Planung
Allein schon wegen der Finanzsituation muß Berlin bei der Verbesserung des ÖPNV den Schwerpunkt zukünftig auf die Straßenbahn legen. Der S- und vor allem der U-Bahn-Bau sind zu teuer und würden erst nach Jahrzehnten zu einer wirkungsvollen Angebotsverbesserung führen. So ist es nur logisch, daß sich die Planungsdiskussion in den letzten Monaten (endlich) auf die Tram konzentrierte. Den Anfang hatten - wie berichtet - die Fahrgast- und Umweltinitiativen gemacht. Ihrem Tra(u)mstadt-Konzept (s. SIGNAL 7/91) hatte Verkehrssenator Haase zunächst nur ein Anti-Tram-Konzept entgegenzusetzen (s. 8/91). Daraufhin überraschte die BVG mit einem Pro-Tram-Konzept (s. 9/91), das den Senator in Zugzwang brachte. Am 8. November präsentierte Herr Haase der Öffentlichkeit nun sein Stadtbahnkonzept für Berlin - Netzplanung, dessen sogenannte Kurzfassung - eine Langfassung gibt es bis heute nicht - wir nachfolgend vollständig dokumentieren.
1. Jan 1992
Für den Senat von Berlin hat der öffentliche Personennahverkehr bei der Bewältigung der innerstädtischen Verkehrsaufgaben erste Priorität. Dabei kommt der Straßenbahn aufgrund ihrer kurzfristig und kostengünstig realisierbaren Ausbau- und Erweiterungsmöglichkeiten eine große Bedeutung zu. Ihre Umgestaltung zu einer attraktiven und leistungsfähigen Stadtbahn, verbunden mit einer Netzerweiterung, wird sie zum dritten hochwertigen Systemteil der Berliner Stadtschnellbahn machen.
In den östlichen Bezirken der Stadt existiert ein umfangreiches Straßenbahnnetz mit einer Streckenlänge von 176 km, davon sind über 60% besonderer bzw. unabhängiger Bahnkörper und 13,3 km eingleisig. Damit verfügt die Straßenbahn über etwa die gleiche Streckenlänge wie z. Z. die S-Bahn im Berliner Stadtgebiet und eine um rund 25% größere Länge als die U-Bahn, Im werktaglichen Durchschnitt befördert sie mit rund 500.000 Personen etwa die Hälfte der Fahrgäste der S-Bahn und etwa ein Drittel der U-Bahn-Fahrgäste.
Diese Leistungen werden auf Anlagen und mit Fahrzeugen erbracht, die nicht den Anforderungen an einen modernen Straßenbahnbetrieb entsprechen - trotz der seit 1976 beschafften 671 neuen Tatra-Wagen (bei einem Gesamtbestand von 1.067 Wagen) und der damit einhergehenden Erneuerung der Gleis- und Bahnenergie-Versorgungsanlagen sowie der Rekonstruktion und Erweiterung der Werkstätten und Abstellanlagen.
Das Berliner Straßenbahnnetz, das sich historisch neben der Eisenbahn und der Untergrundbahn als leistungsfähiges öffentliches Verkehrsmittel entwickelt hat und mit der Stadt gewachsen ist (Ausdehnung 1939: 569 km), hat seit Kriegsende einschneidende Veränderungen erfahren. Im ehemaligen Westteil der Stadt wurde die Straßenbahn bis 1967 eingestellt, im ehemaligen Ostteil wurde das Netz drastisch reduziert, insbesondere im Bezirk Mitte. Andererseits sind mit dem Bau von Großwohngebieten in Stadtrandlage in den 70er und 80er Jahren beträchtliche Netzerweiterung einhergegangen (Neubau von 31,3 km zweigleisigen Strecken auf besonderem bzw. unabhängigem Bahnkörper).
