Aktuell

BVG-Fahrplanwechsel 1993

Fortschritte und Rückschritte als Ergebnis guter BVG-Planung und schlechter Senatspolitik


IGEB

1. Jul 1993

Auch der Fahrplanwechsel 1993 brachte für viele Fahrgäste der BVG einschneidende Veränderungen. Wichtigste Neuerung war die völlige Umstrukturierung des Tram-Netzes, die - von kleinen Ausnahmen abgesehen - insgesamt als deutliche Verbesserung bewertet werden kann. Das gilt auch für das im Ostteil Berlins grundlegend veränderte Nachtliniennetz. Demgegenüber sind die Veränderungen im Tagesverkehr der BVG geprägt durch erneute Ausdünnungen beim Bus, vor allem im Fahrplan, aber auch im Liniennetz.

Die vielen Änderungen stellten an die BVG besondere Anforderungen hinsichtlich der Fahrgastinformation, die diesmal als umfangreich und insgesamt auch als gelungen bezeichnet werden kann. Das gilt insbesondere für das Heft "Berlin im Takt" mit seinen herausnehmbaren 12 Stadtteilkarten und den sonstigen Hinweisen. Es kann das (immerhin dünner gewordene) Kursbuch zwar nicht ersetzen, aber durch Grundinformationen über das veränderte Netz und die Taktfolgcn stellt es eine handliche und kostenlose (!) Alternative zum Kursbuch dar. Positiv, wenn auch graphisch noch nicht perfekt, sind die neu entwickelte "Tramnetz-Spinne" und der überarbeitete Nachtlinienplan.

U-Bahn: die alten Ärgernisse

Im U-Bahn-Fahrplan hat sich, wie in den letzten drei Jahrzehnten üblich, kaum etwas verändert. Für die BVG endet z.B. der morgendliche Berufsverkehr weiterhin um 8.00 Uhr. denn dann wird auf den Linien U l, U5, U6 und U9 jeder dritte Zug aufs Abstellgleis rangiert - sollen die Fahrgäste doch sehen wie sie in die überfüllten Züge reinkommen. Auch der lange Einkaufs-Donnerstag ist bei den Fahrplanstrategen der U-Bahn noch nicht angekommen: Allwöchentlich überquellende Züge im 10-Minuten-Takt. Nur die Betriebszeiten sind am Freitagabend entsprechend der größeren Nachfrage um eine eine halbe Stunde (wie am Sonnabend) verlängert worden. Leider ist damit noch immer keine Vertaktung im Spätverkehr erfolgt, und die Darstellung im Kursbuch-Fahrplan ist selbst für geneigte Leser nicht mehr überschaubar.

Alles neu bei der Tram

Eine sinnvolle Ergänzung gab es im Tramnetz durch die Einbeziehung der bisherigen Betriebsstrecke über Scheffel- und Eldenaer Straße in den Linienbetrieb. Foto: I. Schmidt

Die Neustrukturierung des Tram-Netzes kann insgesamt als positiv bewertet werden. Bemerkenswert sind zwei Änderungen im befahrenen Netz: So wird die bisherige Betriebsstrecke Scheffelstraße - Eldenaer Straße jetzt von der neuen Linie 22 befahren. Dagegen wird der bisher von der Linie 82 befahrene ca. 400 m lange Abschnitt in der Hauptstraße am Ostkreuz nicht mehr bedient. Diese Stillegung ist zwar ärgerlich, aber weil die Züge in der Hauptstraße praktisch ganztägig im Stau standen, machte die Benutzung dieser Linie für den Fahrgast ohnehin keinen Sinn mehr. Mit einer solch fatalen Strategie könnte die Tram natürlich bald noch an vielen anderen Stellen der Stadt eingestellt werden. Wie die IGEB bei Umfragen festgestellt hat. meiden schon heute viele (ehemalige) Fahrgäste die Tram in der Brückenstraße und laufen z.T. über einen Kilometer zum S-Bf. Schöneweide - bis sie eines Tages aufs Auto umsteigen ...

