Nahverkehr

Wannseebahn: Neuer Höhepunkt bei den Fahrgastschikanen durch Pendelverkehr


IGEB

1. Aug 1993

Nicht genug, daß der Flughafen Schönefeld den ganzen Sommer über nur im 20-Minuten-Pendelbetrieb angefahren wird (wegen einer Autobahnbaustelle !), daß auf der U-Bahn-Linie 6 abends wieder nur alle halbe Stunde ein Zug zwischen Wedding, Mitte und Kreuzberg fahrt, daß... Die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Nun also wird auch noch auf der Wannseebahn gependelt - und zwar derart umfangreich, daß die BVG im Wettlauf um die niederträchtigsten Pendelverkehre gegenüber der Reichsbahn erheblich aufholen konnte. Denn Fahrgäste aus Oranienburg, Wedding oder Berlin-Mitte, die in den Berliner Südwesten wollen, dürfen von morgens bis mittags vier bis Fünf Mal (in Zahlen 1+1+1+1+1) umsteigen und dabei drei Pendelzüge im 20-Minuten-Abstand genießen. An diesem Extrem-Beispiel wird zugleich deutlich, wie die Verkehrsbetriebe sich in vermeidbaren Sachzwängen verstricken.

Über zehn Wochen, vom 19. Juli bis 24. September, Finden Gleisbauarbeiten zwischen den benachbarten Bahnhöfen Lichterfelde West und Botanischer Garten statt, woraus man eine durchschnittliche Tagesleistung von 22 m Strecke errechnen kann. Dieser Abschnitt wird deshalb mit einem Pendelverkehr Sundgauer Straße - Rathaus Steglitz überbrückt. Zugleich wird auch zwischen Sundgauer Straße und Wannsee nur noch im 20-Minuten-Abstand gefahren. So weit, so schlecht. Da nun aber in Steglitz keine Kehrmöglichkeitkeit Für Regelzüge besteht, muß ab Rathaus Steglitz ein zweiter Pendelabschnitt anschließen. Zwar wurden in der Vergangenheit (beim Ausbau des Wolfensteindammes) umfangreiche Vorleistungen für Aufstell- und Kehrgleise südlich des S-Bahnhofs erbracht und wurden zuletzt nach Abschluß des aufwendigen Bahnhofsumbaus auch neue Aufstellgleise gelegt, doch der Anschluß an die Streckengleise fehlt noch immer.

Die nächste Kehrmöglichkeit ist somit in Schöneberg. Doch diese betriebsbereite, erst jüngst erneuerte Anlage wird, warum auch immer, nicht genutzt. Vielleicht wegen der Bauzäune auf dem Bahnsteig, die auf einem kurzen Stück die nutzbare Bahnsteigbreite einschränken? Da also Schöneberg unverständlicherweise nicht genutzt wird und die nächste Kehrmöglichkeit erst in Anhalter Bahnhof besteht, ist ein dritter Pendelzug erforderlich.

Die Regelzüge von Oranienburg müssen deshalb bereits in Anhalter Bahnhof kehren. Und hier gibt es noch eine Steigerung der Fahrgastschikanierung: Denn die "Verstärkerzüge" ab Frohnau enden bereits nördlicher, weil selbst im aufwendigst ausgebauten Anhalter Bahnhof die Kehrmöglichkeiten unzureichend sind - meint die BVG. Das genau für solche Fälle vorgesehene Gleis l, einstmals von der BVG gegen energische Einsparforderungen von Senator Wronski durchgesetzt, wird erneut nicht benutzt, weil der Pendelzug auf wenigen Metern auf der Trasse der S2 verkehren müßte. Ähnliches geschieht täglich auf dem S-Bf. Friedrichstraße (Stadtbahn), wo aussetzende Züge kurzzeitig das Gegengleis blockieren. Doch die BVG scheint nicht willens oder in der Lage zu sein, entsprechende Fahrstraßen zu stellen. Deshalb kommt der Pendelzug in Anhalter Bahnhof auf Gleis 3 in Konflikt mit den Regelzügen nach Norden, weshalb die "Verstärker" aus Frohnau bereits am Potsdamer Platz gekehrt werden - ohne Anschluß an den Pendelzug.

S-Bf. Westkreuz. Nicht weniger als 19 Aushänge informieren die Verehrten Fahrgäste. Wenn sie alle gelesen haben, wissen sie (vielleicht), warum ihr Zug gestern wieder früher fuhr, als im Kursbuch angegeben, und daß sie sich nach 22 Uhr besser gleich ein Taxi nehmen sollten, weil irgendwo auf ihrer Strecke garantiert ein bösartiger Pendelverkehr lauert. Foto: Jan Kutscher

In Potsdamer Platz wiederum ist die Kehranlage nur vom inneren Gleis zu erreichen, das zwar betriebsfähig hergestellt, aber durch Bauzäune abgeschirmt ist. Für den Fahrgastbetrieb ist nur die äußere Bahnsteigkante freigegeben. Daher werden die Reisenden der aus Frohnau kommenden Züge bereits in Friedrichstraße herausgeholt, und die Züge fahren leer zum Potsdamer Platz, um dort zu kehren... Reisende dieser Züge müssen also bereits in Friedrichstraße das erste Mal umsteigen (und 10 Minuten warten), bevor sie den Pendelverkehr in Anhalter Bahnhof erreichen und weitere vier Male den Zug wechseln dürfen, falls sie z.B. bis Zehlendorf fahren wollen.

Während es also unter "normalen Umständen" möglich wäre, den Pendelbetrieb auf Sundgauer Straße - Rathaus Steglitz oder wenigstens auf Sundgauer Straße - Rathaus Steglitz und Rathaus Steglitz - Schöneberg zu begrenzen, müssen nun z.B. Reisende von Gesundbrunnen nach Steglitz zwei oder drei Mal den Zug wechseln, ohne auf ihrer Strecke auch nur einen Bauarbeiter zu sehen. Und eine S-Bahn-Fahrt von Zehlendorf zum Potsdamer Platz dauert vormittags jetzt nicht weniger als 40 Minuten - mehr als doppelt so lange wie normal.

Wirklich "normal" wäre natürlich der Verzicht auf jeglichen Pendelverkehr zugunsten von Bauarbeiten in den nächtlichen Betriebspausen. Aber von solcher Normalität ist man in Deutschlands Hauptstadt anscheinend noch Lichtjahre entfernt - ausgenommen bei Autobahn- und ICE-Baustellen. Nicht verschwiegen werden soll aber, daß auch die BVG in der ersten Zeit nach der S-Bahn-Übernahme 1984 nachts baute, bis sie sich durch einige Anwohnerbeschwerden einschüchtern ließ.

IGEB

aus SIGNAL 6/1993 (August 1993), Seite 7-8