Planung
Ein Vergleich möglicher Varianten für einen Nord-Süd-Tunnel in Groß-Berlin (Fortsetzung aus SIGNAL 6/90)
1. Okt 1990
Der für Berlin (West) geltende Flächennutzungsplan “FNP 84” wurde in den Jahren 1984 bis 1988, also noch unter dem CDU/F.D.P.-Senat, aufgestellt. Ziel der Planer war es, durch Beachtung vorhandener und möglicher Verflechtungen der Halbstadt mit ihrem Umland künftige Entwicklungsmöglichkeiten der gesamten Stadtregion Berlin nicht zu verbauen. Dennoch ist dieser Plan an vielen Stellen durch ein "Inseldenken" geprägt. So enden die aus dem Süden kommenden Bahntrassen der Anhalter Bahn südlich der Yorckstraße in einem Gewerbe- und die der Potsdamer Bahn in einem Mischgebiet.
Das klassische Gelände am Gleisdreieck zwischen Landwehrkanal (Nordrand), Möckernstraße (Ostrand), Yorckstraße (Südrand) und dem Straßenzug Kulmer-Dennewitz-Flottwellstraße im Westen beherbergte einst auf etwa 68 ha folgende Verkehrsanlagen:
Soweit die Anlagen in der Verkehrsebene +1. Die fischbauchähnliche Gesamtanlage von ca. 1,2 km Länge (Nord-Süd) und 0,5 km Breite (Ost-West), die etwa 68 ha Fläche beansprucht, wies an ihrer breitesten Stelle etwa 60 parallel liegende Gleise auf (in der Breite vergleichbar dem in jener Zeit größten deutschen Verschiebebahnhof Hamm/Westfalen am Ostausgang des Ruhrgebietes). Die Verkehrsanlagen in der Ebene +2 werden von den Hochbahnen U1 und U2 belegt, die sich in Gleisdreieck kreuzen. In der Ebene -2 liegen die S-Bahnen S1 und S2 mit der Station Anhalter S-Bahnhof.
Die Anlagen der eigentlichen Kopfbahnhöfe lagen nördlich, in Richtung Stadtmitte, außerhalb des Gleisdreiecks. Dazu mußten der Landwehrkanal und die parallel in Ebene 0 verlaufenden Uferstraßen überbrückt werden. Ein zu jener Zeit weltweit bestauntes Verkehrswege-Ensemble war das 5-Ebebnen-Bauwerk in der Fernbahneinfädelung zum Anhalter Personenbahnhof: Ebene -2: Nord-Süd-S-Bahn, Ebene -1: Schiffahrtslinie des Landwehrkanals, Ebene 0: Kanaluferstraßen, Ebene +1: Fernbahn- und Vorortbahnzufahrt zum Anhalter Bf. (viergleisig), Ebene +2: Hochbahn von Warschauer Brücke über Gleisdreieck in Richtung Uhlandstraße/Innsbrucker Platz.
Eine weitere wichtige innerstädtische Linie wurde mit der U7 von Rudow nach Spandau an dieser Stelle in den 60er/70er Jahren in der Ebene -1,5 gebaut, die bei einer evtl. unterirdischen Trassierung der Nord-Süd-Fernbahn über den Anhalter Bf. am Südkopf eine weitere Anbindung des ÖPNV-Netzes an die Fernbahn technisch nahelegt.
Alle diese Einrichtungen lagen bis zur im FNP 84 vorgenommenen Umwidmung auf Bahngelände. Die Bahntrassen, obwohl seit 1952 ungenutzt, waren Bestandteil dieser abwartenden Haltung, die freilich durch die alliierten Vorbehaltsrechte im Kern gestützt wurde. Die politischen Veränderungen des letzten Jahres könnten nun zu einem Glücksfall für die weitere Bahnplanung werden, allerdings nur dann, wenn sich die Planungsbehörden nach Fortfall der alliierten Vorbehaltsrechte im Rahmen der 2+4-Verhandlungen an dem Grundsatz einer abwägenden Entscheidungsphilosophie, die auch den Wert des historischen Ortes und einer ökologisch vorteilhaften Lage in Bezug auf kurze innerstädtische Transportwege für Personen und Güter in Betracht zieht, orientieren und nicht vorschnell und einseitig Entscheidungen fällen oder Festlegungen treffen, die vernünftige sachgerechte Planungen auf Jahrzehnte blockieren.
