Nahverkehr
1. Nov 1993
Herr Senator Prof. Dr. Haase hat von Ihrem Konzept Kenntnis genommen. Auch wir streben einen möglichst störungsfreien Ablauf des Linienbus- und Straßenbahnverkehrs an. Die Beschleunigung des ÖPNV trägt zu einer wünschenswerten Steigerung seiner Attraktivität bei. Allerdings ist zu beachten, daß der Umfang des Kraftfahrzeugverkehrs in unserer Stadt und die vielfältigen Verkehrsbedürfnisse, denen Rechnung getragen werden muß, nicht in allen Fällen eine Lösung ausschließlich zugunsten des Linienbus- und Straßenbahnverkehrs zulassen. Der Senat hat am 2. Juni 1992 ein Beschleunigungskonzept Für Autobus und Straßenbahn in Berlin beschlossen, das nun von uns und den übrigen zuständigen Behörden umgesetzt wird.
Ihre Vorschläge haben wir mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen. Maßnahmen zur Beschleunigung des ÖPNV müssen jedoch sowohl geeignet als auch rechtlich zulässig sein. Unter diesem Aspekt ist zu Ihren Vorschlägen im einzelnen folgendes anzumerken:
Die besonderen Lichtzeichen für Linienbusse und Taxen auf Sonderfahrstreifen sind nach § 37 Absatz 2 Nr. 4 Straßenverkehrsordnung (StVO) zulässig. Sie sind auch erforderlich, weil die Phasen für die Benutzer des Sonderfahrstreifens nicht mit jenen für den übrigen Fahrzeugverkehr auf den daneben liegenden Fahrstreifen identisch sind und bei Verwendung der normalen Farblichtzeichen dieser Individualverkehr diese Lichtzeichen irrtümlich auf sich beziehen könnte. Die gesonderten Phasen Für die Linienbusse werden benötigt, um diesen z.B. einen Vorlauf gegenüber dem übrigen Fahrzeugverkehr zu geben oder ihnen das Linksabbiegen vor dem übrigen Fahrzeugverkehr zu ermöglichen. Die von Ihnen angesprochene Blockierung des Busverkehrs durch andere Kraftfahrzeuge ist nicht Folge der Sonderlichtzeichen, sondern der unbefugten Benutzung der Bus-Sonderfahrstreifen durch andere Kraftfahrer.
Ihre Äußerung, daß Busse beim Abfahren von Haltestellen Vorrang (nicht - wie von Ihnen bezeichnet - Vorfahrt) haben, bedarf der Relativierung. Zwar schreibt § 21 Absatz 2 StVO vor, daß Omnibussen des Linienverkehrs und Schulbussen das Abfahren von gekennzeichneten Haltestellen zu ermöglichen ist und andere Fahrzeuge, wenn nötig, warten müssen. Dies setzt jedoch zum einen voraus, daß der Führer des Linienbusses seine Abfahrabsicht so rechtzeitig ankündigt, daß der fließende Verkehr sich darauf einstellen kann, zum anderen entbindet diese Regelung den Führer des Linienbusses nicht von seiner allgemeinen Sorgfaltspflicht. Eine Gefährdung Dritter durch den anfahrenden Bus muß jedenfalls ausgeschlossen sein.
Es trifft zu, daß vorgeschriebene Halt- oder Parkverbote durch das Zeichen 299 StVO verdeutlicht, verlängert oder verkürzt werden können. Von dieser Möglichkeit wird in Berlin im erforderlichen Umfang Gebrauch gemacht. Eine entsprechende Kennzeichnung aller Haltestellen mit dieser Grenzmarkierung für Halt- und Parkverbote wäre jedoch als Übermaßregelung anzusehen und im übrigen auch aus Gründen des Stadtbildes wenig wünschenswert. Zudem erhöht gerade der sparsame Umgang mit dieser Markierung ihre Wirksamkeit. Bei einer Markierung aller Haltestellen würden die Kraftfahrer dieser Maßnahme wohl schwerlich noch die nötige Bedeutung beimessen. Der im übrigen erhebliche Kostenaufwand auch für den Erhalt der Markierungen wäre nicht gerechtfertigt. Auch eine Aufhebung oder Verlegung von Haltestellen wäre dann mit nicht unerheblichen Kosten verbunden, weil in diesen Fällen die Markierung nach Zeichen 299 StVO unverzüglich zu entfernen wäre.
