Planung
Grundzüge einer polyzentralen Eisenbahnkonzeption für Berlin
1. Jan 1992
Im Mai 1991 hatte der für Moabit beauftragte Sanierungsträger S.T.E.R.N. GmbH zusammen mit dem Bezirksamt Tiergarten ein zweiteiliges Gutachten zur Eisenbahnplanung in Auftrag gegeben. Die Consult-Gesellschaft für Energie, Wirtschaft und Umwelt (GEWU) sowie das Institut für Bahntechnik (IfB) sollten zunächst die Eignung des Standortes Lehrter Stadtbahnhof für den von der Deutschen Eisenbahnconsult (DE-Consult) und dem Verkehrssenator geplanten zentralen Verknüpfungsbahnhof sowie die Auswirkungen eines solchen Bahnhofes auf den Stadtteil Moabit untersuchen. Im zweiten Teil, der im November 1991 fertiggestellt wurde, sollten Grundzüge eines dezentralen Eisenbahnkonzeptes für Berlin entwickelt werden. An beide Gutachten-Teile wurden besondere Anforderungen hinsichtlich einer integrierten städtebaulichen, ökologischen und bahnplanerischen Sicht formuliert.
Auf der Grundlage des im Stadtforum diskutierten “Zwiebel-Modells" (verschiedene Autoren), das in einigen Punkten modifiziert wurde, entstand der interdisziplinäre Ansatz eines integrierten Eisenbahnkonzeptes für Berlin.
Der betriebliche Grundgedanke des Zwiebel-Modells besteht darin, die vorhandene Eisenbahninfrastruktur optimal zu nutzen und entsprechend der historisch gewachsenen, polyzentralen Berliner Stadtstruktur stufenweise zu entwickeln. Das Konzegt steigen kurzfristig - ohne langwierige Großrojekte - die Attraktivität der Bahn und hält langfristige Entwicklungsmöglichkeiten offen.
Im Fernverkehr werden die Ost-West-Verbindungen - ähnlich dem Achsenkreuz-Modell - über die Stadtbahn geleitet. Der Nord-Süd-Verkehr wird grundsätzlich über den Ring abgewickelt. Dabei werden die Züge von und nach Rostock über den West-Abschnitt des Berliner Innenringes (BIR) und die Züge von und nach Stralsund über den Ostteil des BIR geführt.
Als Zugangsstellen zum Netz und als Verknüpfungsbahnhöfe der Fernverkehrslinien im Intercity- und Interregio-Verkehr stehen auf der Stadtbahn die Bahnhöfe Zoologischer Garten, Friedrichstraße und Hauptbahnhof zur Verfügung, die an den Schnittstellen mit dem BIR durch die Umsteigebahnhöfe West- und Ostkreuz ergänzt werden. Auf dem BIR hegen außerdem noch der Fernbahnhuf Gesundbrunnen und evtl. ein weiterer Fernbahnhof im Bereich Tempelhof sowie mehrere Regionalbahnhöfe, die der Erschließung der geplanten Dienstleistungsflächen am BIR ("Ringstadt") und als Umsteigebahnhöfe für den Regional- und Nahverkehr dienen (Abb. 1).
Zur Entlastung des Rings sowie zur Anbindung des Potsdamer Platzes und des Regierunggsviertels im Spreebogen kann eine Nord-Süd-Regionalbahn ("Flughafenlinie") zwischen dem Flughafen Schönefeld dem geplanten Flughafen "Berlin International" im Süden Berlins und dem Stadt-Flughafen Tegel bzw, - bei Aufgabe von Tegel - den nordwestlichen Umlandgemeinden geschaffen werden. Im Bereich des Lehrter Stadtbahnhofs würde in diesem Fall ein Regionalbahnhof entstehen, der eine schnelle Verbindung zwischen den Flughafen und dem Regierungsviertel garantiert. Die Anbindung an den hochwertigen Eisenbahn-Fernverkehr (ICE) ist in fußläufiger Entfernung durch den Bahnhof Friedrichstraße gewährleistet, der damit im Zwiebel-Modell seine traditionsreiche Bedeutung beibehalten könnte.
An den Kreuzungsstellen der Radialen mit dem BIR sind zusätzliche Trassierungsbauwerke erforderlich, die noch genauer untersucht werden müßten. Trassierungstechnische Probleme ergeben sich aber auch beim Achsenkreuzmodell (z.B. beim Anschluß der Nord-Süd-Strecken an den Nordring zwischen Perleberger und Müllerstr. sowie beim Overfly über die Perleberger Brücke).