Als quantitative Bemessungsgrundlage für die Herstellungskosten der Teilstrecken zwischen Abtauch- und Auftauchpunkt im innerstädtischen Bereich mögen behelfsweise die Streckenlängen nach Maßgabe des Planes 1:10.000 dienen. Als Nullmeridian jeder Teilstrecke wurden die Gleiskopfenden in den ehemaligen Kopfbahnhöfen Lehrter, Potsdamer und Anhalter Personenbahnhof ausgewählt, so wie sie in den Originalgleisplänen dargestellt sind. Die seinerzeit nicht interessierenden verbindenden Teilstrecken wurden nunmehr hinzugefügt, und erstmals im Zeichnungsmaßstab kilometriert. Die gefundenen Werte wurden mit einem topographischen Index gekennzeichnet und tabellarisch entsprechend ihrer Netzlage eingefügt. Jede Variante läßt sich in Teilstrecken untergliedern.
Es wurde zwischen der “Stammstrecke” einer Variante und ihren sinngebenden “Ergänzungs-Teilstrecken" unterschieden. Als quantitative Bemessungsgrundlage für die Herstellungskosten konnten behelfsweise die Streckenlängen nach Maßgabe des Planes 1:l0.000 herangezogen werden. Als Nullmeridian wurden Jeweils die Gleisköpfe in den ehemaligen Endbahnhöfen Lerther und Anhalter ausgewählt, wie es in den überlieferten Gleisplänen angegeben wird. In den maßstäblichen Skizzen (SIGNAL 6/90 , Abbildungen 6 bis 9) erfolgt die Kilometrierung bei 0,00 beginnend in nördlicher Richtung am Lehrter, in südlicher Richtung am Anhalter und Potsdamer und in östlicher Richtung am Anhalter Bahnhof bis zum Auftauchpunkt (ATP).
Der Lehrter Bahnhof wird bemerkenswerter Weise von allen Trassenvarianten auf der Nord-Süd-Ferntrasse durchfahren. Die den Fernbahnhofsbereich kreuzende Invalidenstraße ist eine nördliche Tangente des Zentralen Bereiches, beide Verkehrs-Trassen schmiegen sich an, und die Nähe des Lehrter Bahnhofs zum Reichstag sollte doch bewußt für die leichte Erreichbarkeit des künftig gesamtdeutschen Hohen Hauses für seine Mitglieder planerisch genutzt werden. Ein anderer wichtiger übergeordneter Aspekt ist die Dauer der Fahrzeiten ab Stadtgrenze bis zu den diskutierten Bahnhofsstandorten, wobei zur Wahrung der polyzentrischen Stadtstruktur zu vorgegebenen Oberzentren je ein Fernbahnhof zugeordnet werden sollte. Eine natürliche Strukturkomponente ist die Vernetzung mit den bereits vorhandenen ÖPNV-Linien - je weniger Umsteigevorgänge, umso besser für das Rad-Schiene-System als Verbundreisemedium der Zukunft. Die kurvenreiche Stadtbahn nicht als Dauerlangsamfahrstelle für den Hochgeschwindigkeitsverkehr, sondern als S-Bahn- und Regionalbahntrasse - konzeptionell ist eine Umgehung möglich.
Aus den verkehrspolitisch engagierten Kreisen der AL kam erstmals die öffentliche Bekundung zur Notwendigkeit einer eisenbahntechnischen Nord-Süd-Durchquerung des Berliner Stadtraumes. Als Vorgabe werden lediglich zwei Punkte genannt: Im Norden der Bahnhof Gesundbrunnen, im Süden Berlins der S-Bf, Papestraße, Kreuzungspunkt der Anhaltischen Fernbahntrasse in Parallellage zur S-Bahn Sl und dem Berliner Süd-(Innen-)Ring. Die besondere Wirksamkeit dieses konzeptionellen Entwurfes liegt in der räumlich weitgreifenden Durchquerug des Stadtinnenraumes unter Inkaufnahme mehrerer Untervarianten in der Trassenführung. Die Spannweite umfaßt alle Verlaufsmöglichkeiten westlich des Potsdamer Platzes und kreiert einen Auftauchpunkt im südlichen Gleisdreieck, der dann von Ebene -2 (unter dem Landwehrkanal) auf Ebene +1 (über der Yorckstraße) planerisch anzusteuern ist. Die Kürze der verfügbaren Entfernungen bedingt eine ungewohnt steile Entwicklung der Gradiente (bis zu 3,0-3,5%). Ein positiver Aspekt liegt im Flächenvorrat im Bereich des Bahnhofsgeländes Gesundbrunnen.
