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Optimierter Reisekomfort durch Festformsessel


Jan Gympel

20. Dez 2012

Früher, als bekanntlich alles schlechter war, war bei Bahnen die 3. Klasse leicht an einem Merkmal zu erkennen: ungepolsterte Sitze. Wer arm – oder auch nur geizig – war, hatte halt auf nacktem Holz Platz zu nehmen.

Heute, wo bekanntlich alles besser ist, gibt es solche Separation nach dem Geldbeutel bei der BVG nicht mehr: In der Berliner U-Bahn hat künftig jeder mit ungepolsterten Sitzen vorlieb zu nehmen, einerlei, ob er Stamm- oder Gelegenheitskunde ist, zum normalen, ermäßigten oder etwa nur zum Kurzstreckentarif fährt.

Die Einführung harter Sitze bleibt jedoch ein inkonsequenter Schritt, wenn er nicht geschickt verkauft wird. Wobei die erste Regel ist: Gute Reklame und Öffentlichkeitsarbeit deutet eine jede Verschlechterung zu einer Verbesserung um. Das fängt schon bei den

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Vokabeln an: „Hartschalensitze“ geht ja nun gar nicht. „Plastiksitze“ ist mindestens genauso schlimm – so sehr unsere Gesellschaft auf Kunststoff angewiesen ist, so wenig schätzt sie ihn. Besser als „hart“ klingt „stabil“. Noch besser: „fest“. Das ist so schön doppeldeutig: Ein Fest, auf festen Sitzen zu sitzen! Aber: „Festsitze“ ist noch zu simpel. „Festform“ kommt besser. Und wenn wir sowieso schon dabei sind, sagen wir statt „Sitze“ lieber „Sessel“. Klingt viel bequemer. Zwar unterscheiden sich Sessel gerade durch ihre Polsterung von anderen Sitzgelegenheiten, aber wen kümmert denn Logik oder Ehrlichkeit, wenn es darum geht, etwas zu verkaufen – zumal eine Verschlechterung?

Im zeitgenössischen Wichtig-wichtig- Schwatz heißt Verbesserung bekanntlich „Optimierung“. Wir schreiben also: „Die BVG bietet bei der Berliner U-Bahn künftig optimierten Reisekomfort durch Festformsessel.“ Und dann sind die harten Dinger (zumindest die bislang bereits eingebauten) doch auch unten und hinten so vertieft – wo sich zuvor vier Leute auf eine Dreierbank quetschen konnten, ist nun die Zahl der Nutzer ebenso vorgegeben wie deren Abstand zueinander. Schreiben wir folglich weiter: „Statt auf instabilen Bänken können die Fahrgäste fortan auf ergonomisch an die Körperform angepassten Einzelsitzen Platz nehmen, deren auf den individuellen Nutzer zugeschnittene Gestaltung Konflikte über den angemessenen Abstand zwischen Sitznachbarn vermeidet und somit zur Reduzierung des großstädtischen Aggressionspotenzials beiträgt.“ – Nee, „Aggression“ ist nicht gut. Besser: „… einen wichtigen Beitrag leistet zur Befriedung des Großstadtalltags.“

Man braucht sich bei der BVG doch nur der legendären Nummer zu erinnern, als die zunehmende Demontage von (ohnehin oft und lange defekten) Rolltreppen verkauft wurde als fürsorgliche Maßnahme zur Eindämmung der allgegenwärtigen Thrombosegefahr – Motto: Treppensteigen ist ja so gesund!

Klar, gleich laufen wäre noch gesünder und empfiehlt sich ja auch oft, wenn „BVG“ wieder einmal treffend übersetzt werden kann mit „Bitte viel Geduld“. Aber wer denkt schon so weit? Da könnte man sich ja gleich fragen, wie es eigentlich zu den beklagten großen Vandalismusschäden – die als Argument für die Rückkehr zu einem Sitzkomfortniveau aus Kaisers Zeiten herhalten müssen – kommen kann, wenn doch inzwischen alles in der U-Bahn, auf den Stationen wie in den Wagen, flächendeckend durch Kameras überwacht wird? Bezüglich derer doch nicht nur Polizeigewerkschaftsfunktionäre, CDU-Wähler oder „BZ“-Leser glauben können, irgendwo würde irgendwer sitzen und ständig auf Dutzende Bildschirme starren, auf denen zu sehen ist, was die Hunderte von Kameras einfangen.

Als nächstes verzichten wir dann auf die Fenster in den U-Bahn-Wagen. Wegen der hohen Vandalismusschäden und so. Zumal die Beförderungsfälle ja an mangelnden Ausblick bereits gewöhnt sind, seit die BVG die Fenster mit Reklame oder großen Mustern zuklebt. Der Verkehrsbetrieb könnte auch plötzlich entdecken, welch immense Unfallgefahr von den Glasscheiben ausgeht. Sicherheit kommt immer gut. Und Schutz. Und deshalb nennen wir die Bleche, die künftig kostenoptimierend die Scheiben ersetzen werden: „Sichtschutzblenden“.

Jan Gympel

aus SIGNAL 6/2012 (Dezember 2012), Seite 4