Die Gestaltung der Haltestellenbereiche ist abhängig von der baulichen und verkehrlichen Situation der Straße. Unter Berücksichtigung dessen ist jeweils die angemessene und geeignete Haltestellengestaltung vorzusehen. Busbuchten ermöglichen es dem fließenden Fahrzeugverkehr, an dem haltenden Bus ungehindert vorbeizufahren. Sie erscheinen vor allem in stark befahrenen Straßen mit nur einem Fahrstreifen je Richtung angebracht. Dadurch kann vermieden werden, daß folgende Fahrzeuge an dem haltenden Bus vorbeifahren und dadurch den Gegenverkehr gefährden. In diesen Fällen wäre die Anlage von Haltestellenkaps ohnehin ausgeschlossen. Dies gilt auch dann, wenn auf dem rechten Fahrstreifen am Fahrbahnrand ein Bus-Sonderfahrstreifen eingerichtet worden ist. Bereits vorhandene Haltestellenkaps würden daher die Einrichtung eines derartigen Bus-Sonderfahrstreifens verhindern. Dies kann auch nicht von Ihnen gewollt sein. Ferner kann ein an dem Haltestellenkap haltender Bus insbesondere bei starkem Busverkehr auch nachfolgende Busse behindern, weil diese durch den sich bildenden Rückstau daran gehindert sind, an die Haltestelle heranzufahren. Nach alledem sind Haltestellenkaps keineswegs ein "Allheilmittel" zur Busbeschleunigung; die pauschale Forderung geht daher fehl.
Von den Bus-Sonderfahrstreifen geht zugleich ein Verkehrsverbot für den übrigen nicht zugelassenen Fahrzeugverkehr aus. Gemäß dem das Verwaltungshandeln bindenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dürfen derartige Verkehrsverbote nur in dem erforderlichen Umfang und für die mindestnotwendigen Zeiten angeordnet werden. Das Absehen von der zeitlichen Beschränkung der Bus-Sonderfahrstreifen wäre daher im Regelfalle rechtlich unzulässig, weil zu bestimmten Zeiten die Voraussetzungen für seine Geltung nicht vorlägen. Bus-Sonderfahrstreifen können auch nicht mit Bedürfnissen des Lieferverkehrs begründet werden. Das geeignete Instrument zur Einrichtung von Ladezonen ist das eingeschränkte Halteverbot nach Zeichen 286 StVO.
Die künftige Gestaltung von Straßenbahn-Haltestellen ist Teil des "Betriebskonzeptes Straßenbahn" der BVG (Stand April 1993). Im Regelfall ist eine Haltestelleninsel vorzusehen, die behindertenfreundlich sein und bestimmte Abmessungen haben muß. Die Länge beträgt je nach Straßenbahntyp 75 oder 62 m, die Baubreite beträgt etwa 3,60 m (Mindestmaß 2,50 m). Sofern der Bau von Haltestelleninseln nicht möglich sein sollte, können in Abstimmung mit dem Straßencharakter auch Haltestellenkaps in Betracht gezogen werden. Da die Fahrbahnbreite zwischen den Kaps bei deren paarweiser Anordnung 7,00 m betragen muß, ist in diesen Fällen eine Gleisverschwenkung erforderlich. Die ebenfalls mögliche Einrichtung einer straßenbahngesteuerten "Zeitinsel", bei der zusätzliche Signalgeber vor dem Haltestellenbereich mit Sperrzeiten für den Kraftfahrzeugverkehr während der Haltestellenaufenthaltszeit das gesicherte Ein- und Aussteigen der Fahrgäste ermöglicht, sollte nur der Ausnahmefall bleiben, da auf die Vorteile für Behinderte verzichtet werden muß und längere Aufenthalte an der Haltestelle erforderlich sind. Fußgängerüberwege können, entgegen Ihrer Annahme, nicht die gleiche verkehrssichernde Wirkung erzielen wie Lichtzeichenanlagen. Zudem werden häufig die Voraussetzungen Für ihre Anordnung nicht erfüllt sein, z.B. wenn in einer Fahrtrichtung zwei Fahrstreifen für den fließenden Verkehr überquert werden müssen.