Wenn die auf der Planung der Hochbahngesellschaft fußenden Varianten schon im Jahre 1909 an einer möglichst kurzen Unterquerung des Innenbereiches interessiert waren, dann profitiert diese Variante von jener betagten Erkenntnis. Sie ist mit 2 km die kürzeste Verbindung der obengenannten zwei innerstädtischen Punkte. Als Nachteil kann die bestehende Überfüllung des Bereiches um den Westrand des Potsdamer Platzes mit der Anlagen von U2 und S1 angeführt werden. Ein weiteres Ausweichen in Richtung Westen wird durch die Interessenlage von Daimler-Benz zwischen Link- und neuer Potsdamer Straße begrenzt, die westlich von der Baumasse der Staatsbibliothek flankiert wird. Im weiteren Verlauf ergeben sich für die dort befindlichen Anlieger zahlreiche Einspruchsmöglichkeiten, besonders in südlicher Richtung durch die anhörpflichtigen Betroffenen. Die sich einem Planfeststellungsbeschluß entgegenstellenden Einspruchsmöglichkeiten können zu jahrelangen Verzögerungen führen.
Diese Variante bemüht sich darum, die Nachteile der 2. Variante zu vermeiden, ohne auf einige der 4. Variante zu verzichten. Die Lage des Lehrter Bahnhofs wird nördlich der Stadtbahnbögen vorgesehen, die Trasse unterquert in einem nach Süden ausweichenden S-Bogen die Spree und nähert sich in einer Untervariante dem Potsdamer Platz, ohne einen Halt einzulegen, und unterquert danach den Landwehrkanal. Der Auftauchpunkt wird über eine unverhältnismäßig steile Rampe noch nördlich der Yorckstraße angepeilt, um danach in einen hier zwischen S1, S2 und U7 sich erstreckenden Oberflächenbahnhof einzumünden, - Eine andere Untervariante berührt und hält am Potsdamer Platz, allerdings wegen der Platzenge in Gestalt eines Haltepunktes, mit naheliegenden Übergangsmöglichkeiten zur S1 und Wiederaufzubauenden U2, die in dem Verbindungsstück zum Hochbahnhof im Gleisdreieck bislang von der 1,6 km langen M-Bahn-Referenzstrecke belegt wird. - Südlich des Landwehrkanals werden Postbahnhof und Freianlagen des Museums für Verkehr und Technik geschickt umgangen.
Als betrieblich nicht ganz unproblematisch muß die weitere Trassenführung zwischen Landwehrkanal und Yorckstraße angesehen werden, da einmal der Höhenunterschied von Ebene -2 (unter dem Landwehrkanal) zur Ebene +1 (über die Yorckstraße) überwunden werden muß, und dabei wegen der kurzen räumlichen Entwicklungslänge die Gradiente ein Steigungsmaß von 3,0-4,0% erreicht; zum andern gilt es vor Erreichen der Yorckstraße, die S 1 und 2, die hier bereits auseinanderdriften, in Ebene +1 an die Fernbahn anzubinden und außerdem in Ebene -l die diagonal den Anlagenkomplex unterschneidende U-Bahn-Linie U7 einzubeziehen. Es sollte auch bedacht werden, daß InterCity-Expreß-Züge in der in Auftrag gegebenen Fahrzeugkombination von zwei Triebköpfen und 14 Zwischenwagen mit einer Wagenlånge von 26,4 m ("LÜP") eine Zuglänge von ca. 420 m erreichen werden und dazugehörige Bahnsteige dann eine in der Horizontalen verlaufende Ausdehung von mindestens korrespondierender Länge haben sollten. - Verwunderlich erscheint noch eine Unterlassung beim Entwurf des Lehrter Bahnhofes, dessen südliche Bahnsteigköpfe der Kongresshalle zugewendet sind, während es sinnvoller wäre, der Nähe zum Reichstag den Vorrang zu geben.
Die Variante 4 bietet eine Aufgabenteilung zwischen dem Lehrter Bahnhof als Tor zum Nordwesten und dem Anhalter Bahnhof als Tor zum Süden - entsprechend der polyzentrischen Stadtstruktur Berlins. Eine von den Fachleuten der Verkehrsplanung noch nicht ausreichend in ihrem Ideengehalt verifizierte zusätzliche Ausbaumöglichkeit als Ferperspektive ist die unterirdische Verbindung mit Berlins Tor nach dem Osten - in der vorletzten Namensgebung als “Ostbahnhof" funktionsgemäß zutreffend bezeichnet.
