Nahverkehr

Weder höflich noch schnell: Fahr'n auf der Wannseebahn


IGEB

1. Jul 1993

Kennen Sie vom täglichen S-Bahn-Fahren den Ruf "Zurückbleiben bitte" oder auch "Bitte Zurückbleiben"? Dann arbeiten Sie vielleicht in Frankfurt/Main oder in München, denn dort ist diese höfliche Form üblich. In Berlin dagegen herrscht noch immer preußischer Kommandoton: "Zurückbleim!" heißt es hier. Mehrfach schon wurde die mangelnde Berliner Freundlichkeit im Umgang mit den Fahrgästen (bei der BVG: Beförderungsfälle) beklagt. Doch das freundliche, aber längere "Bitte", so meinen BVG und Reichsbahn, scheitere an den kurzen Aufenthaltszeiten den Bahnhöfen. Bei 24 Sekunden Aufenthalt pro Bahnhof, so wurde beim letzten S-Bahn-Sprechtag erläutert, müsse an jeder Silbe gespart werden, um eine pünktliche Beförderung sicherzustellen.

Dafür hat sicher jeder Verständnis, der rasch an sein Ziel kommen will. Manchmal jedoch, vor allem auf der Wannseebahn, befallen den eiligen Fahrgast leise Zweifel. Da sind alle, die an einer Station ihre Fahrt beginnen oder beenden, längst aus- und eingestiegen, als schließlich über den Bahnsteiglautsprecher der Ruf "Einsteigen" ertönt, sogar mit einem verschämten "Bitte" hinterher. Einige Zeit später - niemand ist eingestiegen, denn der Bahnsteig ist ja bereits leer - kommt dann der vertraute Ruf "Zurückbleiben". Und wieder einige Zeit später setzt sich die S-Bahn tatsächlich in Bewegung.

Der erleichterte Fahrgast, der ob des langen Wartens schon eine Signalstörung oder einen Motorschaden befürchtete, fragt sich nun. ob die Berliner Ansagen vielleicht doch etwas freundlicher gestaltet werden könnten. Im Mutterland des formvollendeten Umgangs, in England, sagt man "Stand clear of the doors, please." Die langen Stehzeiten auf der Wannseebahn bieten jedoch ausreichend Möglichkeiten, die Engländer sogar noch zu übertreffen, etwa mit "Liebe Fahrgäste, bitte bleiben Sie von den Türen zurück, der Zug fährt sogleich ab." Oder soll man lieber doch eine kürzere Aufenthaltszeit auf den Bahnhöfen fordern?

IGEB

aus SIGNAL 5/1993 (Juli 1993), Seite 15