Planung
Am 22. August 1991 hat die AG Straßenbahn, ein Zusammenschluß verschiedener Fahrgastverbände, Verkehrs- und Umweltinitiativen, das Straßenbahnkonzept Tra(u)mstadt Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Gleichzeitig hat die AG Straßenbahn Verkehrssenator Haase aufgefordert, das bestehende Berliner Straßenbahnnetz als wertvolles Potential zu begreifen und endlich die überfälligen verkehrspolitischen Entscheidungen zugunsten der Straßenbahn zu treffen. Ein modernes Straßenbahnsystem kann auch in Berlin zu einem elementaren Bestandteil einer neuen stadt- und umweltverträglichen Verkehrspolitik werden. Doch entgegen seiner Ankündigungen hat Senator Haase sein Konzept bis heute nicht abschließen können.
1. Sep 1991
Die Straßenbahn erlebt zur Zeit weltweit eine Renaissance. Überall werden die Vorteile der Straßenbahn wegen ihrer Stadt- und Umweltverträglichkeit, ihrer Attraktivität für Fahrgäste und besonders wegen ihrer niedrigen Bau- und Betriebskosten gerade auch im Vergleich zu U-Bahnen wiederentdeckt. Deutlich wird dies insbesondere an den Städten, die nach der Abschaffung der Straßenbahn vor einigen Jahrzehnten nun wieder neue Straßenbahnsysteme in Betrieb genommen haben oder dies planen. Im Konzepl der AG Straßenbahn wird dies an den Beispielen britischer Städte und am Beispiel von Los Angeles verdeutlicht.
Auch in Berlin kann die Straßenbahn einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung der wachsenden Verkehrsprobleme leisten. Das bestehende ca. 170 km lange Netz, von denen mehr als zwei Drittel schon heute auf eigenen Trassen verläuft, stellt ein wertvolles Potential für die Weiterentwicklung zu einem hochattraktiven, modernen Straßenbahnsystem dar. Für die Straßenbahn sprechen im einzelnen folgende Argumente:
Der bei Schienenfahrzeugen wegen des geringeren Rollwiderstandes ohnehin sehr niedrige Energieverbrauch wird durch den Einsatz von modernen Antriebssystemen weiter reduziert. So kann allein durch die Rückspeisung von Bremsenergie bis zu 30% an Energie gespart werden.
Trotz des ungünstigen Wirkungsgrades bei der Stromerzeugung produziert die Straßenbahn weniger Schadstoffe als jedes andere Verkehrsmittel (Ausnahme: Fahrräder!). Und diese Schadstoffe entstehen nicht im Wohngebiet, wo das Verkehrsmittel fährt, sondern dort, wo sich die Schadstoffe am leichtesten filtern lassen: im Kraftwerk. Die Straßenbahn fahrt vor Ort ohne Schadstoffemissionen.
Die Fahrzeug - und Gleisbautechniker haben die moderne Straßenbahn inzwischen so leise gemacht, daß sie auch auf diesem Gebiet nur noch das Fahrrad als Konkurrent fürchten muß. Insbesondere durch Einbau von Kunststoffschichten unter den Schienen und unter den Schwellen fahren in zahlreichen Städten die Straßenbahnen auch erschütterungsfrei durch dicht bebaute historische Ortskerne.
Eine moderne Straßenbahn sollte, um möglichst unbehindert vom Autoverkehr zu fahren, möglichst eine separate Trasse haben. In den meisten Fällen kann diese separate Trasse sogar durch ein Rasengleis begrünt werden. Das bestehende Berliner Straßenbahnnetz erlaubt den Einsatz von 2,20 bzw. 2,30 m breiten Fahrzeugen. Der von einigen Verkehrsplanern diskutierte Einsatz von 2,65 m breiten Fahrzeugen würde den Umbau praktisch des gesamten Netzes (Auseinanderziehen der Gleise) voraussetzen und an vielen Stellen die Straßenbahn überhaupt verhindern oder aber eine separate Trasse nicht oder nur sehr viel schwerer ermöglichen. Auch das Verkehrssystem Straßenbahn sollte sich der gewachsenen Stadt anpassen. Daher und aus finanziellen Gründen sollte an der jetzigen Fahrzeugbreite festgehalten werden. Im Konzept der AG werden für zahlreiche Straßen gestaltungsvorschläge unter Einbeziehung eigener Straßenbahntrassen gemacht.