Der Lehrter Bf. bietet zudem noch eine innere Unterteilung in den bereits bestehenden und aktiv genutzten Güterbereich - er beinhaltet in Parallellage zu Berlins Nord-Süd-Straßenachse das einzige Container-Terminal in der westlichen Stadthälfte. Die östlich der 2 km langen Heidestraße gelegenen Doppelachsen der ebenso langgestreckten Güterschuppen mit Gleisanschluß werden zum Leidwesen aller Ökologen nicht per Schiene, sondern per Straße gefüllt und geleert (dezentral strukturiertes Spediteurs- Verteilzentrum).
Auch der Anhalter Bf. verfügt südlich des Landwehrkanals entlang der Möckernstraße über zwei etwa 500 m lange Güterschuppenachsen, die in analoger Weise von Spediteuren angemietet und als Verteilzentren mittels Straßengüterverkehr betrieben werden (von wenigen Wagenladungsverkehren über die ebenfalls aktive Schienenanbindung abgesehen). Es muß allerdings aus sachlicher Kenntnis der Zusammenhänge angemerkt werden, daß das im markt-wirtschaftlichen Kaufmannswarenverkehr unentbehrliche Erfordemis nach einem raschen Warenumschlag (Stichwort “Just in time“) bei grotesker Verzerrung der Transportzeiten auf der Schiene zum Vorteil der Straße eine andere Bewirtschaftung untragbar werden ließ. Die maßgebliche Ursache war bis zum 9.11.1989 die überzogene sicherheitspolizeiliche Abfertigungsprozedur und die nachrangige Beförderung der West-Güterwagen auf den heruntergewirtschafteten West- und Süd-westmagistralen des DDR-Schienennetzes 4 Stunden Straßentransport zwischen Drewitz und Helmstedt standen 4 Tage auf der Schiene zwischen Seelze und Seddin gegenüber.
Nach diesem Exkurs über die bemerkenswerte Nähe von Ortsgüteranlagen zu den Verbrauchenentren - die von der maßgebenden Planungsinstanz des West-Berliner Senats ebenso beurteilt wird - nun zur Anbindung des ÖPNV. Der Lehner Bf verfügt über die sehr wichtige und sehr schnelle S-Bahn-Anbindung in Ebene +1 auf der Ost-West-Magistrale der Stadtbahn. Früher von erheblicher Bedeutung war der Vorortverkehr nach dem Westen und Nordwesten (Dampfbetrieb bis zur Einstellung 1952). In Planung befindlich ist eine unterirdische Vollendung der Linie S2 ab Potsdamer in Richtung Lehrter und weiter zum Nordring mit Einbindung in Höhe Putlitzstraße. Es gab auch schon Stimmen, die eine Verlängerung über Putlitzstraße bis in den Innenhof des Flughafens Tegel (Tieflage) in Erwägung zogen. Der Anhalter Bf. ist bei geeigneter Planung auf Grund seiner Nord-Südlage ein idealer Verknüpfungspunkt zwischen Fern- und S-Bahn, sobald die Fernbahn in Tieflage an die parallelliegende S-Bahn herangeführt wird. Ebenengleiches Umsteigen in die S1 und die S2 ist infolge bestehender, starkfrequentiener Verbindungen bequem möglich. Am Südkopf quert die U7 in Ebene -1,2 eine in Tieflage befindliche Fernbahn, darüber in Ebene +2 fährt die ebenfalls starkfrequentierte U1, die durch Rolltreppen oder großräumig Lifte in dichter Folge (Paris, Centre Pompidou) verknüpft werden könnte.
Ein weiterer, im Hinblick auf die betrieblichen Belange des Mischbetriebes von ICE-, IC- und IR-Zuggarnituren wichtiger Vorteil der Variante 4 ist eine Trassierung, die in allen Rampenbereichen eine Steigung von weniger als 0,8% technisch zuläßt. Im Gegensatz dazu wird es bei der Variante 3 an den oben beschriebenen Stellen, wie auch zwischen dem Südkopf des Lehrter Bahnhofs und dem Landwehrkanalboden sehr eng. - Die früher einmal sehr bedeutsame enge innerbetriebliche Verknüpfung zwischen dem Anhalter Bf. und dem Briefpostamt “SW 11” an der Möckernstraße sowie dem Paketpostamt “SW 77" an der Luckenwalder Straße, seinerzeit mit den modernsten Sortieranlagen in mechanisierter Fördertechnik ausgerüstet, erhoben Berlin zu einer Kultstätte der Kommunikation - eine neue Bundesbahnstrategie entkoppelt in einem Großprojekt soeben den Kleingütverkehr von dem schnellen Personenverkehr, um die - angeblich permanenten - IC-Verspätungen durch die Old-time-Umschlagvorgänge an den Post- und Packwagen abzustellen. Es gibt Kritiker dieser Vorgehensweise und Verfahrensvorschläge, die den Berliner Verkehrsbedürfnissen durchaus in einem Pilotprojekt wieder Geltung zu verschaffen vermöchten, und auch die Bundespost übt Kritik an der jetzigen "Neuerung".
