Aktuell
1. Sep 1992
Auch ohne die Gutachten über die Luft- und Lärmbelastung in den Straßen kennen und registrieren wir tagtäglich die "Qualität" der Berliner Luft. Der Lärm verfolgt uns bis in Schlafzimmer, quält uns, raubt uns den letzten Nerv und bringt uns um den dringend benötigten Schlaf. Längst haben wir uns an die Autoschlangen, die Staus, die Verkehrs- und Sichtbehinderungen durch Autos, die Unfälle, die tausenden Verkehrstoten und -verletzten "gewöhnt". Daß wir zur Bus-, U- und S-Bahn-Haltestelle länger und weiter zu Fuß gehen müssen als Autobesitzer zu ihren abgestellten Autos, wird uns kaum mehr bewußt.
Wir sprechen von der "mobilen Gesellschaft" und merken gar nicht, daß auf den Straßen alles steht! Das Verkehrschaos muß nicht erst herbeibeschworen werden; es ist längst Realität. Dabei haben vergangene Bundes- und Landesregierungen mit ihren Verwaltungen alles für diesen Kollaps getan! Selbst in dieser Zeit leiden sie unter Realitätsverlust, wie repräsentative Umfragen zeigen: sie leben hinter der Zeit her ohne zu merken, welche Erfordernisse und Entscheidungen die heutigen Verkehrsverhältnisse und 85% der Bevölkerung verlangen. Mit längst untauglichen und inzwischen immer aufwendigeren Mitteln versuchen sie, den Verkehr noch am Fließen zu halten, ihn wieder zum Fließen zu bringen und den Stau endlich "aufzulösen".
Spätestens die Maueröffnung hat uns gelehrt, daß es die Menge der Autos selbst ist, die den Verkehr auf den Straßen incl. der Busse zum Erliegen bringt. Die Zulassungszahlen der Pkw's steigen ins Unermeßliche, die Lkw-Dichte nimmt nicht zuletzt wegen der Grenzöffnungen innerhalb der EG dramatisch zu. Die Durchschnittsgeschwindigkeit des Autoverkehrs in Berlin ist seit 1981 von 28 auf 18 km/h gesunken. Die neuen Ost-West-Verkehre haben die gefahrenen Kilometerleistungen unverhältnismäßig in die Höhe getrieben. Folglich sind Busse und Bahnen im Berufsverkehr voll. Welchen Autofahrer, welche Autofahrerin können wir da noch überreden, auf die öffentlichen Verkehrsmittel umzusteigen?
Verkehrsgutachter haben festgestellt, daß in Berlin-Mitte der "modal split" (die Verkehrsaufteilung auf die unterschiedlichen Verkehrsmittel) von 60:40 (60% motorisierter Individualverkehr zu 40% öffentlichem Verkehr) auf 20% MIV : 80% ÖPNV umgedreht werden muß, wenn sich überhaupt noch ein Rad drehen soll! Die Verwaltung des Verkehrssenators betreibt Zahlenakrobatik, wenn sie dieses geforderte Aufteilungsverhältnis nur auf den Zuwachs des Verkehrs bezieht. Dies soll davon ablenken, daß längst Entscheidungen von anderen Größenordnungen nötig sind, um die Mobilität zu retten. Allerdings sind diese durch die Gewichtsetzung der Verkehrsverwaltung nicht in Sichtweite. Stattdessen bleibt sie auf den sei den 60er Jahren eingeschlagenen Fahrspuren, die in die "autogerechte Stadt" führen sollten. Sie nehmen weder die negativen Ergebnisse konsequenter Durchführung dieser Ideologie (wie z.B. die Stadtzerstörung in Los Angeles) noch die moderne Verkehrswissenschaft zur Kenntnis.
Neue (alte) Autobahnplanungen, ein "Innenstadtring", weitere "Tangenten" wie auch Verbindungsstraßen und Straßenverbreiterungen statt -rückbau werden von dieser Verwaltung weiterhin verfolgt. In 31 Tempo-30-Straßen soll wieder Tempo 50 gefahren werden. Parkplätze und -häuser sollen reichlich gebaut werden. Der Tiergartentunnel soll dem Nord-Süd-Verkehr ein flüssiges Autofahren ermöglichen und zugleich unendlich viele Gelder binden, die dem öffentlichen Verkehr vorenthalten werden. Busspuren werden eingeschränkt statt zeitlich erweitert und verlängert zu werden. Dahinter steckt Methode! Wann wird diesen Verkehrsplanern in der Senatsverwaltung der Zeichenstift endlich aus der Hand genommen? Wann werden sie an diesen unzeitgemäßen Tätigkeiten endlich gehindert und durch neue Fachleute mit neuen Aufgaben ersetzt?
