Nahverkehr
Seit Antritt des SPD-CDU-Senates Anfang 1991 versuchen Verkehrssenator Herwig Haase und vor allem sein Staatssekretär Ingo Schmitt (beide CDU) zahlreiche erfolgreiche Projekte des vorherigen SPD-AL-Senates zu demontieren. Allzu oft, z.B. bei der Havelchaussee und Tempo 30, waren sie erfolgreich. Bei den Sonderfahrstreifen auf dem Kurfürstendamm sind sie bisher jedoch gescheitert. Zwar gelang es ihnen auch hier, die SPD im Abgeordnetenhaus mit ihrer farblosen verkehrspolitischen Sprecherin über den Tisch zu ziehen, doch sie unterschätzen den Widerstand einer breiten Öffentlichkeit einschließlich der SPD-Basis. Noch gelten die Sonderfahrstreifen rund um die Uhr!
1. Sep 1992
Ende Juni glaubte Staatssekretär Schmitt schon am Ziel zu sein. Voller stolz ließ er den Landespressedienst des Senates am 10. Juli verkünden: "Nach Anhörung der betroffenen Bezirke ist Ende Juni die straßenverkehrsbehördliche Anordnung zur zeitlichen Befristung der Bussonderfahrstreifen auf dem Kurfürstendamm, der Tauentzien- und Kleisstraße ergangen. Damit werden die derzeit unbefristeten Geltungszeiten der Busspuren eingeschränkt. Zukünftig sind die Sonderfahrstreifen lediglich von Montag bis Freitag und an jedem ersten Sonnabend im Monat von 9.00 bis 19.00 Uhr, an den übrigen Sonnabenden von 9.00 bis 14.00 Uhr in Betrieb. Staatssekretär Ingo Schmitt ... verlieh seiner Erwartung Ausdruck, daß die Bezirke für die Umsetzung der Anordnung die verkehrsarme Zeit während der Sommerpause nutzen sollten. ... Schmitt: 'Die zeitliche Befristung der Busspuren ist zwingend geboten, da die durchgehende Geltungsdauer verkehrlich unangemessen und nur politisch von dem Ziel motiviert war, den Individualverkehr zu verdrängen. Ziel dieses Senats ist jedoch nicht, den Autofahrern das Leben unnötig schwer zu machen, sondern den öffentlichen Verkehr auf der Oberfläche dort zu bevorrechtigen, wo er ansonsten im Stau stecken bleiben würde. Wenn an bestimmten Tagen und zu bestimmten Tageszeiten kern Stau vorhanden ist, sind Beschleunigungsmaßnahmen nicht erforderlich."'
Daß auf dem Kurfürstendamm gerade zwischen 19 und 20 Uhr und nach 22 Uhr besonders viel Verkehr mit häufigen Staus ist, ist dem Charlottenburger Ingo Schmitt offensichtlich entgangen. Doch solche Sachargumente scheinen ihn in seinem verbissenen Kampf ohnehin nicht zu interessieren. Die Baustadträte der betroffenen Bezirke versuchten es trotzdem. Statt der Anordnung zu folgen, nutzten Sie die Sommerpause für ein ausführliches Schreiben an den Verkehrssenator Haase:
"Sehr geehrter Herr Senator,
seit der Anordnung zur zeitlichen Einschränkung
der Kombibusspur für BVG-Busse, Taxen,
Rettungsverkehr, Busse im Gelegenheitsverkehr
und Radverkehr im Straßenzug
Kleiststraße - Tauentzienstraße - Kurfürstendamm
haben Abstimmungen mit Ihrem Haus
bzw. der Straßenverkehrsbehörde stattgefunden,
die die Fragwürdigkeit dieser Anordnung
nur noch deutlicher gemacht haben:
Die Kombibusspur im o.g. Straßenzug hat inzwischen in der Berliner Bevölkerung eine hohe Akzeptanz gefunden. Die BVG hat erwiesenermaßen beträchtliche finanzielle Einsparungen durch Zeitgewinne erzielt. Für das Fahrpersonal der BVG gibt es spürbare Erleichterungen in dem sonst sehr aufreibenden Verkehr; ähnliches gilt für den Taxen verkehr, die Rundfahrt- und Touristenbusse wie auch für den Radverkehr. Besonders augenfällig ist, daß für den Rettungsverkehr in dem dicht bebauten Innenstadtgebiet einige wichtige Straßen von Staus freie Spuren aufweisen müssen; dies in Frage zu stellen hieße, Menschenleben bewußt aufs Spiel zu setzen.
Der Kurfürstendamm hat rund um die Uhr an allen Wochentagen so viel Geschäfts- bzw. Freizeitverkehr, daß die Kombibusspur geradezu Voraussetzung für die Lebensfähigkeit der City ist. Die Gültigkeit der Kombibusspur in den Morgenstunden bis 9.00 Uhr aufzuheben, wie von Ihnen gefordert, bedeutet doch auch, Berufspendler im Auto verstärkt in die City hineinzulassen, obwohl auch Sie propagieren, besonders die Berufspendler zum Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel anzuhalten, um letztlich ein Nutzungsverhältnis von 80 : 20 (öffentlicher Verkehr zu privatem Fahrzeugverkehr) zu erreichen.