Ein in der Planungsdiskussion der vergangenen Jahre, aber auch in den fachbezogenen Erörterungen der jüngeren Zeit unterdrückter Gesichtspunkt ist die stadtplanerische Einbeziehung von Verkehrsanlagen in das historische Stadtbild und ihre Einbettung in die gewachsenen und durch frühere Generationen gestalteten Standorte. Wenn auch die bauhistorischen und stadtplanerischen Experten des Urhebers der Variante 4, der Förderverein Anhalter und Lehrter Bahnhof Berlin, eine gewisse Meinungsführerschaft erreicht haben, so hat dies unabhängig davon zur Folge, daß sich auch in den anderen Bürgerinitiativen und Planungsgruppen, die sich aus östlicher Provenienz zu Worte melden, mehr und deutlich vernehmbarer die Meinung nach Bewahrung vorhandener und behutsamer Wiedererstellung “ausradierter" Bausubstanz kundtut. Die von dem Schriftsteller und über die Grenzen der Stadt bekannten Feuilletonisten Wolf Jobst Siedler beklagte “gemordete Stadt" ist immer noch viel mehr als nur eine Baugrube, in welcher zwei (und nunmehr 3,4) Millionen Menschen leben. Neue Bauwerke sollten in bestehende Bauensembles eingefügt werden, sie dürfen nicht zum stilbrechenden Selbstzweck werden.
Orte, an welchen viele Menschen zusammenkommen und wieder auseinandergehen, sollten innerhalb eines Gemeinwesens über leistungsfähige Straßenanbindungen verfügen. Bahnhöfe sollten nicht ohne einen zwingenden Grund aus dem historisch gewachsenen Straßennetz herausgerissen und an andere beliebige, nur durch technokratische Gegebenheiten zufälliger Faktorenkombinationen geprägte kommunale “Betriebsstätten” umgepflanzt werden dürfen. Hinzu kommt das Erfordernis der stadtbildprägenden Identität historischer Fassaden und ihrer die Baufluchten bestimmenden Traufenhöhen.
Der Stadt- und Verkehrsraum nördlich des Landwehrkanals zwischen Möckern- und Schöneberger Straße ist in dieser Weise in ein historisch gewachsenes Straßennetz eingebettet und bedarf im Vergleich zu einem nordwestlich der Yorckbrücken gelegenen verkehrlich unerschlossenen Gelände keiner weiteren infrastukurellen Aufbereitung. Die stadtgeogaphisch vorgegebene 8-spurige Kanaluferstraße zu beiden Seiten des Landwehrkanals gebietet die Beibehaltung des Standortes eines Fernbahnhofes, der durch die historisch gewachsene Einbettung in vier ÖPNV-Linien an diesen Ort fixiert ist.
Die einzige Vergleichsmöglichkeit bietet die Variante 4 unter Berücksichtigung der Option zwischen Anhalter und Ostbahnhof. Alle anderen Varianten bedienen nur Teilstrecken, für die zum gegenwärtigen Zeitpunkt Vergleichsmöglichkeiten nicht bestehen. (Die Ein- und Ausfahrpunkte G riebnitzsee - Erkner (Großberlin) und der Plan-Variante 4 Staaken über Lehrter, Anhalter und Ostbahnhof nach Erkner s. Abb. 16).
Es wurden die gegenwärtigen fahrplanmäßigen Ankunftzeiten des IR-/D 359 mit Kurswagen aus Basel eingesetzt und mit einer Ausfahrgeschwindigkeit von 100 km/h ohne Halt am Ausfahrpunkt Erkner ergänzt, d.h. bis Ostbahnhof entsprechen die Zeiten exakt dem am 22.9.1990 geltenden Fahrplan. Die Zeiten eines InterCity-Express wurden nach Auskünften der mit der Planung befaßten Stellen errechnet, wobei die Entfernung Staaken - Beusselstraße mit 160 km/h in Beharrungsfahrt, die Entfernung Beusselstraße - Putlitzbrücke in Verzögerungsfahrt auf 60 km/h und die Einfahrt in den Lehrter Bf, als Verzögerungsfahrt mit Punktzielbremsung ermittelt wurde. Der Aufenthalt in den Bahnhöfen Lehrter, Anhalter-Nordkurve und Ostbahnhof wurde entsprechend den Aufenthaltszeiten der IC-Fahrpläne mit vier Minuten angesetzt. Die Ausfahrgeschwindigkeit aus dem Stadtraum Großberlin am Ausfahrpunkt Erkner beträgt - analog der Einfahrgeschwindigkeit - 1600 km/h. Eine Beschleunigung auf die ICE-Plangeschwindigkeit von 250 km/h findet also erst nach Passieren der Stadtgrenze von Großberlin statt. Die Einsparung an Reisaeit mit 60 Minuten bei 52 km wirkt maßstabssetzend. Führt man den ICE über die Stadtbahn, bringt dies lediglich Einsparungen von 30 Minuten.