Insgesamt hat die Entwicklung in den zurückliegenden 25 Jahren zu erheblichen Ungleichgewichten im Netz geführt. In der Innenstadt ist als Folge der Herausnahme der Straßenbahn aus dem südlichen Bezirk Mitte und aus dem Alexanderplatz ein Torso entstanden. Die Bündelung der Radialstrecken auf der das Stadtzentrum nördlich tangierenden Strecke in der Moll- und Wilhelm-Pieck-Straße hat zu einer erheblichen Verschlechterung der City-Erschließung durch öffentliche Verkehrsmittel geführt und außerdem die Stabilität und Zuverlässigkeit des Straßenbahnbetriebes wegen der Konzentration vieler Linien auf einer Strecke nachhaltig beeinflußt.
Der nicht verbindlich definierte Begriff “Stadtbahn" für eine morderne, leistungsfähige und attraktive Straßenbahn, die weitgehend stadtverträglich gestaltet und eingeordnet ist, soll für Berlin mit folgenden Zielsetzung verbunden werden:
Das soll erreicht werden durch
Der vorhandene Fahrzeugpark wird den Anforderungen eines modernen Stadtbahnbetriebes nicht gerecht. Da ohnehin ein nennenswerter Anteil überalterter Fahrzeuge zu ersetzen ist, sollen neue Niederflurwagen beschafft werden, die einen annähernd stufenlosen Einstieg ermöglichen. Optimale Fahrgastinformation und -abfertigung sind zudem selbstverständlich. Um eine flexible Betriebsführung zu ermöglichen und bei Bedarf auch ohne Gleisschleife wenden zu können, sollen neben Einrichtungs- auch anteilig Zweirichtungsfahrzeuge beschafft werden. Um die vorhandenen Haltestellen ohne Umbauten weiter nutzen zu können, wird eine Wagenlänge der Einzelfahrzeuge von ca. 25 m bevorzugt. Es können damit auch Züge von 50 bzw. 75 m Länge gebildet werden.
Die Wagenbreite muß mit Rücksicht auf die vorhandenen Gleisanlagen auf 2,30 m festgelegt werden (gegenwärtig: sind 2,20 m breite Wagen im Einsatz). Für die 2,30 m breiten Niederflurfahrzeuge müssen in Kurven mit kleinen Radien die Gleisabstände erweitert werden; auf gerade Strecken sind die vorhandenen Gleisabstände ausreichend. Ein großer Anteil der vorhandenen Tatra-Fahrzeuge (Baujahre 1976 - 90) muß noch über mehrere Jahre eingesetzt und deshalb modernisiert werden.
Für den Neubau sowie beim Ausbau der vorhandenen Straßenbahnanlagen gelten folgende Ziele:
Die Haltestellen sollen in der Regel als Bahnsteige (Haltestelleninseln) gestaltet werden. Ihre Dimensionierung wird durch das neue Niederflurfahrzeug bestimmt:
Nach der Wiedervereinigung der Stadt bleibt des bisherige Aufgabenspektrum der Straßenbahn im wesentlichen erhalten. Darüber hinaus muß ihre Integration in das Gesamtsystem des ÖPNV und die Qualitätsanhebung zur Stadtbahn erfolgen. Dazu sind die Ungleichgewichte im Netz zu beseitigen und notwendige Netzerweiterungen durchzuführen mit dem Ziel,
Wir wollen die Akzeptanz des vorhandenen Straßenbahnsystems durch streckenweisen Ausbau des Netzes auf Stadtbahnparameter und einen schnellen Einsatz von modernen neuen oder umgebauten Stadtbahnfahrzeugen erhalten und verbessern. Außerdem sind Vorgaben für anstehende Verkehrsbaumaßnahmen (insbesondere Grundinstandsetzungen) und Bebauungsplanverfahren zu liefern sowie die Einleitung von Planungsverfahren für Neubaustrecken zu ermöglichen. Dazu sind Aussagen sowohl über das vorhandene Straßenbahnetz (Ausbau, Stillegung) als auch über vordringliche Streckenerweiterungen notwendig.