Nur vier Linien im 10-Minuten-Takt

Mit fadescheinigen Geht-nicht-Argumenten wurde immer wieder die IGEB-Forderung nach Einrichtung einer günstigeren Ankunfts-Haltestelle am Hackeschen Markt verhindert. Seit dem Fahrplanwechsel geht es nun doch, und zehntausende von umsteigenden Fahrgästen zur S-Bahn profitieren von dem zwar nicht optimalen, aber immerhin deutlich kürzeren Umsteigeweg zur S-Bahn. Foto: I. Schmidt

Das Fahrplanangebot im neuen Tram-Netz macht deutlich, daß nicht alle der vollmundigen Versprechungen im Zusammenhang mit der Neustrukturierung eingelöst wurden. So fahren von den nunmehr 26 Tramlinien weiterhin zwei nur tagsüber (davon eine auch nicht am Wochenende), und weitere drei Linien verkehren abends und zu unterschiedlichen Zeiten am Wochenende nur auf einer verkürzten Linienführung. Wesentlich ist natürlich auch, daß sich der ganztägige 10-Minuten-Takt nicht auf die einzelnen Linien, sondern auf die Strecken bezieht. Ein tagsüber durchgehender 10-Minuten-Takt ist auf lediglich 4 Linien realisiert!

Auf vielen Linien werden nur einzelne Streckenabschnitte ganztägig im 10-Minuten-Takt bedient. So endet z.B. auf der Linie 26 jeder zweite Zug bereits in der Kleingartenkolonie an der Gehrenseestraße, während in das Hauptzielgebiet der Fahrgäste, die Großsiedlung Hohenschönhausen. nur ein 20-Minuten-Takt angeboten wird. Diese Mängel resultieren jedoch im wesentlichen aus der falschen verkehrspolitischen Vorgabe, das in den letzten beiden Jahren drastisch ausgedünnte Verkehrsangebot bei der Tram nun auf niedrigstem Niveau festzuschreiben und stellen nicht die verbesserte Grundstruktur des Liniennetzes in Frage.

Weil die Linie 82 in endlosen Autostaus in der Hauptstraße am S-Bf. Ostkreuz hängen blieb, wurde die Strecke kurzerhand eingestellt. Nur ein Einzelfall? Leider nicht, erinnert sei an die Einstellung des Busverkehrs durch die verstopfte Leonhardstraße in Charlottenburg. Auch damals wurde behauptet, daß es ein Einzelfall bleiben werde. Foto: I. Schmidt

IGEB-Vorschlag: Tramlinie 11

An einem Punkt jedoch ist das neue Liniennetz dringend überarbeitungsbedürftig: Durch den Wegfall der durchgehenden Verbindung aus der Prenzlauer Allee in die Langhansstraße und weiter nach Weißensee (bisherige Linie 20) haben sehr viele Fahrgäste gravierende Nachteile, zumal die Umsteigesituation an der Weißenseer Spitze katastrophal ist. So ist z.B. aus dem Bereich Langhansstraße auch der nächstgelegene S-Bahnhof nicht mehr umsteigefrei zu erreichen. Die IGEB schlägt daher vor, die ganztägig bis Am Steinberg verkehrenden Verstärkerzüge der Linie 1 über Langhansstraße nach Weißensee als Ergänzungslinie 11 zur Hansastraße weiterzuführen. Denkbar wäre aber auch eine Weiterführung im Zuge der Linie 23 bis Scharnweberstraße, wodurch die als Relikt übernommene und überflüssige Linie 17 (deren einzige Funktion offenbar die Verhinderung eines ganztägigen 10-Min-Taktes auf der so wichtigen Linie 7 ist) ersetzt werden könnte.

Ärgerlich sind darüber hinaus auch eine Reihe von fahrplantechnischen Mängeln. So fährt z.B. im Zuge der alten, früher durchgehenden Linie 17 die am S-Bf. Schöneweide einsetzende Linie 21 immer gerade kurz vor der aus Johannisthal kommenden Linie 67 ab. Häufig wäre ein Umsteigen am S-Bf. Schöneweide dennoch möglich, weil beide Züge (wenn auch in der falschen Reihenfolge) hintereinander an der Haltestelle ankommen. Aber ein schlauer Kopf bei der BVG kam auf die geniale Idee, die bisherige Doppelhaltestelle aufzuheben und somit jeden Umsteigeanschluß zu verhindern. Nicht nachvollziehbar ist auch der ausgerechnet auf der Linie 60 angebotene 12-Minuten-Takt, der weder die notwendigen Anschlüsse zur S-Bahn in Spindlersfeld noch zu irgendeiner anderen Tram- oder Buslinie gewährleistet.