“Ich bekenne mich dazu", so formulierte es der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen am 9. November 1991 anläßlich der 1. Berliner Verkehrswerkstatt, “daß Verkehrspolitik nicht das Primat ist. Die Verkehrspolitik hat die Schlußfolgerungen zu ziehen aus den städtebaulichen und den gesamten Entwicklungsentscheidungen, die wir zu treffen haben" Wenn man diese Aussage ernst meint und ernst nimmt, ist das Primat so zu verstehen, daß sich die Verkehrspolitik an der Struktur und den Zielen der Berliner Stadtentwicklung orientieren muß, d.h. sie muß dem “Leitbild der Erhaltung der polyzentralen Struktur" (Senator Herwig Haase auf derselben Veranstaltung) gerecht werden.
Diesen Anspruch löst das Achsenkreuzmodell nicht ein. Es leitet die zentralörtlichen Entwicklungsimpulse der Bahn nur zum geringen Teil auf die bestehenden Zentren und auf die Entwicklungsreserven am Ring. Stattdessen wird durch die geplanten neuen Fernbahnhöfe im Bereich Lehrter Stadtbahnhof und Gleisdreieck der Grundstein für eine - planungsgeschichtlich keineswegs neue - "Nord-Süd-Achse" gelegt, die zur Herausbildung einer Dienstleistungs-City zwischen Regierungsviertel, Potsdamer Platz und Gleisdreieck führen wird.
Leider wird trotz "Stadtforum" und “Verkehrswerkstatt” gegenwärtig keine Diskussion darüber geführt, ob die Wiederbelebung dieser alten Idee einer "City-Mitte" städtebaulich und entwicklungsplanerisch überhaupt wünschenswert ist. Das Zwiebel-Modell verzichtet bewußt auf die Bildung einer Dienstleistungs-City bzw. einer neuen Nord-Süd-Achse vor der barocken Stadtgrenze Berlins und unterstützt stattdessen die dezentrale und konzentrische Stadtentwicklung im Bereich des S-Bahn-Ringes. Die historische Innenstadt soll weder durch Hochhäuser, noch durch andere Großprojekte überformt werden.
Der Regionalverkehr erschließt sowohl die bestehenden Zentren über die Stadtbahn als auch die städtischen Entwicklungspotentiale am S-Bahn-Ring, insbesondere auch im Bereich Ostkreuz/Rummelsburger Bucht, Westkreuz/Halensee und Tempelhofer Feld. Hier steht, im Vergleich zum Bereich des geplanten Lehrter Zentralbahnhofes, mehr als das Zehnfache an Reserven zur Verfügung, Während der BIR im Achsenkreuz-Modell als Entwicklungsreserve verkehrsplanerisch vernachlässigt wird, werden die Regionalverkehre - und damit die Pendlerströme - im Zwiebel-Modell bewußt auf diese Entwicklungsflächen gelenkt. Damit wird eine vorhandene Infrastruktur vernünftig genutzt und die gewachsene Polyzentralität Berlins gestärkt.
Das Achsenkreuz-Modell wurde konzeptionell vor dem Mauerfall entwickelt und ist - unbewußt - ein “West-Modell": lediglich ein IC-Bahnhof liegt in den östlichen Bezirken (“Hauptbahnhof"). Die entwicklungsträchtigen Fernbahnhöfe befinden sich im Westteil der Stadt. Damit wird ein historisch bedingter Entwicklungsvorsprung der Westbezirke langfristig festgeschrieben. Im Sinne eines Wertausgleichs zwischen den Innenstadtbereichen werden im modifizierten Zwiebel-Modell die strukturpolitisch erwünschten Entwicklungsimpulse dezentral über die Stadt verteilt.
Eine grundlegende Kritik an den Ring-Modellen verweist auf die mangelnde Kapazität des Berliner Innenringes. Der erforderliche Ausbau bringe praktisch ähnlich große Eingriffe in die Stadtstruktur mit sich wie das Achsenkreuz-Modell mit seinen Tunnelbauten. Eine Analyse der Verkehrsströme im Rahmen des von S.T.E,R.N. und dem Bezirk beauftragten Gutachtens ergab, daß die Überlastung des Ringes wesentlich durch die hohen Prognosezahlen für den Flughafenverkehr (20-Minuten-Takt) mitverursacht wird.