Das gegenwärtige Berliner Straßenbahnen wird aus radialen und tangentialen Strecken gebildet. In den Außenbezirken Pankow und Köpenick bestehen Teilnetze, die vorrangig dem innerbezirklichen Verkehr dienen und Zubringeraufgahen zu den Schnellbahnhöfen erfüllen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Strecken entsprechend des Stadtbahnstandards auszubauen. Das wird streckenweise und im Rahmen der anstehenden Grundinstandsetzungen geschehen. Dabei werden die Gleise in einen einwandfreien Zustand versetzt, ggf. die Gleisabstände in den Bögen erweitert, die Haltestellen um- und ausgebaut sowie ausgestattet. An Verkehrsknotenpunkten können in Verbindung mit neuen Lichtsignalanlagen und -programmen zur weitgehenden Bevorrechtigung der Straßenbahn auch bauliche Korrekturen erforderlich werden. Streckenabschnitte mit straßenbündiger Gleislage werden auf die Möglichkeiten der Herstellung besonderer Bahnkörper hin untersucht. Grundsätzlich soll die Stadtbahn auf eigenem Gleiskörper fahren.
Die Verbesserung der Umsteigebedingungen zwischen der Stadtbahn und den übrigen öffentlichen Verkehrsmitteln, insbesondere an S- und U-Bahnhöfen, bildet einen weiteren Schwerpunkt der Umgestaltung und Anlagen. Dazu sind meist größere bauliche Veränderungen erforderlich und überwiegend nur im Rahmen komplexer Verkehrsbaumaßnahmen durchführbar. Die weitgehende Trennung der Stadtbahn vom übrigen Straßenverkehr kann ebenfalls den Umbau von Straßen und Knotenpunkten nötig machen (z.B. Weißenseer Spitze), um dadurch die Straßenbahn zu bevorrechtigen bzw. zu beschleunigen.
Das vorhandene Straßenbahnnetz wird in den Außenbezirken durch folgende Neubaustrecken ergänzt:
Müggelheimer Straße (Köpenick): Als Ersatz der Straßenbahnstrecke in der Grünstraße wird zwischen Schloßplatz und Amtsstraße eine zweigleisige Straßenbahnstrecke in den vorhandenen Mittelkörper der Straße eingebaut. Ansonsten wird das Köpenicker Netz in seiner heutigen Konfiguration weitgehend erhalten. Zur Einstellung ist gegenwärtig lediglich die Strecke von Adlershof nach Altlglienicke wegen zu geringer Verkehrsnachfrage vorgesehen.
Ridbacher Straße: Mit dieser Strecke wird die Verbindung zwischen Hellersdorf und Köpenick hergestellt (starke Pendlerbeziehungen). Das Köpenicker Netz erhält damit eine Anbindung über eine zweite Trasse an das restliche Berliner Netz.
Henneckestraße: Durch Verlängerung der in Wartenberg endenden Strecke wird eine Direktverbindung zwischen den Bezirken Hohenschönhausen und Marzahn hergestellt und damit ein künftiges Verdichtungsgebiet erschlossen.
Ostseestraße: Zur Verbesserung der Betriebsführung im Bereich des Knotenpunktes Prenzlauer Allee/Wisbyer Straße wird die Strecke durch die Langhansstraße aufgegeben und über die Ostseestraße geführt.
Sonntagstraße: Die unzureichende Verknüpfung von S-Bahn und Straßenbahn am Bahnhof Ostkreuz soll im Rahmen der vorgesehenen Umgestaltung und Erweiterung der Eisenbahn- und Straßenverkehrsanlagen verbessert werden. Dafür wird die Straßenbahn aus der Markt- und einem Teil der Boxhagener Straße in die Sonntagstraße verlegt und parallel zur Wriezener Bahn unter der Ringbahn hindurchgeführt.
Pankower Netz: Die Zukunft des Pankower Teilnetzes ist vor allem in Abhängigkeit von der städtebaulichen Entwicklung dieses Bezirkes zu sehen. Kurzfristig besteht kein Anlaß, in Pankow Strecken stillzulegen. Im Zusammenhang mit der Verlängerung der U-Bahn-Linie 2 bis Pankow Kirche erfolgt die Einstellung der Straßenbahn in der Schönhauser Allee und auf der Rosenthaler Strecke. Die verbleibenden Strecken werden über Heinersdorf angebunden.