Nachts keine Mauer mehr

Völlig neu gestaltet wurde das Nachtliniennetz für den Ostteil Berlins. Damit verbunden sind die Reduzierung auf nur noch vier Nacht-Tramlinien und die Einführung einer Vielzahl von Taxilinien in den Außenbezirken, die häufig einen kostenlosen Haustür-Service ermöglichen. Insgesamt kann die Umstrukturierung mit dem neuen Umsteigeknoten am Hackeschen Markt als gelungen bezeichnet werden. Besonders hervorzuheben ist, daß der Verlauf der Berliner Mauer im Nachtliniennetz kaum noch festzustellen ist. Als "Abfallprodukt" gibt es kleine, aber wichtige Verbesserungen im Westteil, z.B. durch den neuen N84 oder die Umsetzung der IGEB-Forderung nach Verlängerung der Buslinie N19 nach Britz.

Neuerungen im Busnetz

Etliche Linienänderungen gab es beim Bus auch im Tagesnetz. Hier erfolgten eine Reihe von seit Jahren längst überfälligen Linienanpassungen im Westteil wie auch einige wesentliche Verbesserungen im "Ost-West-Verkehr", die hier nur auszugsweise erwähnt werden sollen.

Acht Jahre nach der Wiederinbetriebnahme der Wannseebahn haben nun endlich auch die Anwohner entlang der Buslinie 383 eine Umsteigemöglichkeit zur S-Bahn-Linie 1. Der 383er verkehrt jetzt über Rathaus Steglitz statt Tiburtius-Brücke. Foto: Matthias Horth

Acht Jahre nach Wiederinbetriebnahme der Wannseebahn hat es die BVG nun geschafft, die Buslinie 383 über Rathaus Steglitz zu führen und so eine Umsteigemöglichkeit zur S-Bahn zu schaffen! Wir geben die Hoffnung nicht auf, daß derartige Selbstverständlichkeiten auch an anderen Stellen (z.B. Buslinie 124 an den S-Bf. Wittenau-Nordbahn) noch vor Ablauf dieses Jahrtausends möglich sind.

Durchweg positiv zu werten sind weitere kleinräumige Neuordnungen. z.B. der Tausch der nördlichen Linienäste der Buslinien 110 und 204, woraus eine sinnvolle Anbindung an die U7 resultiert. Mehr als ein Schönheitsfehler ist allerdings die drastische Verschlechterung für Umsteiger vom Bus 110 zum S-Bf. Charlottenburg. Hier müssen schnellstens Haltestellen in der Kaiser-Friedrich-Straße unmittelbar nördlich der Bahntrasse geschaffen werden. Von den Veränderungen in Moabit werden die Mehrzahl der Fahrgäste profitieren, aber insbesondere durch den Fortfall des 106ers in der Relation Stadtbahn - Perleberger Straße entstehen einigen auch deutliche Nachteile.

Statt eines Fahrplanaushangs die Aufforderung zur Beschwerde. Die Einstellung der Buslinie 106, eine im Grundsatz richtige Entscheidung, führte im Bereich Perleberger/Wilsnacker Straße zu Protesten, unter anderem, weil diese dicht besiedelte Gegend nunmehr keinen Zubringer zur Stadtbahn hat. Foto: Frank Böhnke

Aus der Fertigstellung der Bauarbeiten an der Schillingbrücke resultieren eine Reihe von Linienveränderungen im Raum Kreuzberg. Mitte und Friedriehshain mit sinnvollen kleinräumigen Verknüpfungen und einer deutlich verbesserten Anbindung des Hauptbahnhofes nach Kreuzberg. Etliche Linienveränderungen im Ostteil sind jedoch reine Einsparmaßnahmcn mit mehr oder weniger gravierenden Netzauswirkungen, aber immer mit Takterweiterungen auf den betroffenen Streckenabschnitten als Resultat für den Fahrgast. Beipielhaft seien nur die Strecken Verkürzungen der Buslinie 199 im Raum Springpfuhl/Hellersdorf oder der Wegfall der Buslinie 240 zwischen Robert-Koch-Platz und Mollknoten genannt.