Sehr geehrter Herr Professor Haase, es darf nicht geschehen, daß eine bewährte Verkehrslösung, die selbst für zahlreiche europäische Großstädte zum Vorbild geworden ist, gegen alle vernünftige Erkenntnis und Akzeptanz durch konzeptionslose Schritte in Frage gestellt wird. Berlin kann es sich besonders in Zeiten äußerster Finanznot nicht leisten, 100.000,- DM für fragwürdige, kontraproduktive Provisorien zu verschleudern. Wir wenden uns daher in gemeinsamer Verantwortung mit der dringenden Forderung an Sie, die Anordnung zur Einschränkung der Kombibusspur zu überprüfen und rückgängig machen. So lange Sie unsere hier zusammengefaßten Argumente nicht überzeugend entkräften, halten wir es jedenfalls nicht für vertretbar, an der bewährten Kombibusspur derart Grundlegendes zu ändern. Wir haben entsprechende Anweisungen an unsere Tiefbauämter gegeben.
Nachtrag: Wegen der besonderen öffentlichen Bedeutung und des allgemeinen Interesses geben wir dieses Schreiben als "Offenen Brief an die betroffenen Institutionen und Verbände sowie an die Medien.
Mit freundlichen Grüßen
Bärbel Hiller,
in Vertretung für den Baustadtrat in Schöneberg
Uwe Szelag,
Baustadtrat in Wilmersdorf
Claus Dyckhoff,
Baustadtrat in Charlottenburg"
Die Überraschung und Verärgerung über diesen couragierten Widerstand waren groß. Folglich enthielt das Antwortschreiben, wieder von Herrn Schmitt verfaßt, auch keine Argumente, sondern handfeste Drohungen:
"Sehr geehrte Herren Bezirksstadträte,
Sie haben in Ihrem Schreiben vom 19.8.92 in
Aussicht gestellt, Ihre Tiefbauämter anzuweisen,
die straßenverkehrsbehördliche Anordnung
des Polizeipräsidenten in Berlin warn
29. Juni 1992 nicht auszuführen. Diese Äußerung
zwingt mich dazu, die Ihnen anscheinend
nicht hinreichend bekannte geltende
Rechtslage zu verdeutlichen: Gemäß § 45
Abs. 5 Straßenverkehrsordnung ist der Baulastträger
verpflichtet, entsprechend der Anordnung
der Straßenverkehrsbehörde Verkehrszeichen
zu beschaffen, anzubringen, zu
unterhalten und zu entfernen. In dem hier
angesprochenen Fall obliegt die Aufgabe der
Straßenbaulast Ihren Tießauämtern. Die erforderliche
straßenverkehrsbehördliche Anordnung
liegt Ihren Tiefbauämtem vor. Diese
Anordnung ist auch vollziehbar. Dies hat
eine Besprechung beim Polizeipräsidenten in
Berlin, an der auch Vertreter Ihrer Tiefbauämter
teilgenommen haben, bestätigt. Zusätzlicher
Regelpläne bedarf es nicht. Die Haushaltsmittel
zur Finanzierung dieser Vollzugsmaßnahme
werden zur Verfügung gestellt.
Entgegen Ihrer Annahme handelt es sich hierbei
um Unterhaltungsmittel.
Einer nochmaligen Erörterung der Gründe für die straßenverkehrsbehördliche Anordnung bedarf es nicht. Diese sind Ihnen hinreichend bekannt. Eine solche Erörterung wäre im übrigen auch für die Vollzugsverpflichtung Ihrer Tießauämter ohne Relevanz. Ich gehe davon aus, daß Sie davon absehen werden, Ihre Tießauämter zu der rechtswidrigen Verhaltensweise der Verweigerung der Ausführung einer straßenverkehrsbehördlichen Anordnung zu veranlassen. Ich bitte, mir bis zum 28. August 1992 zu bestätigen, daß Ihre Tießauämter unverzüglich mit dem Vollzug der Anordnung beginnen werden. Vorsorglich weise ich darauf hin, daß ich mich anderenfalls gezwungen sehen werde, die Senatsverwaltung für Inneres um Einleitung der erforderlichen Maßnahmen der Bezirksaufsicht zu bitten.
Mit freundlichem Gruß
In Vertretung
Ingo Schmitt
Staatssekretär"
Doch der gezückte Knüppel konnte die unartigen Stadträte nicht beeindrucken. Vielmehr erhielten Sie von vielen Seiten aufmunternde und unterstützende Briefe, u.a. auch von der IGEB. Und selbst die Taxifahrer, deren konkurrierende Verbände sich in der Vergangenheit mehr gegeneinander als miteinander engagierten, wurden nun aktiv. In einer gemeinsamen Pressekonferenz der Berliner Taxi-Vereinigung (BTV), des Verbandes des Berliner Taxigewerbes (VBT), des VCD, des BUND und des Berliner Fahrgastverbandes IGEB erläuterten die Baustadträte Anfang September ihre Position noch einmal der Öffentlichkeit und unterstrichen zusammen mit allen Vertretern der Verbände ihre Gesprächsbereitschaft. Da der Verkehrssenator sich jedoch weiterhin verweigerte, riefen die BTV und der VBT für die Mittagstunden des 30. September zu einer Demonstrationsfahrt vom Ku'damm zum Roten Rathaus auf, wo dem Regierenden Bürgermeister eine Resolution zum Erhalt der Busspuren in der bisherigen Form übergeben wurde. An der Demonstration mit über 1.000 Taxifahrern beteiligte sich auch der Berliner Fahrgastverband IGEB mit einem roten Doppeldecker und unterstrich damit die Notwendigkeit der Busspuren für die Fahrgäste.
IGEB
aus SIGNAL 8/1992 (Oktober 1992), Seite 10-12