Der Neubau von Stadtbahnstrecken im Innenstadtbereich soll in direkter Verlängerung radialer und tangentialer Straßenbahnstrecken in die City-Ost sowie in den ehemaligen Westteil der Stadt erfolgen. Wegen des wesentlich geringeren baulichen und finanziellen Aufwandes gegenüber einem U-Bahn-Bau können die Stadtbahnstrecken bereits kurz- und mittelfristig realisiert werden. Damit kann eine rechtzeitige Erweiterung des Schienennetzes in der Innenstadt erreicht werden, um dem zu erwartenden erheblichen Anstieg der Verkehrsnachfrage gerecht zu werden.
Die langfristige Zielstellung besteht darin ein vermaschtes Stadtbahnnetz im Bezirk Mitte und den angrenzenden Bereichen der Bezirke Friedrichshain, Kreuzberg, Tiergarten, Wedding und Prenzlauer Berg zu schaffen, das die S- und U-Bahn-Netze ergänzt und mit diesem gemeinsam ein Schienennetz mit hoher Leistungsfähigkeit bildet.
Die Stadtbahnstrecken sollen durchgängig oberirdisch geführt werden, weil Tunnelbauten (auch unter Einbeziehung vorhandener U-Bahn-Tunnel, z.B. im ereich des Alexanderplatzes) einen hohen baulichen und finanziellen Aufwand erfordern, so daß die Stadtbahn nicht kurzfristig hergestellt werden könnte und damit nicht Zeitgerecht zur Verfügung stünde.
Folgende Neubaustrecken sind vorgesehen:
Die bisher beschriebenen Maßnahmen zur Erweiterung des Stadtbahnnetzes stellen eine erste Ausbaustufe dar. Der weitere Ausbau erstreckt sich im wesentlichen auf die mögliche Fortführung über die vorläufigen Endpunkte hinaus, wobei auch im Westen der Stadt ein vermaschtes Netz entstehen soll. Dabei gibt es folgende Orientierungen, die in einer späteren Planungsphase detaillierter Untersuchungen bedürfen:
In Abhängigkeit von der Stadtentwicklung im Norden (Bezirke Pankow und Weißensee) ist ebenfalls die Verlängerung von Strecken denkbar (von Nordend nach Blankenfelde, von Heinersdorf über Buchholz nach Norden, von Heinersdorf nach Blankenburg, von Weißensee nach Malchow). In Köpenick wird eine Verbesserung der Anbindung des Allende-Viertels mittelfristig beabsichtigt. Darüber hinaus ist die Schaffung einer Stadtbahntangente im Norden Berlins zu prüfen (Tegel - Reinickendorf - Pankow - Weißensee).
Insgesamt ist eine Erweiterung des Stadtbahnnetzes in der 1. Ausbaustufe um rund 42 km vorgesehen. Der Umfang der Netzerweiterungen in der 2. Ausbaustufe ist von der Planung der Flächennutzung und von der Stadtentwicklung abhängig und kann daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht benannt werden. Kurz- und mittelfristige Maßnahmen der 1. Ausbaustufe sind:
Die Planungsverfahren werden noch im November mit der Vergabe von Aufträgen begonnen. Prioritäten erhalten die Strecken Bornholmer Straße, Invalidenstraße und Leipziger Straße, für die das Planfeststellungsverfahren im Frühgjahr 1992 eingeleitet wird. Unmittelbar anschließend werden die Planungen zur Komplettierung des Bestandsnetzes in Angriff genommen."
Nach dem Sinneswandel bei der BVG zum Thema Tram nun gleiches auch bei Vekehrssenator Haase? Die Vorstellung eines auf den ersten Blick überraschend positiven Tram-Konzeptes (42 Neubaukilometer in den nächsten 8 Jahren) ließ hoffen. Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich, daß er es so ernst mit der Tram wohl doch nicht meint, sondern daß wohl eher eine neue Runde des Taktierens und Verzögerns eingeleitet worden ist.