Wenn es jedoch mal eng wird, kann die Straßenbahn auch problemlos im normalen Straßenplanum mitfahren. Durch entsprechende “Pförtnerschaltungen" an Ampeln kann selbst hier der Vorrang vor dem Autoverkehr gewahrt bleiben. Und wenn es nötig ist, kann eine Straßenbahn natürlich auch mal langsam fahren: In zahlreichen Städten fährt die Straßenbahn ohne Komplikationen durch die Fußgängerzonen. Die dabei reduzierte Fahrgeschwindigteit wird durch die Vorteile einer direkten Erreichbarkeit der zentralen Ortslagen und der problemlosen Zugänglichkeit der Haltestellen mehr als kompensiert. Hierfür bietet z.B. das Köpenicker Netz schon jetzt sehr gute Voraussetzungen.
Eine moderne Straßenbahn, die ganz oder überwiegend auf separaten Trassen geführt wird, fährt mit Reisegeschwindigkeiten von bis zu 30 km/h und erreicht damit fast die Größenordnungen der Reisegeschwindigkeiten von U-Bahnen. Durch den dichteren Haltestellenabstand und die direkte ebenerdige Zuagänglichkeit der Stationen sind mit der Straßenbahn auf vielen Strecken für die Fahrgäste sogar kürzere Reisezeiten als mit U-Bahnen zu erzielen. Im Konzept der AG wird am Beispiel der zu modernisierenden und geringfügig zu ergänzenden Straßenbahnstrecke über die Greifswalder Straße nach Weißensee verdeutlicht, daß die Straßenbahn dem Fahrgast sogar Reisezeitvorteile gegenüber einer hier häufig geforderten U-Bahn-Strecke bringen kann.
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist jedoch die Schaffung von Vorrangschaltungen an Ampelanlagen. Während z.B. in Zürich die Straßenbahn praktisch an allen Ampelanlagen sofort "Grün" bekommt, sobald sie naht, stehen in Berlin die Straßenbahnen bis zu einem Drittel der Fahrzeit allein vor roten Ampeln. Eine derartige Behinderug der Straßenbahn läßt nicht nur ihre Benutzung unattraktiv werden, sondern erhöht natürlich durch höheren Fahrzeug- und Personaleinsatz den Zuschußbefarf der Verkehrsbetriebe. Investitionen zur Beschleunigung des Straßenbahnverkehrs (Vorrangschaltungen, separate Trassen etc.) zahlen sich daher durch geringere Betriebskosten schon binnen kurzer Zeit aus.
Straßenbahnen benötigen, da sie in der Regel nicht im Tunnel fahren, kein Signalsystem, sondern können “auf Sicht” fahren. Verglichen mit einer Tunnelstrecke können auf einer ebenerdigen Straßenbahnstrecke doppelt so viele Straßenbahnzüge verkehren. So fahren z.B. die Karlsruher Verkehrsbetriebe auf einzelnen Streckenabschnitten im 50-Sekunden-Takt. Die vorhandene Infrastrktur des Berliner Straßenbahnnetzes erlaubt ohne größere Umbaumaßnahmen den Einsatz von bis zu 45 m langen Zügen. Damit lassen sich pro Stunde und Richtung bis zu 15.000 Fahrgäste belördern. Eine solch starke Frequentienıng weist derzeit keine der Berliner U-Bahn-Linien auf.
Ein weiterer wichtiger Vorteil der Straßenbahn ist die leichte Zugänglichkeit der Fahrzeuge. Nicht nur alte und behinderte Fahrgäste klagen, daß sie bis zum Erreichen der U-Bahnsteige zahllose Treppen, Rolltreppen oder Fahrstühle benützen müssen. Bei der im Straßenniveau verkehrenden Tram erlauben Niederflurwagen den fast ebenerdigen Einstieg vom Bürgersteig, so daß z.B. Fahrgäste mit Kinderwagen ohne fremde Mithilfe in das öffentliche Verkehrsmittel einsteigen können.
