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InterCity in Berlin: Mit System gegen die Fahrgastbedürfnisse

Ab 2. Juni 1991 ist es soweit - 17 lnterCity-Paare werden Berlin mit dem DB-Netz verbinden. Der IC ist aber nicht nur ein Zug, sondern ein System. Und für dieses System gilt, daß mit Ausnahme von wichtigen Eisenbahnknoten oder Orten von überragender touristischer Bedeutung nur Städte mit über 100.000 Einwohnern durch InterCity-Züge angefahren werden. Deshalb wollten DB und DR in Eisenach ursprünglich durchfahren, weil die Stadt nur rund 50.000 Einwohner hat, anerkannten aber schließlich doch das Argument von jährlich über 3 Mio. Besuchern in der Wartburg-Stadt. Viel älter ist der Streit um die IC-Halte in München-Pasing und Hamburg-Harburg. Hier wurde deutlich, daß die DB selbst in Millionenstädten nicht mehr als einen IC-Bahnhof akzeptieren will. Genau dieses Problem hat nun auch Berlin. Auf der Abschußliste der IC-System-Bewahrer stehen zunächst Wannsee und Friedrichstraße, Spandau soll folgen. Ist erst der Zentralbahnhof im Tiergarten gebaut, werden sicher - entgegen den derzeitigen Beteuerungen des Berliner Senats - auch alle anderen Bahnhöfe als IC-Halte entfallen.


IGEB

1. Apr 1991

DB-Chef Dürr und DR-Chef Klemm haben sich entschieden, den IC weder in den Bahnhöfen Berlin Friedrichstraße noch Berlin-Wannsee und möglichst bald auch nicht mehr in Berlin-Spandau halten zu lassen. Lediglich die Bahnhöfe Berlin Zoologischer Garten und Berlin Hbf sollen den Qualitätsverkehr behalten. Der geplante Verzicht auf einen IC-Halt in Wannsee wurde schon vor einigen Monaten bekannt und löste eine intensive Diskussion aus. Die bisher in Wannsee ein- und aussteigenden Reisenden werden dabei auf den Bahnhof Potsdam Stadt verwiesen. Dieser ist jedoch noch nicht in den vertakteten S-Bahn-Verkehr eingebunden. Deshalb forderten Fahrgäste und Politiker wiederholt, den Bahnhof Wannsee wenigstens so lange zu bedienen, bis die S-Bahn-Züge nicht mehr in Wannsee enden, sondern wieder nach Potsdam Stadt durchfahren.

Doch es gibt noch mehr Argumente gegen die Entscheidung von DB und DR. Deshalb schrieb die IGEB an Hernn Klemm, äußerte dabei ihre Enttäuschung über den Verzicht auf einen IC-Halt in Berlin-Wannsee und bedauerte, daß hier - im Gegensatz zu zahlreichen anderen Problemen - kein Austausch zwischen DR und Fahrgastverbänden stattfand, der es ermöglicht hätte, noch einmal alle Argumente zu erörtern.

In dem Schreiben kritisierte die IGEB, daß bei der Entscheidung gegen Wannsee und Friedrichstraße das System über die Fahrgastbedürfnisse gestellt wurde. “Wir meinen", heißt es in dem Appell, “daß zum IC-Komfort nicht nur das Produkt selbst, sondern auch die Erreichbarkeit und der Zustand der IC-Bahnhöfe gehören." Wie vor allem die Zehlendorfer Politiker, so kritisierte auch die IGEB, daß es den Berlinern aus dem Südwesten der Stadt nicht zuzumuten sei, mit den nur stündlich verkehrenden Regionalzügen bis zu 50 Minuten vor Abfahrt des IC nach Potsdam zu fahren.

Potsdam Stadt, ab 2.Juni IC-Halt nicht nur für Potsdam, sondern auch für den Berliner Südwesten. Fahrgastservice? Rechts sehen Sie den Warteraum. Foto: G. Radke
Foto: DR-Bildstelle
Berlin auf dem Weg zum Zentralbahnhof. Nicht nur Wannsee ist davon betroffen. Ab Fahrplanwechsel soll Berlin Friedrichstraße (Bild oben) kein IC-Halt mehr sein, und zukünftig soll auch auf Berlin-Spandau verzichtet werde. Doch der Widerstand gegen diese Bahnpolitik wächst. Foto: DR-Bildstelle