Im ersten Teil wurde entwurfsweise ein Schema mit Anforderungen an die Tunnelvarianten aufgestellt. Es soll nun versucht werden, aus den vorangegangenen Beschreibungen eine Darstellung der Eigenschaften zur Lösung der verkehrlichen und städtebaulichen Anforderungen zu entwickeln und auch die finanziellen Mittel für die Bauvorhaben einzubeziehen. Dabei kommt erschwerend hinzu, daß die Schnittstellen zwischen den Vorhaben eines ökologischen Stadtumbaus und den hier betrachteten Vorhaben nicht leicht zu bestimmen sind. Um ein Beispiel zu nennen: Die - nicht unmittelbar einsichtige - Verlagerung einer Schienenfernverkehrsanlage vom Standort Askanischer Platz zum Standort Großgörschen-/Yorckstraße dürfte an infrastrukturellen Maßnahmen des Umbaus eines umfangreichen Quartiers im südlichen Gleisdreieck allein eine halbe Milliarde verschlingen - wobei unbeantwortet bleibt, worin der Nutzen der Verknüpfung von drei Linien des ÖPNV an der Yorckstraße gegenüber der Verbindung von vier Linien des ÖPNV am Landwehrkanal zu sehen ist. Fehlende Plausibilität ruft nach objektivierender Transparenz.
Bei Verdichtung der Angaben in Abb. 17 ergibt sich hinsichtlich der Eignung der Varianten für den vorgesehenen Zweck die in Abb. 18 angegebene Rangfolge. Von der Gewichtung gemeinsamer Eigenschaften - wie Verzicht auf zentrale Funktionen, überregionale Einbindungen usw. - wurde abgesehen.
Der Versuch einer Quantifizierung berücksichtigt vorhandene oder verifizierte Gegebenheiten mit 1 Punkt, mögliche oder durch planerische Maßnahmen herbeiführbare Eigenschaften mit 0,5 Punkten und nicht vorgesehene oder baulich unmögliche mit 0 Punkten. Unter "baulich unmöglich" werden hier Baumaßnahmen verstanden, die in einem erheblichen Umfang oder gänzlich unwirtschaftlich sind.
Auch ohne die verdeutlichende Punkteliste wird jedoch erkennbar, daß der Variante 4 als eine Folge ihrer historisch begünstigten Lage und der Linienführung der Stadtbahn in Tieflage parallel zur S-Bahn - diese von zwei Linien befahren, eine weitere in der Planung - eine hervorgehobene Deutung zufällt. Ihr folgt die Vanante 3 gewissermaßen auf den Schienen des ÖPNV. Die Variante 2 besitzt ein gewisses Handicap ihrer westlichen Vorbeiführung am Potsdamer Platz, wobei selbst bei schmalster Anordnung eine zumindest teilweise Unterfahrung des von Daimler-Benz beanspruchten Areals nahezu unvermeidbar ist. Die Variante 1 kann dagegen -in unterschiedlicher Ausbildung einiger Subvarianten - wahlweise in die Variante 3 oder 4 einbezogen werden.
Diese Fragen sollten von der Überlegung einer längerfristigen und generationenbezogenen Perspektive ausgehen und nicht so sehr den augenblicklichen Stand der Staatsfinanzen als Popanz aufzeigen - ginge es allein danach, träte übermorgen der finanzielle Kältetod, Bruder des prophezeiten Wärmetodes und Vollender der kosmischen Entropie, ein. Doch zum Glück meldet das kürzlich als vorgeschobener Beobachter der Menschheit in eine Umlaufbahn um die Erde beförderte Hubble-Teleskop, daß es in einigen Ecken des Universums erst gerade so richtig los geht - und damit kann die aufwühlende Frage junger Menschen unserer Zeit, ob wir überhaupt noch eine Eisenbahn oder gar einen Tunnel in unserer Stadt und dazu noch alle möglichen Bauwerke benötigen, wo doch die Bahn schon so viel "kostet", schlicht mit JA beantwortet werden.