Wie Beispiele aus anderen Städten zeigen, lassen sich gerade auch mit derart attraktiven Straßenbahnsystemen erhebliche Fahrgastzuwächse erzielen und viele Autofahrer wieder für die öffentlichen Verkehrsmittel gewinnen.
Die Kosten für Straßenbahn-Neubaustrecken können - genauso wie U-Bahn-Strecken - mit Bundesmitteln aus dem Topf des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz finanziert werden. Für Berlin gelten dabei die Sonderkonditionen für die neuen Bundesländer, wonach auch die Sanierung bestehender Strecken bezuschußt bzw. ganz aus Bundesmitteln finanziert werden kann.
Die Investitionskosten für moderne Straßenbahnstrecken betragen nur einen Bruchteil der Baukosten für U-Bahn-Strecken. Die Kosten für Straßenbahn-Neubaustrecken liegen zwischen 3 und 10 Mio DM je Kilometer. Im Vergleich dazu kostet z.B. 1 U-Bahn-Kilometer zwischen 150 und 200 Mio DM. Die Stadt Berlin steht damit vor der Entscheidung, ob sie lieber 1 km U-Bahn oder mit demselben Geld 15 bis 20 km moderne Straßenbahnstrecke bauen möchte. Die AG Straßenbahn fordert daher den Verkehrssenator auf, zukünftig auf kostenträchtige und nur sehr langsam zu realisierende U-Bahn-Neubauprojekte (dazu zählt nicht die Wiederinbetriebnahme alter U-Bahn-Strecken) zu verzichten und die hierfür vorgesehenen Mittel zugunsten des sehr viel effizienteren Ausbaus des Straßenbahnnetzes umzuschichten.
Die Betriebskosten der Straßenbahn hängen ganz wesentlich von den Rahmenbedingungen ab. Während dem Verkehrsbetrieb - im Gegensatz zur Stadt - beim Busbetrieb keine Kosten für die Vorhaltung des Fahrweges entstehen, werden die Kosten für die Vorhaltung der Straßenbahngleise dem Verkehrsunternehmen aufbürdet.
Die gegenüber dem Autobus sehr viel höhere Kapazität läßt die Straßenbahn jedoch schon bei mittleren Verkehrsströmen auch zum (betriebs-)wirtschaftlich günstigsten Verkehrsmittel werden. So werden in der Hamburger Untersuchung zur Wiedereinführung der Straßenbahn in der Hansestadt 15.000 Personenfahrten/Werktag (Summe aus Richtung und Gegenrichtung) am stärksten Streckenabschnitt als grober Richtwert für eine “Stadtbahnwürdigkeit" zugrundegelegt - ein in Berlin auf vielen Strecken leicht zu erreichender Wert. Das dichte Berliner Straßenbahnnetz bietet außerdem durch Linienüberlagerungen besonders güstige Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Straßenbahnbetrieb, wodurch auch Linienverästelungen auf den Außenstrecken mit (heute noch) deutlich niedrigen Fahrgastzahlen Bestandteil eines ökonomisch tragfähigen Netzes sein können.
Die bei U-Bahnen in erheblichem Umfang anfallenden Kosten durch zusätzliches Bahnhofs- und Überwachungspersonal, durch Unterhalt und Reinigung der Tunnelanlagen, Bahnhöfe, Rolltreppen, Fahrstühle etc. entfallen bei der Straßenbahn vollständig.
Während trotz der teilweise vollständigen Mittelkonzentration auf die U-Bahn in den letzten drei Jahrzehnten in West-Berlin im Durchschnitt pro Jahr nur 1,5 km U-Bahn-Strecken gebaut werden konnten, muß das vereinigte Berlin vor dem Hintergrund wachsender Verkehrsprobleme die Gelder zur Verbesserung des öffentlichen Verkehrs zukünftig sehr viel effizienter einsetzen. Die aufgeführten Argumente lassen deutlich werden, daß ein modernes Straßenbahnsystem ein der U-Bahn mindestens gleichwertiges Verkehrsmittel sein kann. Die verglichen mit den U-Bahn-Bauten sehr niedrigen Baukosten für Straßenbahn-Neubaustrecken gestatten neben der notwendigen Sanierung des bestehenden Netzes den zügigen Ausbau des Straßenbahnnetzes bis zum Jahr 2000.