Wie bereits ausgeführt, ist im Regelfall die Geltung von Bus-Sonderfahrstreifen auf bestimmte Tageszeiten zu beschränken. In der übrigen Zeit darf auch dieser Fahrstreifen vom sonstigen Fahrzeugverkehr benutzt werden. Dies gilt auch for die nach rechts in diesen Fahrstreifen einbiegenden Fahrzeuge. Da Fahrbahnmarkierungen nicht zeitlich beschränkt werden können, sondern durchgehend gelten, wäre es nicht zulässig, das Befahren eines zeitlich beschränkten Bus-Sonderfahrstreifens durch Markierungen zu verhindern. Dies ist auch nicht erforderlich, weil die Kraftfahrer während der Geltungszeit des Bus- Sonderfahrstreifens ohnehin das für diesen geltende Benutzungsverbot beachten müssen.
In Zusammenhang mit den vorgesehenen Busbeschleunigungsmaßnahmen wird derzeit von uns im Benehmen mit der BVG die Lage der Bus-Haltestellen überprüft. Unter Berücksichtigung der "Grünen Welle" soll die Haltestellenlage so gewählt werden, daß Busse die Haltestelle bei Annäherung ohne Behinderung anfahren können und danach zwei koordinierte Lichtzeichenanlagen ohne Halt bis zur nächsten Haltestelle passieren können. Die Einrichtung von Haltestellen unmittelbar vor der Haltlinie ist nur dann zweckmäßig, wenn kein starker Rechtsabbiegeverkehr vorhanden ist. Anderenfalls würden die Linienbusse durch die wartenden Rechtsabbieger daran gehindert, die Haltestelle zügig anzufahren. Im übrigen sind wir stets bestrebt, die Umsteigewege der Fahrgäste zu anderen Haltestellen möglichst kurzzuhalten.
Wir sind zuversichtlich, daß die Realisierung des vom Senat beschlossenen Beschleunigungskonzepts für Busse und Straßenbahnen in Berlin den auch von Ihnen gewünschten Effekt haben wird. Die aus Ihrem Konzept erkennbare pauschalierte Betrachtungsweise halten wir jedoch nicht für hilfreich. Sinnvolle und angepaßte Regelungen setzen im Regelfalle eine Prüfung unter Beachtung der Besonderheiten des Einzelfalles voraus.
[IGEB] Bemerkenswert an der Stellungnahme der Verkehrsverwaltung ist zum einen ihre Existenz, weil diese Verwaltung zum ersten Mai seit fast drei Jahren zu Vorschlägen des Berliner Fahrgastverbandes Stellung nimmt, und ist zum anderen ihre Ehrlichkeit: Gefördert wird der ÖPNV in Berlin nur dort, wo der motorisierte Individualverkehr nicht behindert wird. So deutlich, wie in dieser Stellungnahme, wurde es zumindest öffentlich noch nicht zugegeben. Im einzelnen sind folgende Anmerkungen zu machen:
Der Vorrang für Busse bei der Abfahrt von Haltestellen wird von der Verkehrsverwaltung umgedeutet in eine Wartepflicht für Busse. Dies stellt ein klassisches Beispiel dafür dar, wie die anscheinend ausschließlich dem Autoverkehr verpflichtete Behörde ihre Wunschvorstellungen in die Gesetze hineininterpretiert. Kein Wunder, daß bei einer solchen - der BVG natürlich bekanntgemachten - Rechtsauffassung kaum ein Busfahrer sich noch traut, zügig aus der Haltestellenbucht herauszufahren. Daß diese Auslegung den Aufenthalt des Busses erheblich verlängert, wird von der Verkehrsverwaltung ignoriert.