Das Zwiebel-Modell löst den Zielkonflikt zwischen Dezentralität und Stadtverträglichkeit mit einem “Zugeständnis an den Regionalverkehr", nämlich einem Tunnel unter dem Tiergarten für die sogenannte Flughafenlinie. Der Tunnel verläuft etwa in der gleichen Trasssenführung wie im Achsenkreuz-Modell, ist jedoch mit zwei statt vier Gleisen um die Hälfte kleiner und erfordert auch keine zusätzlichen S- und U-Bahn-Tunnel. Mit dem Bau dieser Regionalbahnstrecke braucht erst dann begonnen zu werden, wenn sich die hohen Prognosezahlen im Regionalverkehr als zutreffend erweisen und sich Kapazitätsengpässe auf dem Ring abzeichnen. Bis heute ist jedoch noch nicht geklärt, ob die großen regionalen Pendlerströme zum einen prognostisch gerechtfertigt, zum anderen regionalplanerisch wünschenswert sind. In einer ersten Ausbaustufe wird daher auf den Tunnelbau verzichtet. Für die evtl. erforderliche zweite Ausbaustufe wird eine Nord-Süd-Regionalbahntrasse planerisch freigehalten.
Hinsichtlich der Kapazitäten wurden von den Gutachtern zwei Varianten des modifizierten Zwiebel-Modells erarbeitet. In der ersten Variante wird der Ring zweigleisig wiederhergestellt. Diese Maßnahmen sind ohne größere Eingriffe in die Stadtstruktur möglich. Bereits in dieser Variante könnte die von der DE-Consult für das Jahr 2010 prognistizierte Fahrgastzahl aufgenommen werden. Allerdings sind die Kapaziätsreserven geringer als im Achsenkreuz-Modell. Dies könnte bei einer sehr zentralistischen Entwicklung Berlins mit hohen Pendlerströmen aus dem Umland zu Engpässen bzw. weiteren Ausbaumaßnahmen am Ring führen. Allerdings gilt auch der umgekehrte Zusammenhang: das Achsenkreuz-Modell macht geradezu eine zentralistische Entwicklung Berlins gegenüber seinem Umland erforderlich, um zu einer wirtschaftlichen Nutzung der überdimensionierten Infrastruktur zu kommen. So liegt beispielsweise die Belastung des BIR im Bereich zwischen Westkreuz und Jungfernheide im Achsenkreuzmodell nur bei 7%!
Das Primat einer polyzentralen Entwicklung sollte jedoch nicht nur für die Stadt Berlin, sondern auch für das Umland und Brandenburg gelten, dessen wenige Mittel- und Oberzentren nicht durch extremen Pendlersog nach Berlin in ihrer Entwicklung behindert werden sollten, Die geplante Kapazität des sternförmig auf Berlin zulaufenden Regionalverkehrsnetzes im DE-Consult-Konzept läuft geradewegs auf eine Entleerung der Region hinaus. Von den etwa 400.000 Erwerbstätigen der Region müßte jeder zweite nach Berlin pendeln, um die halb- und viertelstündlich getakteten Züge der rund 15 Regionallinien im DE-Consult-Konzept wirtschaftlich auszulasten.
Trotz dieser regionalplanerischen Bedenken wurde ein zweites Szenario des Zwiebel-Modells (Abb. 2) entwickelt, in dem durch eine veränderte Streckenführung und geringfügige Ausbaumaßnahmen auf drei Gleise eine um ca, 30% höhere Kapazität als im ersten Szenario erreicht werden könnte. Damit wird die These bekräftigt, daß das Zwiebel-Modell ein flexibles und erweiterungsfähiges Eisenbahnkonzept ist, das zusammen mit Berlin “wachsen" kann.
Städtebauliche und ökologische Eingriffe in Stadtstruktur und bioklimatisch wertvolle Vegetationsflächen lassen sich auch im Zwiebel-Modell nicht vollkommen vermeiden. Sowohl im Bereich des Ost- wie des Westkreuzes können Konflikte mit angrenzenden städtischen Nutzungen entstehen, denen frühzeitig durch geeignete planungsrechtliche Strategien (Erhaltungsverordnungen etc,) entgegengewirkt werden muß. Der evtl. erforderliche Bau eines zweigleisigen Tunnels für die Regionalbahnstrecke zum Lehrter Stadtbf. bringt zwar weniger negative Auswirkungen für die bioklimatische Situation und die Vegetation im Bereich des Gleisdreiecks und des Großen Tiergartens mit sich als beim Achsenkreuz-Modell. Dennoch muß mit einer Beeinträchtigung gegenüber der jetzigen Situation gerechnet werden. Unvermeidliche Eingriffe müssen daher durch geeignete Ausgleichsmaßnahmen kompensiert werden.
Insgesamt ist im Vergleich das modifizierte Zwiebel-Modell in beiden Ausbauszenarien sowohl ökologisch wie ökonomisch besser zu bewerten als das Achsenkreuz Modell. Im Rahmen einer polyzentralen Regionalplanung und der damit verbundenen Dezentralisierung von Verkehrsströmen ließe sich die Stadtverträglichkeit dieser Eisenbahnkonzeption noch weiter verbessern.
Uli Hellweg
S.T.E.R.N.
aus SIGNAL 10/1991 (Januar 1992), Seite 13-16