Die AG Straßenbahn hat daher ein Konzept zum Ausbau des Berliner Straßenbahnnetzes für das nächste Jahrzehnt, differenziert nach mehreren Dringlichkeitsstufen, erarbeitet. In der Arbeit wird dabei ausführlich auf die notwendigen Neuerweiterungen im Bezirk Mitte, nach Kreuzberg, nach Moabit, in das Märkische Viertel oder nach Schöneberg/Steglitz eingegangen.
Für die Strecken der 1. Dringlichkeitsstufe, die vorrangig “grenzüberschreitende" Strecken zur Verknüpfung der vielfach noch immer getrennten öffentlichen Verkehrsnetze sowie die Erschließung der Ost-Berliner Innenstadt enthält, müssen sofort die erforderlichen Planfeststellungsverfahren eingeleitet werden. Mit dem Ziel, die Mobilität in der Stadt auf umwelt- und stadtverträgliche Weise zu sichern und damit die Attraktivität der Stadt zu erhöhen, müssen alle Anstrengungen zur zügigen Attraktivitätssteigerung und zur Erweiterung des bestehenden Netzes unternommen werden. Dann könnten entsgrechend den Forderung der AG Straßenbahn bis zum Jahr 1995 zusätzlich zum bestehenden, ca. 170 km langen Straßenbahnnetz ca. 30 km Neubaustrecken in Betrieb gehen.
Bis zum Jahr 2000 sollten dann die Neubaustrecken der 2. Dringlichkeitstufe mit weiteren ca. 50 km realisiert werden. Die erforderlichen Trassen sollten stadtplanerisch schon heute berücksichtigt werden. Für die im Zuge der weiteren Siedlungsentwicklung diskutierten Neubaugebiete im Norden der Stadt sollte die Straßenbahn von vornherein zur Erschließung mitgeplant und zeitgleich mit dem Wohnungsbau realisiert werden.
Weitere Streckenverlängerungen - vor allem im Westteil der Stadt - sollten in der 3. Dringlichkeitsstufe realisiert werden.
Unabhängig vom Streckenneubau kommt aber auch der Sanierung des bestehenden Netzes einschließlich des Ausbaus zu einer modernen Straßenbahn z.B. mit Vorrangschaltungen, überwiegend eigenen Trassen usw. eine hohe Bedeutung zu. Gelder können dafür in erheblichem Umfang für die nächsten beiden Jahre aus dem Finanztopf “Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost" von geplanten U-Bahn-Neubaumaßnahmen umverteilt werden (U-Bahn-Verlängerung in das Märkische Viertel oder Verlängerung der Bahnsteige auf der U6).
Unverzichtbar ist jedoch auch die kurzfristige Entscheidung zur Beschaffung von neuen Straßenbahnfahrzeugen nach westdeutschem Muster zur Erneuerung des nicht mehr zeitgemäßen Berlinere Wagenparks. Bereits entwickelte Niederflurfahrzeuge, z.B. für Bremen, können wegen ihres modulhaften Aufbaus entsprechend den spezifischen Berliner Anforderungen (längere Züge, eventuell Zweirichtungsfahrzeuge) sofort als Serienfahrzeug gebaut werden. Gleichzeitig sollte für die neueren Tatra-Fahrzeuge endlich auch in Berlin ein Sanierungsprogramm eingeleitet werden - so wie dies in anderen ostdeutschen Städten, z.B. Schwerin und Halle, schon längst beschlossen wurde.
Mitgearbeitet haben an dem Konzept und seiner Veröffentlichung als Broschüre die Bürgerinitiative Stadtring Süd (BISS), die Bürgerinitiative Westtagente (BIW), der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die Fahrgastinitiative Berlin (FIB), die Interessengemeinschaft Eisenbahn und Nahverkehr Berlin (IGEB) und der Verkehrsclub der Bundesrepublik Deutschland (VCD). Die Broschüre mit dem Titel "Tra(u)mstadt Berlin" ist zum Preis von DM 9,80 erhältlich.
AG Straßenbahn
aus SIGNAL 7/1991 (September 1991), Seite 14-17