Bushaltestellen sind nach Auffassung der Verkehrsverwaltung auch weiterhin als stille Parkplatzreserve anzusehen. Die Ablehnung einer auffälligeren Haltestellenkennzeichnung mit dem Argument der Stadtbildpflege wirkt geradezu lächerlich bei einer Senatsverwaltung, die die genannte Stadt mit 20 m² großen Vorwegweisern für Individualverkehr vollstellt. Und die Behauptung, der sparsame Umgang mit einer deutlichen Markierung sichere deren Wirksamkeit, ist das indirekte Eingeständnis, daß nicht markierte Haltestellen nicht wirksam freigehalten werden können oder sollen.
Bei den Busbuchten legen die Autoverkehrsplaner die wahren Gründe für ihre Ablehnung aller Beschleuigungsmaßnahmen offen. "Ungehindert" muß der Autoverkehr am Bus vorbeifahren können. Daß in jedem Einzelfall der Busverkehr durch den Autoverkehr behindert wird, kann nur die Verkehrsverwaltung nicht erkennen. Als weiterer Ablehnungsgrund werden Haltestellenkaps gegen Busspuren ausgespielt: Der Bau eines Haltekaps würde die Anlage einer Busspur verhindern. Eine verlogene Argumentation, weil die Verkehrsverwaltung ja fast überhaupt keine Busspuren mehr zuläßt und vorhandene wegnimmt, so daß es am Ende weder Kaps noch Busspuren gibt. Im übrigen waren im IGEB-Konzept Straßen mit Busspuren von der Anlage von Haltestellenkaps ausdrücklich ausgeschlossen.
Erstaunlich ist auch, daß dieselbe Verwaltung, die auf den Busspuren Wirtschaftsverkehr etablieren will, betont, Busspuren nicht mit den Bedürfnissen des Lieferverkehrs begründen zu dürfen. Man argumentiert halt, wie es gerade paßt...
Zumindest für die Gestaltung von Straßenbahnhaltestellen schließt die Verkehrsverwaltung nicht alle Lösungen von vornherein aus. Die "Zeitinsel", in anderen Städten längst bewährt, wird allerdings wieder mit dem Hinweis auf Wartezeiten für den Autoverkehr abgelehnt. Fußgängerüberwege haben gegenüber Ampeln den Vorteil, daß sie billig und schnell einzurichten sind. Zudem haben dort immer die Fußgänger Vorrang. Aber genau aus diesem Grund lehnt die Autoverwaltung die Zebrastreifen ab. Falsch ist auch die Behauptung, Zebrastreifen in Straßen mit zwei Fahrspuren je Richtung seien unzulässig. Auch hier legt die Verkehrsverwaltung ihren Ermessensspielraum wieder ausschließlich zugunsten des motorisierten Individualverkehrs aus.
Als Krönung ihrer autodominierten Stellungnahme kündigt die Verkehrsverwaltung an, die Lage der Bushaltestellen von den Rahmensetzungen für einen flüssigen Autoverkehr, also z.B. "Grüne Welle" und Rechtsabbieger, abhängig machen zu wollen. Während andernorts Ampeln mit Grün-Anforderungsschaltungen für den ÖPNV realisiert (und nicht nur angekündigt) werden, soll sich der ÖPNV in Berlin also nun nach dem Autoverkehr richten.
Das traurige Fazit aus dieser Stellungnahme: Vom "Vorrang für den ÖPNV" ist Berlin unter Verkehrsstaatssekretär Ingo Schmitt und seinem Senator Herwig Haase weiter als je zuvor entfernt!
Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe
aus SIGNAL 8/1993 (November 1993), Seite 15-17