Zur Sache selbst ist zu bemerken, daß auch skeptische Planungen in dieser Stadt von rasch zunehmenden Passagierzahlen ausgehen und zur Nutzung dieses Marktpotentials Maßnahmen eiligst geboten sind.
In Analogie zur Streckengliederung in Kapital 5, Abschnitt 5.1, ergeben sich - in Abhängigkeit von der jeweiligen Ausbaustufe - folgende Planschätzgrößen für den Finanzbedarf “Rohausbau bis Planum” ohne Gleisverlegung und ohne Elektrifzierung, jeweils Standardspezifikation vorausgesetzt. Als Bautechnologie wird bei der Deutschen Bundesbahn - der mutmaßlichen Bauherrin und Eigentümerin der Trassen nach Beendigung der Alliierten Vorbehaltsrechte ab 3.10.90 - die langjährig im Wasserkraftwerksbau erprobte “Neue Österreichische Tunnelbauweise“ (NÖT) zur Anwendung gelangen. Eine Alternative dazu stellt das Schildvortriebsverfahren dar, welches beim Bau des Eurotunnels zum Einsatz gelag. NÖT hat eine in Abhängigkeit von der Gesteinsdichte und der Wasserführung variierende Vortriebsleistung von 5 bis 13 m je Tag bei einem Tunnelquerschnitt von 104 qm im geraden und 145 qm im gekrümmten Doppelgleis.
Die unter Hoheit der Bundesbahn angefallenen Baukosten je Tunnel-km liegen erheblich unter den in Berlin heim U-Bahn-Bau üblichen.
In der hier erstellten Kostenübersicht wurde von den am Standort Berlin derzeit geltenden Kalkulationen des U-Bahn-Baus ausgegangen, wobei zu bemerken ist, daß die U-Bahn-Querschnitte enger sind, obwohl sich die Baukosten umgekehrt proportional verhalten. Sie wurden mit einem Standard-Durchschnittswert von 160 Mio. DM pro km in die Kalkulation auf der Basis der ermittelten Streckenlängen eingesetzt. Die Streckenanteile bei offener Rampe in Trogform wurden dabei mit 50% des Vollaushubes veranschlagt, die Streckenteile auf Ebene 0 in offener Bauweise mit 10 Millionen DM /km. Näherungsweise kann bei baulicher Realisierung der Gradiente in Rampenfühnıngen mit 2,5% Steigung von ca. 350 m Auftauchlänge je Ebene bei einer durchschnittlichen Planhöhe von 8 m ausgegangen werden, Bei der bei der Bundesbahn üblichen und bevorzugten Steigung von nur 1,25% ist mit einer Auftauchlänge von ca. 700 m je Ebene zu rechnen. Die Baukosten für solche Teilabschnitte wurden mit 80 Millionen DM/km veranschlagt. Bei den Stammstrecken jeder Variante wurden diese Kostenminderungen in der Teilsumme 1 be- rücksichtigt, bei den anderen (Ergänzungs-) Teilstrecken einzeln ausgewiesen (Abb. 0). In Abb. 21 werden die Kilometer-Kosten im internationalen Vergleich genannt, wobei durch ebene Strecken die Kosten der Brückenbauwerke und Tunnelabschnitte nivelliert, das heißt nach unten gezogen werden. Insofern ist ein direkter Vergleich nicht möglich.
Grundlage auch einer langfristigen Investition sollte ihre Wirtschaftlichkeit sein. Anlagen des Verkehrs erfüllen in der Regel mehrere Zwecke, und die Jahrzehnte währende Unterdeckung bei nahezu allen Bahnverwaltungen hat zu Erweiterungen und Vertiefungen der Theorie geführt, um über die Rentabilitätsberechnungen der betriebswirtschaftlichen Einsatzfaktoren hinaus auch die volkswirtschaftlichen und umweltwirtschaftlichen Einflußgrößen in quantifizierende Betrachtungen einbeziehen zu können.
Kern der Analyse bleiben zunächst die einzelwirtschaftlichen Daten. Im Personenfernverkehr sind dies die Leistungskennzahlen der Personen-km, und sie sind direkt proponional den beförderten Passagieren, wenn die Randgrößen des Gepäckverkehrs unberücksichtigt bleiben - jeder Passagier darf ohnehin Objekte, die er in zwei Händen tragen kann, als mit der Fahrkarte bezahlt betrachten. Prognosen gehen inzwischen von einem Anwachsen der Passagierströme von und nach Berlin in Größenordnungen von 30 bis 40 Mio./Jahr bis 2010 aus.
