dieser Wagen wurde 1952 an die Deutsche Reichsbahn zurückgegeben. Als Gegenleistung wurden 50 neue D-Zug-Wagen in die UdSSR geliefert.
Es wurden auch umfangreiche Demontagen an Werkzeug-, Stromversorgungs- und Fernmeldeeinrichtungen vorgenommen. Die zweigleisige S-Bahn-Strecke Ostkreuz - Erkner wurde vollständig abgebaut. Auf anderen Vorortstrecken wurde das zweite Gleis entfernt.
Die Verluste an Fahrzeugen und Gleisanlagen bzw. Streckenausrüstungen infolge von Reparationen stellten ein weiteres großes Hindernis beim Wiederaufbau der S-Bahn als leistungsfähiges Verkehrsmittel dar.
Die Schadensbilanz im Mai 1945 am Streckennetz und den baulichen Anlagen der Berliner S-Bahn war katastrophal. 119 der 712 km elektrifizierter Gleise waren nicht mehr zu befahren. Bei Hochbauten, Brücken, Durchlässen, Bahnhofseinrichtungen registrierte die DR eine Zerstörungsquote von 70 Prozent. Viele Zerstörungen waren noch in den letzten Kriegswochen durch deutsche Soldaten entstanden - in der irrwitzigen Annahme, durch gesprengte Brücken oder den Ausbau der Ringbahn zur Hauptkampflinie die Soldaten der Roten Armee noch aufhalten zu können. Das bekannteste in diesem Zusammenhang zu nennende Beispiel ist der Tunnel. Wahrscheinlich noch am Tag der Kapitulation der deutschen Truppen in Berlin (2. Mai 1945) wurde im Bereich des Landwehrkanals die Tunneldecke gesprengt. Rund 90 Menschen starben, dutzende von im Tunnel abgestellten S-Bahnwagen wurden, ebenso wie Bahnhöfe und Gleisanlagen, schwer beschädigt. Die für den Berliner Nahverkehr so wichtige Strecke war für rund 2 Jahre nicht mehr betriebstähig.
Weniger spektakulär waren zerstörte Bahnhofsbauten wie Beusselstraße, Treptower Park, Südende oder Gesundbrunnen. Sie wurden ebenso wie Brücken und Stromversorgung i.d.R. schnell wieder "hingeflickt".
Ein wichtiger betriebsinterner Verlust war die völlige Zerstörung des Betriebswerks Westend. Der durch Zerstörungen und Reparationen allerdings ohnehin reduzierte Wagenpark mußte so auf andere Heimatbahnhöfe verteilt werden.
Die Wiederherstellung der technischen und verkehrlichen Infrastruktur war eine der vordringlichsten Aufgaben im Berlin der Nachkriegszeit. Bereits am 6. Juni 1945, d.h. vier (!) Wochen nach Kriegsende, konnte der erste elektrische S-Bahn-Verkehr wieder aufgenommen werden: Morgens und abends verkehrte je ein Zugpaar zwischen Wannsee und Schöneberg, ab dem 12. Juli konnte hier mit 12 Zugpaaren täglich ein relativ regelmäßiger Verkehr aufgenommen werden. Schritt Für Schritt folgte die Verkehrsaufnahme auf anderen Strecken. Insbesondere auf den weniger stark zerstörten Strecken war bald wieder S-Bahn-Verkehr, anfangs z.T. mit Dampfzügen, dann mit elektrischen Zügen, möglich. Große Probleme bereitete die Stadtbahn. Erst im November 1945 war sie wieder durchgängig befahrbar - immer noch mit vielen Pendelabschnitten infolge beschädigter Brücken oder Viadukte. Ein Jahr nach Kriegsende, am 18. Mai 1946 war der Vollring wieder durchgängig im 10-Minuten-Takt befahrbar.
Ehe der Nord-Süd-S-Bahn-Tunnel wieder benutzbar wurde, mußten das Wasser abgepumpt, die Zerstörungen der Tunneldecke beseitigt und die elektrischen Anlagen wieder hergestellt werden. Dies dauerte insgesamt 2 1/2 Jahre bis zum 16.11.1947. In der Zwischenzeit verkehrten die Züge aus dem Süden bis zum provisorisch hergerichteten Potsdamer Ringbahnhof, die Züge aus dem Norden zum Stettiner Fernbahnhof. Noch über Jahrzehnte waren die Zerstörungen infolge des Wassereinbruchs in den meisten S-Bahnhöfen der Nord-Süd-S-Bahn sichtbar. Bis zur Generalsanierung Anfang der 90er Jahre blieb auch der Oberbau der Kriegs- und Nachkriegszeit erhalten. Der mit Schlamm verbackene Schotter war dabei hart wie Beton geworden.
Einzelne Abschnitte des S-Bahn-Netzes gingen nicht wieder in Betrieb:
Bis etwa zum Sommer 1948, d.h. innerhalb von nur drei Jahren, war das elektrische S-Bahn-Netz der Vorkriegszeit in seiner Länge weitgehend wiederhergestellt. Auch die vollständig demontierte Strecke nach Erkner war wieder betriebsfähig. Die schnelle S-Bahn-Wiederinbetriebnahme nach 1945 unter schwierigsten Bedingungen war eine enorme Leistung, deren Stellenwert gerade vor dem Hintergrund heutiger Bauzeiten nochmals gestiegen ist. Die Leistung wird auch dadurch nicht geschmälert, daß wegen eingleisiger Streckenabschnitte, vielfacher Langsamfahrstellen, immer wieder auftretender Betriebsstörungen, etwa infolge von Bombenfunden oder Stromausfällen, wegen des dezimierten und demolierten Wagenparks sowie immer noch teilzerstörter Bahnhöfe eine S-Bahn-Fahrt 1947 natürlich nicht mit einer im Sommer 1939 vergleichbar war.
Rund 55.000 Berliner wurden zumeist wegen ihrer Herkunft in den Vernichtungslagern ermordet, weitere ca. 50.000 Berliner wurden Opfer des Bombenkrieges. Die als Soldaten gefallenen oder im Kampf um Berlin getöteten lassen sich nicht genau beziffern, erreichen aber allein auf deutscher Seite noch mal eine Zahl von ca. 50.000. Hunderttausende erlitten Schäden an Körper und Psyche, verloren ihre Heimat, Hab und Gut.
Unter den Opfern waren auch viele Eisenbahner, die als Soldaten oder Eisenbahner an der Front fielen, die in der Heimat das Opfer von Bomben wurden oder die z.T. alleine wegen ihrer Uniform noch nach dem Krieg Jahre in Lagern zubringen mußten. Dieser Aderlaß an Fachkräñen war die schlimmste Kriegsfolge für die Berliner S-Bahn.
Berliner S-Bahn-Museum
aus SIGNAL 3-04/1995 (Juni 1995), Seite 17-19