Niemand muß sich als ausgesprochener Umweltschützer bezeichnen, um die Umkehr in der Verkehrspolitik zu fordern. Jeder sollte nur die Augen aufmachen, die Schuldigen beim Namen nennen und im privaten Kreis wie auch in öffentlichen Versammlungen laut genug auf die öffentüchen Mißstände hinweisen. Alle haben darunter zu leiden, insbesondere die "schwachen" Verkehrsteilnehmer wie Kinder, ältere Bürger, Geh- und Sehbehinderte.
Die moderne Straßenbahn ist das einzige Verkehrsmittel, das diese verfahrene Situation retten kann. Nur sie kann schnell und billig gebaut werden und wird als einzige Umsteigealternative auch von Autofahrern akzeptiert. Sie hat nicht die Nachteile der U- und S-Bahn (Treppensteigen, Tunnel- und Brückenkonstruktionen, Kellerfahrten, teure Signaltechnik und Beleuchtung), sondern ist überall sichtbar (Gleise, Fahrdraht, Fahrzeuge) und kann in extrem kurzen Fahrtakten fahren. Durch Verlängern der Züge können Beförderungskapazitäten vergleichbar mit der U-Bahn erreicht werden. Abgase und Lärm sind gering und machen Straßenbahnen schon aus diesem Grund zum Gebot der Stunde. Kurze Bauzeiten und geringe Bau-, Anschaffungs- und Unterhaltungskosten lassen eine schnelle Verwirklichung eines Netzes auch im Westteil der Stadt zu.
Bereits vor einem Jahr, am 15. August 1991, haben sechs Verkehrs- und Umweltinitiativen als AG Straßenbahn das Konzept "Tra(u)mstadt Berlin" veröffentlicht, ein erstes Netz für den Westteil mit Netzerweiterungen auch für bestehende Straßenbahnstrecken im Ostteil. In drei Stufen werden darin 80 km Neubaustrecken bis zum Jahr 2000 vorgeschlagen. Die BVG hat in ihrem Tramkonzept viele entsprechende Vorschläge gemacht, sogar bei den von der Verkehrs- und der Bauverwaltung abgelehnten Strecken über die Oberbaumbrücke und durch die Friedrichstraße. Doch das seit eineinhalb Jahren versprochene Straßenbahnkonzept der Verkehrsverwaltung läßt weiter auf sich warten. Nach internen Informationen ist es immer weiter abgespeckt worden. Zudem sind der BVG in ihrem Haushalt 150 Mio. DM gestrichen worden; die Linienstillegungen im Ostteil Berlins gehen weiter. Die notwendigen Planfeststellungsverfahren sind immer noch nicht in Gang gesetzt - bezeichnenderweise mit der Begründung, es fehle ein Gesamtkonzept. Dieses ist immer noch nicht in Sicht, da nur 2 (!) Mitarbeiter der Verkehrsverwaltung (durch Anweisung "von oben" hermetisch abgeschottet) daran arbeiten. Die Anschaffung von neuen Fahrzeugen wird auf die lange Bank geschoben, während alte Fahrzeuge kontinuierlich aus dem Verkehr gezogen werden.
Es ist höchste Zeit für die Verwirklichung der von der AG Straßenbahn und der BVG vorgeschlagenen Straßenbahnpläne, denn der Verkehrsstau wird täglich länger. Zusätzlich müssen durch drastische Verteuerung von Benzin, Parken und Fahrzeugentsorgung die Verursacherkosten auf die Autofahrer umgelegt werden, es bedarf der Geschwindigkeitsbeschränkung von Tempo 30 für die gesamte Stadt, Parkplätze und Straßen müssen zügig zurückgebaut werden. Busse und Straßenbahnen müssen endlich durch Vorrang- und Pförtnerschaltungen Vorfahrt erhalten. Autofahrer müssen mit einer Nahverkehrsabgabe die öffentlichen Verkehrsmittel direkt unterstützen.
Am Beispiel der Oberbaumbrücken-Entscheidung haben wir sehen können, was Druck auf Behörden und Parlamentarier bewirken kann. Die bestehenden Initiativen für die Förderung der Straßenbahn können Unterstützung gut gebrauchen. Also, frisch ans Werk, denn ohne starke Arme stehen alle Räder still!
Bürgerinitiative Westtangente
aus SIGNAL 8/1992 (Oktober 1992), Seite 7-8