Einen ersten Anlaß zu solchen Zweifeln gab Senator Haase selbst, als er schon bald nach der Präsentation seines Tramkonzeptes angekündigte, für die Planung von Straßenbahn-Neubaustrecken das Bonner Beschleunigungsgesetz für den Bau von Verkehrswegen anwenden zu wollen. Es drängte sich der Eindruck auf, daß Herr Haase frühzeitig darauf vorbereiten will, daß die versprochenen Planfeststellungsverfahren nun doch erst später eingeleitet werden, daß dies aber dank des Beschleunigungsgesetzes zu keiner Verzögerung führen wird. Abgesehen davon, daß es noch völlig ungewiß ist, ob das Gesetz tatsächlich zu einer Beschleunigung von Planverfahren führt, ist es auch riskant, auf dieses Gesetz zu bauen. Denn einige der Gesetzesregelungen sind möglicherweise nicht verfassungsgemäß oder verstoßen gegen EG-Recht, so daß bei Planungen auf der Grundlage dieses Gesetzes die Gefahr besteht, daß sie wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen und ein Verzug um Jahre eintritt.
Ein Planfeststellungsverfahren nach Personenbeförderungsgesetz dauert nach westdeutschen Erfahrungen zwischen 1 und 2 Jahren inklusive der aus Gründen der Akzeptanz sinnvollen und notwendigen Bürgerbeteiligung und Umweltverträglichkeitsprüfung. Es besteht also überhaupt kein Grund zum planungsrechtlichen Experimentieren. Selbst unter der Annahme, daß in Berlin alles etwas länger dauert, hätten 1992, dem dritten Jahr nach der Maueröffnung, also durchaus Planfeststellungsverfahren abgeschlossen werden können und nicht erst beginnen dürfen.
Ein anderer entscheidender Schwachpunkt der Senatsplanung ist, daß es zwar nun ein Tramkonzept "Netzplanung", nicht aber ein Finanzierungskonzept gibt, weder für neue Strecken noch für neue Fahrzeuge. Andere Städte in den neuen Bundesländern haben demgegenüber schon längst komplette Sanierungsprogramme für ihren Fahrzeugpark ausgearbeitet und beim Bund die bereitgestellten Mittel dafür beantragt.
Das Verschleppen der Fahrzeugbestellung wird natürlich auch die geplanten Streckenverlängerungen verzögern, denn wegen des Nachfragebooms aus anderen deutschen Städten nach Straßenbahnen wird der erste Neubauzug frühestens 3 bis 4 Jahre nach der Bestellung über Berliner Gleise rollen - vorausgesetzt, der Senat entscheidet sich doch noch für ein serienreifes Modell, Der vom Verkehrssenator favorisierte 25-m-Niederflurstraßenbahnwagen müßte dagegen erst entwickelt werden. Aber so ganz sicher ist man sich bei den Senatsplanern offensichtlich noch nicht, denn schließlich plant man Haltestellen für Zuglängen von 50 bis zu 80 m Länge.
Zu kritisieren ist aber insbesondere die Netzplanung. Neben den erfreulich umfangreichen und überwiegend sehr sinnvollen Streckenneubau-Planungen sieht das Senatskonzept eine deutliche Netzreduzierung ausgerechnet im Bezirk Mitte vor. Wie zufällig werden bestehende Straßenbahnstrecken ausgerechnet dort eingestellt, wo sie den Autoverkehr stören könnten, So soll die Friedrichstraße - die BVG wichtigste Strecke im geplanten Netz - zukünftig ”tramfrei" sein. Durch die Erneuerung der Weidendammer Brücke wird es schon 1992 so weit sein. Zwar hat der zuständige Abteilungsleiter der Senatsverkehrsverwaltung, Herr Dr. Kalender, auf der 2. Berliner Verkehrswerkstadt im Dezember versichert, daß die Weidendammer Brücke zunächst wieder Gleise erhält und eine endgültige Einstellung der Tram in der Friedrichstraße erst nach Inbetriebnahme der Neubaustrecke in der Invalidenstraße ansteht, aber aus Erfahrung sind Zweifel angebracht.
