Barrierefreiheit: Service im Test
Seit den 1990er Jahren ist es Ziel des Berliner Senats, eine hundertprozentige Barrierefreiheit für den gesamten Berliner Nahverkehr herzustellen.
25. Feb 2013
Viel Geld wurde dafür investiert. So mussten beispielsweise ausnahmslos alle Straßenbahnen als hundertprozentige Niederflurfahrzeuge beschafft werden. Und bis 2020 sollen alle Berliner U-Bahnhöfe stufenfrei erreichbar sein.
Dem entgegen steht eine bedenkliche Entwicklung beim Bus. Denn genau das BVG-Verkehrsmittel, das als erstes die komplette Niederflurigkeit hergestellt hatte, macht jetzt einen Schritt zurück. Bisher wurden die BVG-Busse an jeder Haltestelle automatisch abgesenkt, um den Fahrgästen ein bequemes stufenarmes Ein- und Aussteigen zu ermöglichen. Diese Technik wird „Kneeling“ genannt. Für viele Ältere, Personen mit Bein-, Knie- oder Fußverletzungen oder auch nur Kunden mit Gepäck eine unverzichtbare Hilfe zum Ein- und Aussteigen und ein angenehmer Service für alle Kunden. Von diesem bewährten System möchte die BVG sich nun lösen zugunsten eines Kneelings, das nur noch bei Bedarf Einsatz finden soll. Dazu werden alle Busse mit einer zusätzlichen blauen Taste außen neben der ersten Tür ausgestattet.
Warum? Diese Frage stellen sich nicht nur Behindertenvertreter. Als BVG-Chefin Sigrid Evelyn Nikutta 2012 erwähnte, mit der Maßnahme jährlich zwei Millionen Euro einsparen zu wollen, sorgte sie damit für Erstaunen bei den Fachleuten. Denn zum einen ist der Knopfeinbau auch nicht gratis zu bekommen und zum anderen erscheint der Geldbetrag bei Betrachtung der Technik doch stark überhöht.
Moderne Busse und auch Lkw sind mit einer elektronischen Luftfederung ausgestattet. Diese ermöglicht es, ein Fahrzeug unabhängig vom Zustand der Beladung auf einem bestimmten Niveau zu halten. Ein Bus wird beispielsweise durch Fahrgäste beim Ein- und Aussteigen einseitig belastet. Hier wird mit jeder Person, die das Fahrzeug betritt oder verlässt, die Luftfederung automatisch nachreguliert. Das passiert immer, egal, ob „gekneelt“ wird, oder nicht.
Das Kneeling selbst ist ein angenehmer Nebeneffekt. Die Entwickler dachten sich, wenn man das Fahrzeug ohnehin ständig nachreguliert, kann man die Technik auch dazu nutzen, das Fahrzeug im Stand halbseitig abzusenken, um den Komfort beim Betreten und Verlassen zu verbessern.
Verzichtet man auf das automatische Absenken, so kann man auf das automatische Nachregeln je nach Beladungszustand jedoch nicht verzichten. Die empfindlichen Sensoren und Ventile werden also weiterhin mehrmals beim Fahrgastwechsel belastet – wenn auch nicht mehr ganz so stark.
Der Berliner Fahrgastverband teilt daher die kritische Haltung von Behindertenvertretern zum Vorgehen und zu den Gründen, die für diesen Schritt rückwärts seitens der BVG angeführt werden. Nichtsdestotrotz wäre ein Bedarfskneeling akzeptabel, falls damit tatsächlich das anvisierte Sparziel erreicht wird und wenn es so umgesetzt wird, wie es in der BVG-Öffentlichkeitsarbeit dargestellt wird:
Zitat aus dem Kundenmagazin BVG_
plus vom Sommer 2012:
“[…] Da sich ein Großteil der Busse nicht
mehr automatisch an jeder Haltestelle absenkt,
hat die BVG den Komfortknopf eingeführt,
der allen Fahrgästen ein bequemes Einund
Aussteigen ermöglicht. Sobald der blaugelbe
Knopf, von innen oder außen betätigt
wird, neigt sich der Bus um 7 Zentimeter und
reduziert so die Einstiegshöhe auf ein Minimum.
Wer also schweres Gepäck oder einen
Kinderwagen dabei hat oder einfach gerne
gemütlicher ein- und aussteigen möchte,
braucht dafür nur den neuen Komfortknopf
zu drücken. […]”
Auf dem Fahrgastsprechtag Omnibus im Rahmen der Schienenverkehrswochen 2012 hatten Fahrgäste, Vertreter von Behindertenverbänden und nicht zuletzt der Berliner Fahrgastverband selbst die Leiter des BVG-Unternehmensbereichs Bus darauf hingewiesen, dass dies bisher vom Fahrpersonal komplett ignoriert wird. Immer, wenn jemand ausprobierte, ob der Druck auf den sogenannten “Komfortknopf” dazu führt, dass der Fahrer den Bus absenkt, musste festgestellt werden, dass in allen Fällen gar nichts passierte. Drängte man beim Fahrer auf das Kneeling, so war der Erfolg nicht ohne langes Streitgespräch zu bekommen.
Busdirektor Martin Koller und Betriebsmanager Helmut Grätz antworteten auf der Veranstaltung am 18. September 2012, es müsse sich dabei um bedauernswerte Einzelfälle handeln, und sie bestätigten noch einmal, dass die Komfortfunktion JEDEM Fahrgast zusteht, der auf den „Komfortknopf“ drückt. Die Bedürftigkeit müsse gegenüber dem Fahrer nicht nachgewiesen werden. Das Fahrpersonal sollte darauf erneut hingewiesen werden.
Da sich aber bei vereinzelten Stichproben keine Besserung einstellte, begann die IGEB drei Monate später, den Komfortknopf einem ausgiebigen Test zu unterziehen. Fairerweise wurden Herr Koller und Herr Grätz vorab informiert.
Das Ergebnis ist erschütternd. Von den vielfältigen Ein- und Ausstiegen wurde nicht ein einziges Mal auf die Anforderung über die „Servicetaste“ reagiert.
Da noch nicht alle Busse auf die neue Verfahrensweise umgestellt wurden, haben
Daher haben wir uns beim Testen auf die Berliner Gebiete konzentriert, wo vornehmlich eine große Anzahl umgebauter Fahrzeuge zum Einsatz kommen. Vor jedem Einstieg- und Ausstiegvorgang hat der Tester den blau-gelben Komfortknopf gedrückt und dann abgewartet, ob der Bus während dieses Haltestellenaufenthalts abgesenkt wird. Linie, Wagennummer und Haltestelle wurden notiert und liegen vollständig intern vor. (hm)
Wie sehen Ihre Erfahrungen mit dem neuen Komfortknopf aus? Senden Sie uns Ihre Erlebnisse per Chat oder E-Mail an kneeling@igeb.de Wir werden diese sammeln, an die Verantwortlichen weiterleiten und einige Erlebnisse hier im nächsten Heft veröffentlichen.
IGEB Stadtverkehr
aus SIGNAL 1/2013 (März 2013), Seite 4-5