Daß Potsdam als Landeshauststadt einen IC-Halt erhält, ist legitim. Der Bahnhof Potsdam Stadt ist allerdings nur für die Reisenden zumutbar, die mit ÖPNV oder Taxi kurz vor Abfahrt des Zuges anreisen können. Für andere Aufgaben, wie z.B. das Umsteigen vom Regional- auf den IC-Verkehr, ist Potsdam Stadt jedoch ungeeignet, nicht nur wegen der schlechten Erreichbarkeit. Denn der Bahnhof besitzt keinerlei Infrastruktur, die man schon bei einem “normalen” Fernbahnhof und erst recht bei einem IC-Bahnhof erwarten darf. Der einzige Raum für Fahrgäste ist die Toilette, wenn man mal vom Warteraum absieht, der sich in einem ausgedienten Dreiachser befindet Die Fahrkartenausgabe befindet sich im Freien, und die Bahnhofsgastronomie bleibt ein Wunschtraum. Mit diesem Bahnhof diskreditieren die Bahnen Ihr Top-Produkt IC/EC selbst, ganz abgesehen davon, daß es Abwanderungen von der Bahn bei Reisenden aus dem Berliner Südwesten geben wird. Denn es ist nicht mehr zumutbar, die Reisenden auf den Bahnhof Zoo zu verweisen. Dieser hat seine Kapazitätsgrenze erreicht und ist für eine Metropole wie Berlin zu klein.

Es ist eine Binsenweisheit, daß Hindernisfahrten durch mehrmaliges Umsteigen bis zum Erreichen des Zuges, auch und gerade eines Qualitätszuges, die Akzeptanz der Bahn mindern. Dagegen wird das häufigere Halten in wichtigen Zielgebieten, erst recht, wenn sie am Anfang bzw. Ende eines Zuglaufes liegen, von den Reisenden eher als Qualität denn als lästig empfunden. Zum Beispiel begeben sich Reisende, die im Bf. Zoo aussteigen wollen, bereits in Wannsee auf die Gänge. Diese Fahrt wird schon gar nicht mehr als Reise empfunden. Im Ruhrgebiet z.B. wird auf häufiges Halten nicht verzichtet, obgleich die IC-Städte dort untereinander durch den ÖPNV vernetzt sind. Dort mutet man den Durchreisenden also das zu, was man den Berlinern durch einen Verzicht auf Wannsee "ersparen" möchte.

Die statistische Begründung “zu geringe Einsteigerzahlen", die gegen den Halt in Wannsee angeführt wird, ist schlicht unseriös, denn es könnten viel mehr sein. Jetzt werden die Reisenden für etwas zur Verantwortung gezogen, das die Bahn verursacht und zu vertreten hat: Die Fahrkartenausgabe in Wannsee ist weitgehend unqualifiziert, gemessen an den Bedürfnissen. Zur Erlangung bestimmter Leistungen werden die Reisenden an den Bahnhof Zoo oder das Verkaufs- und Informationsbüro in Steglitz, das nur tagsüber geöffnet ist, verwiesen. Zu den Tagesrandzeiten, in denen in Wannsee die meisten Reisenden zusteigen, ist der Fahrkartenschalter geschlossen. Auch die Bahnhofsgastronomie und die Toiletten sind ab 20 Uhr zu. Insbesondere Spontan-Reisende sind dadurch gezwungen, andere Bahnhöfe anzufahren.

Die gegenüber den Einsteigerzahlen deutlich höheren Aussteigerzahlen in Wannsee zeigen aber den tatsächlichen Bedarf für diesen Fernbahnhalt. Durch organisatorische Maßnahmen wären die geschilderten Unzulänglichkeiten rasch zu beheben und damit auch höhere Einsteiger-zahlen zu erwarten.

Erst, wenn Potsdam endlich wieder an die Berliner S-Bahn angeschlossen ist und wenn in Potsdam Stadt ein Service geboten wird, der einem IC-Bahnhof würdig ist, wäre auch für die IGEB ein Verzicht auf den IC-Halt in Wannsee vorstellbar. Anders sieht es beim Bahnhof Friedrichstraße aus: Das beabsichtigte Durchfahren der IC-Züge ab Juni ist für die IGEB nicht hinnehmbar. Auch hier diskreditiert die Bahn ihren eigenen Slogan “Mit der Bahn ins Herz der Städte". Wo sonst fährt die Bahn direkt zum Boulevard? Auch der optimale Anschluß an die Nord-Süd-S-Bahn und die U-Bahn-Linie 6 sprechen eindeutlich für einen IC-Halt. Verwiesen sei auch auf die Hamburger Stadtbahn mit drei IC-Halten!

Deutsche Reichsbahn und Berliner Fahrgastverbände haben in den vergangenen zehn Jahren viel getan, um die Berliner auf die Bahn zu holen bzw. dort zu halten. Warum sollen die Fahrgäste jetzt durch engstirniges Durchboxen von DB-Systemvorgaben wieder vertrieben werden?

IGEB

aus SIGNAL 3/1991 (April 1991), Seite 4-5