Taktausdünnungen auf über 40 Buslinien

Neben diesen Linienänderungen gab es aber mit dem Fahrplanwechsel noch viel bedeutsamere Verschlechterungen durch erhebliche Taktausdünnungen, vor allem im Westteil. Die jetzt erfolgte einheitliche Umstellung der Busfahrpläne auf einen 10-oder 20-Minuten-Grundtakt bringt zwar auf einigen wenigen Linien Verbesserungen durch Taktverdichtung, aber auf über 40 Buslinien eine deutliche Angebotsverschlechterung. Viele Linien, die bisher z.B. tagsüber noch alle 15 Minuten verkehrten, fahren jetzt nur noch im 20-Minuten-Takt. Da viele Fahrpläne durch die immer gravierender werdenden Staus ohnehin nur noch Makulatur sind, entstehen für die Fahrgäste häufig unkalkulierbare "Lücken" von bis zu einer halben Stunde.

Damit wurde zum fünften Mal seit Anfang 1992 das Angebot bei den BVG-Buslinien drastisch reduziert. So ist z.B. der im März 1992 auf den Ost-Berliner Buslinien eingeführte sogenannte "Notfahrplan" inzwischen stillschweigend zum "Normal fahrplan" geworden. Seit Amtsantritt von Verkehrssenator Haase sind bei 90% der BVG-Buslinien Angebotseinschränkungen vorgenommen worden! Aufgrund seiner Verkehrspolitik ist die BVG gezwungen, immer mehr Busse in die immer länger werdenden Staus zu schicken. Viele Busse fahren selbst außerhalb des Berufsverkehrs oft nur noch im Schrittempo durch die Straßen.

Busse weiterhin im Schrittempo

Weil die Senatsverkehrsverwaltung z.B. weiterhin die Einrichtung von Busspuren in der Potsdamer und Leipziger Straße sabotiert und die polizeiliche Überwachung der vorhandenen, auf den Berufsverkehr befristeten Busspuren aufgegeben wurde, mußte zum Fahrplanwechsel die Fahrzeit aller hier verkehrenden Buslinien erneut verlängert werden. So beträgt die jetzt im Fahrplan zugrunde gelegte Fahrzeit der Buslinie 348 für die ca. 2 km lange Strecke zwischen U-Bf. Kurfürstenstraße und U-Bf. Mohrenstraße 17 Minuten. Dies entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von ca. 7 km/h!

Durch diese katastrophale Verkehrssituation und den gleichzeitgen Sparzwang blieb der BVG nichts anderes übrig, als die Takte der hier verkehrenden Linien deutlich zu strecken. Erreichte die Potsdamer Straße bisher selbst außerhalb des Berufsverkehrs knapp den von der Senatsverkehrsverwaltung als Limit für die Einführung einer Busspur gesetzten Wert von 15 Bussen je Stunde, so fahren durch Linienstreichungen und Taktausdünnungen jetzt nur noch 9 Busse - und schon verweigert die Verkehrsverwaltung auch hier die dringend erforderlichen Busspuren.

Der bekannte Teufelskreis

Vor diesem Hintergrund fordert die IGEB, den bisherigen 15-Min-Takt nicht durch einen 20-, sondern durch einen 10-Minuten-Takt zu ersetzen und sofort das vor einem Jahr vom Senat beschlossene Beschleunigungskonzept und die zwischen den beiden Regierungsparteien im Dezember 1992 geschlossene Koalitionsvereinbarung (die sogar eine Beschleunigung auf 270 km Busnetz noch im Jahr 1993 vorsieht) umzusetzen. Sollten auch diese Ankündigungen wiederum tatenlos verhallen, werden die kommenden Fahrplanwechsel wohl noch gravierendere Angebotsverschlechterungen bringen, die zusammen mit den angekündigten Tariferhöhungen den altbekannten Teufelskreis von schlechterem Angebot und immer weniger Fahrgästen weiter beschleunigen.

IGEB

aus SIGNAL 5/1993 (Juli 1993), Seite 4-7