Diese Passagierzahlen pro Jahr erscheinen aus heutiger Sicht sehr hoch, sind jedoch plausibel, wenn man einen 20-jährigen Zeitraum zugrundelegt, in welchem sich der Reiseverkehr von und nach Berlin allmählich wieder auf die Schiene zurückverlagern wird. Eine Busreise von München oder Stuttgart oder Frankfurt am Main war sicherlich in den schweren Zeiten der Teilung ein begrüßenswerter Ersatz für die fehlenden oder unzulänglichen oder auch relativ teueren anderen Verkehrsmittel. Bei Einführung des ICE-Verkehrs schrumpfen jedoch die Reisezeiten von 12 Stunden im relativ engen Bus auf 4 Stunden in einem bequem ausgestatteten ICE-Wagen, in dem man sich während der Fahrt frei bewegen und Speise- oder Bistro-Wagen aufsuchen kann. Auch ein Flug wird darm nicht sehr viel schneller vonstatten gehen, wenn man ehrlicherweise die Anmarschwege und Wartezeiten vor dem Abflug und die Umsteigewege vom Flugzeug in den Vorfeldbus und wieder hinaus zum Gepäckband und weiter mit dem Gepäck zur Taxe und dann im Verkehrsstau über die Stadtautobahn zum Hotel einmal zusammenzählt. Die Fahrkarte wird dann etwas teurer sein, als der Busfahrschein über Land, aber nicht teurer als 25% der Flugkarte.
Zwei Beispiele mögen die Prognose untermauern: Im Hauptbahrthof Frankfurt am Main werden werktäglich 150.000 Passagiere gezählt. An fünf Werktagen sind dies 750.000, im Monatsdurchschnitt drei Millionen, im Jahr 36 Mio, Passagiere. Im Vergleich dazu werden auf dem Frankfurter Flughafen, Nr. 2 in Europa, 1990 rund 25 Mio. gezählt werden. Berlin zählte vor dem Kriege allein im Schienenfernverkehr 100 Mio. Reisende im Jahr.
Zur Rentabilität des Fernreiseverkehrs bei den Französischen Staatsbahnen (SNCF) auf der vom TGV befahrenen Route Paris - Lyon ist festzustellen, daß die Schnelligkeit der Amortisation des eingesetzten Kapitals alle Erwartungen übertroffen hat und fünf Jahre vor dem günstigsten Zeitpunkt die Tilgung beendet werden konnte. Es herrscht die erfreuliche Situation, daß mit dem zurückgewonnenen Geld bereits die Route Transatlantique vorfinanziert werden konnte und nun die Überschüsse der Paris-Lyon-Marseille-Relation die Amortisation der Route nach Bordeaux wirksam in Gang setzen und abermals beschleunigen werden. Die Flugroute Paris - Lyon dagegen ist stark rückläufig.
Der Stein ist ins Rollen gekommen, Endlich scheint auch in Berlin Eisenbahnplanung als Zukunftsaufgabe begriffen zu werden. Wenn dieser Aufsatz als Beitrag zur Erörtenrung der Zukunftsplanung erscheint, dann stehen allerorten Diskussionweranstaltungen bevor. So hat der Magistrat von Ost-Berlin mit Unterstützung des Senats von West-Berlin einen Planungskongreß zum 24. und 25. Oktober d.J. im Berliner Congress-Center am Märkischen Ufer einbenrufen, an dem 350 Architekten und Planer teilnehmen werden. Während des Symposiums werden Entwicklungsmodelle für Berlin vorgestellt, die während einer Tagung im Bauhaus Dessau von Planern und Architekten erarbeitet worden sind. Bereits am 20. Oktober d.J. findet ein Schienenverkehrsforum der SPD im ehemaligen Hamburger Bahnhof statt (13.00 bis 17.00 Uhr). Und nach dem Ost-Berliner Symposium soll bereits zwei Tage später ein Colloquium der Senatsverwaltung für Arbeit, Verkehr und Betriebe im Logenhaus in der Emser Straße stattfinden, das vom Fortbildungszentrum Gesundheits- und Umweltschutz e.V. (FGU) durchgeführt wird in Zusammenwirkun mit der Magistratsverwaltung für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr in Ost-Berlin. Über die Ergebnisse soll hier berichtet werden.
Norbert Krichler
aus SIGNAL 7/1990 (Oktober 1990), Seite 14-21