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Berlin '94

Ein Konzept für Sofortmaßnahmen im Eisenbahnverkehr der Hauptstadt


PRO BAHN und IGEB

1. Nov 1993

Nach dem Fall der Berliner Mauer hatte die Wiederherstellung der unterbrochenen Verkehrswege hohe Priorität. Innerhalb kürzester Zeit gelangen Planung und Umsetzung - beim Straßenbau. Allerdings sind inzwischen auch bei der Verknüpfung der Nahverkehrsnetze (mit Ausnahme der Straßenbahn) deutliche Fortschritte erkennbar. Völlig unbefriedigend sind demgegenüber die Fortschritte bei der Einbindung Berlins in das DR-Regionalbahnnetz. Lediglich zwei R-Linien überfahren bisher die "Grenze nach West-Berlin". Auch der seit dem 4. Juli zum Bahnhof Zoo verkehrende ICE kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die ehemalige Inselstadt für viele Bahnreisende noch immer schlecht erreichbar ist, obwohl allein in dieser Stadthälfte fast so viele Menschen leben wie im gesamten Land Brandenburg. Es muß befürchtet werden, daß sich an dieser Situation auch wenig ändern wird, solange fast alle Planungs- und Baukapazitäten in das Langzeitprojekt "Pilzkonzept" gesteckt werden. Deshalb fordern die Berliner Fahrgastverbände IGEB und PRO BAHN Sofortmaßnahmen und Zwischenlösungen und haben dafür ein Konzept erarbeitet.

Mit Sofortmaßnahmen und Zwischenlösungen soll zum einen verhindert werden, daß mit der geplanten Sperrung der Stadtbahn für die Bahnkunden ein kaum noch annehmbares Zugangebot geschaffen wird, wie es die Reichsbahn derzeit plant. Zum anderen soll der Langfristplanung des Berliner Senats eine kurzfristig realisierbare Alternative entgegengehalten werden. Dies ist vor allem auf die im Zusammenhang mit der Streichung der S-Bahn-Linie 21 einhergehenden Planungs- und Bauverzögerungen bei der Umsetzung des "Pilzkonzeptes" vonnöten.

Bf. Baumschulenweg, Blick nach Norden im Bild ist die Trasse des ehemaligen Fernbahngleis nach Neukölln zu sehen. Hier sollen nach den Vorstellungen des Konzeptes Berlin 94 bald wieder Züge fahren, darunter der IC zwischen Hamburg und Dresden (Linie 7). Foto: Georg Radke

Schon im Frühjahr wurden erste Überlegungen vorgenommen, wie das Zugangebot grundlegend verbessert werden kann, ohne damit die beschlossene Bahnplanung zu gefährden, denn Sofortmaßnahmen mit erheblichen Auswirkungen auf das "Pilzkonzept" haben derzeit keine Realisierungschancen. Rasch wurde der Kerngedanke formuliert, eine Ost-West-Durchquerung Berlins zu finden, ohne die zu sanierende und ab 1994 oder 95 für den Fernverkehr gesperrte Stadtbahn und den planungsbefangenen Nordring zu befahren.

Da umfangreiche Neubauprojekte aus Kostengründen nicht in Frage kommen, wurde der zur Zeit kaum genutzte südliche Berliner Innenring näher untersucht. Diese größtenteils viergleisige Bahnanlage bietet sich für eine Interimslösung an, da für eine vollständige Ost-West-Durchquerung Berlins lediglich eine im Zuge des Mauerbaus gekappte Verbindung zur Görlitzer Bahn wiederherzustellen ist. Die Fahrgastverbände IGEB und PRO BAHN schlagen vor, den bereits für den S-Bahn-Verkehr wiederaufgebauten Abschnitt Neukölln - Baumschulenweg auch für einen eingleisigen Fernverkehr wiederherzurichten, weil somit eine durchgehende Führung der IC-Linie 7 Hamburg - Dresden weiterhin möglich wäre. Die DR hingegen plant, diese Linie von Hamburg kommend nur bis zum Bahnhof Berlin Zoologischer Garten zu führen und die fehlende Durchbindung nach Dresden durch eine völlig unakzeptable Flügel-IC-Linie zu ersetzen, die von Nauen über den nördlichen Außenring und den Bahnhof Berlin-Lichtenberg geführt werden soll.

Nach der Konzeption der Fahrgastverbände sollen die Züge der IC-Linie 7 sowohl im Bahnhof Berlin-Schöneweide als auch in Westkreuz halten. Parallel zur Ringbahnhalle des Bahnhofs Westkreuz, für den die neue Bezeichnung "Berlin Messe" vorgeschlagen wird, könnte ein neuer IC-Bahnsteig gebaut werden. So wäre mit wenig Aufwand eine gute Erschließung der gesamten Stadt möglich.

Das Bahnkonzept "Berlin '94", ein 8-Punkte-Programm, schlägt als weitere Maßnahme die Einbeziehung der Wannseebahn als Zubringer zum Südring vor. Das Ferngleis dieser Strecke soll nach DR-Planungen für Baulogistikzüge genutzt werden. Dies darf jedoch eine Nutzung für den Regional- und Fernverkehr nicht ausschließen. Oder sind Güterkunden etwa wichtiger als Fahrgäste? Die Wannseebahn bietet zudem die Chance, Regionalzüge aus dem westlichen Umland Berlins stärker in und sogar - nach dem beschriebenen Südring-Lückenschluß - durch die Stadt zu führen. Am vorhandenen Stammbahnsteig des Bahnhofs Berlin-Zehlendorf kann gehalten werden. Zur besseren Verknüpfung mit den Berliner S- und U-Bahn-Linien sollten zudem an den S-Bahnhöfen Rathaus Steglitz und Berlin-Schöneberg einfache Bahnsteige für den Regionalverkehr angelegt werden. Die begrenzte Kapazität des Bahnhofs Berlin-Wannsee, die seitens der Bahn oft angeführt wird, könnte durch den Bau eines weiteren Seitenbahnsteigs am Ausgang Reichsbahnstraße erhöht werden.