Stillgelegt werden sollen auch die Strecken in der Chaussee- und der Oranienburger Straße sowie in der Schönhauser Allee. Die offizielle Argumentation des Verkehrssenators ist immer die gleiche: Parallelverkehr zur U-Bahn! Daß mit den Streckenstillegungen gerade im Citybereich ein wesentliches Qualitätsmerkmal der Tram, nämlich die umsteigefreie Erreichbarkeit des Bezirks Mitte aus großen Teilen der Stadt, verloren geht und du für die kleinräumige Vernetzung eine Vielzahl von unwirtschaftlichen Buslinien eingerichtet werden müßten, das sind für den Autofahrer Haase offenbar keine Kriterien.
Mit demselben Argument des Parallelverkehrs zur U-Bahn unterbleiben an anderer Stelle dringende Verknüpfungen: So soll nach dem Senatskonzept die Oberbaumbrücke “tramfrei” bleiben, womit auch die wichtige Tramverlängerung zum Hermannplatz unmöglich wird. Der wahre Ablehnungsgrund ist hier natürlich ein ganz anderen für eine Straßenbahntrasse auf der denkmalgeschützten und damit nicht verbreiterbaren Oberbaumbrücke müßte Herr Haase zwei Fahrspuren opfern, und das geht natürlich nicht, da die Brücke doch Teil seines innerstädtischen Autoringes werden soll. ÖPNV-Benutzer aus Friedrichshain, die z.B. zum Einkaufszentrum Hermannplatz/Karl-Marx-Straße wollen, werden durch diese Prioritätensetzung zugunsten des Autos auch zukünftig auf einer knapp 3 km langen Strecke zweimal umsteigen müssen.
Senator Haases Konzept enthält Neubaustrecken in der Regel nur dort, wo sie auch Autoanhängern im Senat nicht weh tun werden. Und wo es doch eng werden könnte, z.B. in der Leipziger Straße, macht die Verkehrsverwaltung deutlich, daß sie entgegen bisherigen Absprachen nicht mehr bereit ist, auf eine Verbreiterung der Straße über das historische Profil hinaus zu verzichten. Anderenfalls gibt es halt keine Tram.
Erfreulich ist der Lernprozeß im Hause des Verkehrsenators bei der Planung von Tunnelstrecken. Auf solche kosten- und zeitaufwendigen Projekte soll jetzt ganz verzichtet werden, alle Tramstrecken werden ausschließlich oberirdisch geführt. Umso widersprüchlicher ist, daß Herr Haase zur selben Zeit im Zusammenhang mit der Diskussion um die Verkehrsplanung im Zentralen Bereich gigantische U-Bahn-Baupläne vorgelegt hat. Zum einen soll die U5 soll vom Alexanderplatz über Französische Straße, Brandenburger Tor zum Lehrter Bf. fahren, zum anderen soll die U3 durch Tiergarten-Süd zum Potsdamer Platz und weiter unter der Leipziger Straße (parallel zur geplanten Tram!) verlängert werden. Darüber hinaus wurde das zweifelhafte Projekt einer U7-Verlängerung im Rudow zum Flughafen Schönefeld wieer in die Zielplanung aufgenommen.
So bleibt festzuhalten, daß trotz beachtlicher Verbesserungen gegenüber dem ersten Senatskonzept grundsätzlich noch immer an einer autoorientierten Verkehrspolitik, selbst in der Innenstadt, festgehalten wird, der sich die Straßenbahn im Zweifelsfall stets unterzuordnen hat. Mindestens ebenso verhängnisvoll für die Zukunft der Tram in Berlin ist, daß es zwar nun eine Netzplanung, aber keine Termin- und vor allem keine Finanzierungsplanung gibt. So ist das neue Tramkonzept des Senats, entstanden durch den öffentlichen Druck, letztlich wohl doch nur eine Fortsetzung der Haaseschen Ankündigungspolitik und ein Ausdruck der Konzeptionslosigkeit seiner Politik.
IGEB
aus SIGNAL 10/1991 (Januar 1992), Seite 8-13