Planung
1. Jul 1993
Es bleibt dann also die Kernfrage: Wie kann das Verhältnis 80 : 20 [80% ÖPNV-Anteil. 20% MIV-Anteil] erreichen? Und besonders: In welchem Zeitraum ist das möglich? Erfolgt also diese Entwicklung parallel zu den Investitionen im privaten Bereich? Wenn man sich die Finanzierungsmöglichkeiten ansieht, die das Land Berlin hat, dann muß man feststellen, daß neben den unbedingt erforderlichen Sanierungsarbeiten an Straßenbahn, U-Bahn und S-Bahn mit Sicherheit bis zum Jahre 2000 - Stichpunkt Regierungsumzug und Olympiade - nur hergestellt werden können:
Damit stehen alle anderen geplanten Verkehrsverbindungen - das muß man hier ganz besonders deutlich machen für den U-Bahn-Bau - nicht zur Verfügung, weder die U5 zwischen Alexanderplatz und Lehrter Bahnhof als zusätzliche Ost-West-Verbindung noch die S21 von Yorckstraße über Gleisdreieck, Potsdamer Platz, Reichstag, Lehrter Bahnhof bis zum Nordring oder zum Flughafen Tegel als zusätzliche Nord-Süd-Verbindung. Ich setze mal in Klammem: Das schließt nicht aus, daß die Rohbauarbeiten Für den Tunnel im Bereich des Potsdamer Platzes und des Reichstages/Spreebogens erfolgt sind. Aber zwischen Rohbauarbeiten und Verkehrsaufnahme ist noch ein erheblicher Zeitraum.
Wenn zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden, sind sie daher aus wirtschaftlichen und betrieblichen Gründen vorrangig in die Sanierung der Straßenbahn hineinzustecken. Bei dieser Situation insbesondere der fehlenden Ost-West-Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln, aber auch der fehlenden Nord-Süd-Verbindungcn in dem Bereich Nikolaiviertel/Rathaus sollte zwingend geprüft werden, ob es nicht zweckmäßig wäre, mindestens eine der Ost-West-Straßenbahnlinien im Zuge der Leipziger Straße und eine der Nord-Süd-Straßenbahnlinien im Zuge der Spandauer Straße zu bauen, wobei aus betrieblichen Gründen ein Stadtbahnquerschnitt mit gesondertem Gleiskörper vorzusehen wäre. Ich mache aber hier eine Anmerkung dazu: Ein Stadtbahnquerschnitt ist etwas sehr schönes, aber in Geschäftsstraßen unterbindet er das Queren der Straße durch diesen gesonderten Gleiskörper, weil ja die Straßenbahn da mit hoher Geschwindigkeit fährt. Man muß also hier genau abwägen, was man will. Will man die Stadtbahn oder will man die Straßenbahn? Das ist ein großer Unterschied. Daß heißt, in der Diskussion "Straßenbahn - ja oder nein?" wäre auch die Frage zu stellen, welche Art diese Straßenbahn haben soll. Wenn es gelingen sollte, zumindest diese beiden Straßenbahnlinien und die übrigen, von mir vorhin genannten U- und S-Bahn-Linien zu bauen, dann dürfte es möglich sein, den Verkehr in etwa 80 : 20 abwickeln zu können, wenn ich mal bestimmte Spitzenzeiten auslasse.
Auszug aus dem Referat "Erforderliche Infrastruktur in der Berliner Innenstadt", gehalten auf der 25. Sitzung des Stadtforums am 12.12.1992. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz.
(IGEB) Warum dieses alte Referat eines pensionierten Beamten? Herbert Liman, bis 1991 Leiter der Abteilung Verkehrswegebau bei der Berliner Senatsbauverwaltung, war in den letzten Jahrzehnten einer der wichtigsten "Umsetzer". Ohne ihn hätte der Senat so manches Straßen-, Autobahn- oder U-Bahn-Projekt nicht oder nur langsamer durchsetzen können. Wenn nun ein solcher Mann vor Illusionen warnt und für die Straßenbahn (!) plädiert, so hat dies erhebliche Bedeutung und sollte ßir alle "Betonköpfe " Anlaß zum Nachdenken sein. Und daß Herbert Limans Äußerungen fundiert waren, bestätigten inzwischen Mitarbeiter verschiedener Senatsverwaltungen: Wenn im Jahr 2000 der Lehrter Bahnhof stehen sollte, dann gebe es zwar einen U- und S-Bahn-Tunnel. Aber bis eine U-Bahn zum Alexanderplatz oder eine S-Bahn zum Flughafen Tegel fahren kann, würden noch viele Jahre vergehen. Vor allem die S-Bahn zum Flughafen, ein Bonner Wunsch, wolle in Berlin gar keiner haben. Ein Geheimnis? Mitnichten, im ausgestellten Flächennutzungsplanentwurf fährt nicht die S21, sondern die U5 zum Flughafen Tegel!
Herbert Liman
aus SIGNAL 5/1993 (Juli 1993), Seite 8-9