Fernbahngleis am S-Bf. Westkreuz (Ringbahnhalle). Hier könnte ein Seitenbahnsteig für einen Fernbahnhalt Berlin Messe gebaut werden, an dem IC-, IR- und Regionalbahn-Züge halten. Foto: Georg Radke

"Fahren dort, wo Schienen liegen." Dieses Motto des Konzeptes steht auch bei der Forderung nach sofortiger Aufnahme des Regionalverkehrs auf der traditionellen Heidekrautbahn-Stammstrecke Pate. Zumindest ab dem Märkischen Viertel könnte der planmäßige Zugverkehr in die Schorfheide mit Schienenbussen aufgenommen werden. Die Fahrgastverbände schlagen als Endpunkt den Bahnhof Liebenwalde vor. Diese Linie könnte die vorhandene R8-Linie Berlin-Karow - Groß Schönebeck sinnvoll ergänzen, würde mehrere bedeutende Umlandgemeinden erschließen und wäre vor allem für die im ehemaligen Westteil der Stadt wohnenden Berliner eine Alternative zum Autoausflug. Die ungebrochene Beliebtheit dieser Verbindung wurde gerade erst mit einem neunwöchigen Ausflugsfahrten-Programm von PRO BAHN eindrucksvoll bestätigt. Mehrere tausend Ausflügler nutzten die zwischen Ausgust und Oktober eingesetzten Sonderzüge ab Wilhelmsruher Damm und fuhren nach Liebenwalde oder Groß Schönebeck.

Das Problem der fehlenden Umlandlückenschlüsse darf nach Ansicht der Fahrgastverbände nicht auf die lange Bank geschoben werden. Doch genau dies geht aus Verlautbarungen der Reichsbahn hervor. So ist es nicht hinnehmbar, daß der Lückenschluß zwischen Teltow und Berlin-Lichterfelde Ost anscheinend immer weiter verschoben wird. War zunächst die Fertigstellung gleichzeitig zur Wiederinbetriebnahme der S-Bahn nach Lichterfelde Ost im Gespräch, so gibt es nun Äußerungen, daß die Regionalzüge erst in mehreren Jahren hier verkehren können. Deshalb wird erneut die Forderung erhoben, zumindest eine eingleisige, nicht elektrifizierte Verbindung kurzfristig wiederaufzubauen.

Eine ähnliche Maßnahme erfordert die Wiederinbetriebnahme der Kremmener Bahn. Wurde zu West-Berliner Zeiten gerade auch von CDU-Politikern die sofortige Wiederherstellung dieser Strecke für ein Berlin ohne Mauer postuliert, so zeigt sich nun, daß dies nur Lippenbekenntnisse waren. Schlimmer noch: Der zuständige Verkehrssenator Herwig Haase, ein CDU-Mann, hat es bis heute noch nicht einmal für nötig gehalten, die vorhandenen S-Bahn-Gleise zwischen Berlin-Schönholz und Berlin-Tegel zu nutzen, geschweige denn die notwendigen Planungsverfahren zum Wiederaufbau der durch den Autobahn- und Mauerbau unterbrochenen Bahnstrecke einzuleiten. Stattdessen wurde bzw. wird zwischen Berlin. Brandenburg und der Bahn endlos über die "Systemfrage" diskutiert: Gleichstrom? Wechselstrom? Duo-S-Bahn? Und wer bezahlt's? Diese Fragen müssen natürlich geklärt werden, doch dürfen die Fahrgäste dabei nicht auf der Strecke bleiben. Deshalb sollte auch hier ein zunächst eingleisiger Lückenschluß ohne Fahrleitung realisiert werden, damit schon bald Regionalzüge von Berlin-Tegel zur Schinkel- und Fontane-Stadt Neuruppin starten können.

Linienkonzepte für den IC-, IR- und Regionalverkehr runden das Konzept "Berlin '94" ab und zeigen, wie die erweiterte Bahninfrastruktur für die unterschiedlichen Bahnprodukte sinnvoll genutzt werden kann. Die Maßnahmen des Konzeptes "Berlin '94 - Bahnbrechende Hauptstadt" sind sicher nicht alle im Jahre 1994 realisierbar, doch könnte, den politischen Willen vorausgesetzt, kurzfristig mit der Umsetzung begonnen werden. Insbesondere muß erreicht werden, daß der erst für die zweite Stufe des "Pilzkonzeptes" vorgesehene Ausbau des Südrings in vereinfachter Form auf das kommende Jahr vorgezogen wird.

Das reich illustrierte Konzept "Berlin '94 - Bahnbrechende Hauptstadt. Sofortmaßnahmen und Zwischenlösungen für den Eisenbahnverkehr" kann bei PRO BAHN e.V., Straße der Pariser Kommune 12, 10243 Berlin bestellt werden. Es kostet DM 6,00 (zzgl. Versandkosten).

PRO BAHN und IGEB

aus SIGNAL 8/1993 (November 1993), Seite 4-5