Barrierefreiheit: Vorsicht Satire

Aus der Anstalt: Kneeling


IGEB Stadtverkehr

25. Feb 2013

Der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in der Hauptstadt wird im Wesentlichen durch die Landesanstalt (AöR) durchgeführt. Hier arbeiten Ulricke Jokiel (42) und ihr Kollege Peter Wille (54) in der nicht selten umbenannten Abteilung zur Bus-Bahn-Unattraktivierung für Mobilitätseingeschränkte (ABBUaM-4) und sind dort voller Elan tätig.

Dienstag Vormittag. Im Büro herrscht emsiges Treiben. Während Peter neue Aufzugsstandorte in der Nähe von defekten Toiletten sucht, ist Ulricke eben erst

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eingetroffen und wie so häufig sehr verärgert. „Stell dir vor, Peter,“ spricht sie ihren Kollegen an, „stell dir vor, mein Auto ist defekt, und ich musste heute mit dem Bus zur Arbeit fahren! Hörst du? Mit dem BUS!“

Peter ist schockiert. „Das ist uns doch laut unserer Arbeitsverträge verboten“, erwidert er. „… bis auf unvermeidbare Einzelfälle“, ergänzt Ulricke. „Und es war schrecklich! So voll! Die ganzen alten Menschen – mehr als an der Supermarktkasse! Sie sitzen auf den besten Plätzen oder stehen im Weg, sind immer die ersten an der Tür, steigen dann aber nicht aus, sie …“ Peter bricht die Aufzählung mit einer Handgeste ab.

Beide beginnen zu grübeln. „Die muss man doch irgendwie loswerden können“, murmelt Peter, „wenn doch alle Busse nur aus Oberdecks bestehen würden …“ Ulricke schnippst mit den Fingern. „Das isses!“ ruft sie. Peter erwidert: „Wie soll das denn gehen?“

„Ganz einfach!“ Ulricke führt aus: „Wir deaktivieren das Kneeling, dieses automatische Absenken an Haltestellen, was eigentlich dafür sorgen soll, dass die ganzen Bepackten, Siechen und Alten besser einsteigen können. Dann haben die wieder diese schwer überwindbare Stufe, wie früher bei den Hochflurbussen. Damit kann man sie dauerhaft vergraulen.“

„Aber wie willst du das denn rechtfertigen,“ wirft Peter ein, „schließlich wurden inzwischen Milliarden in die Barrierefreiheit gesteckt!“ Ulricke wiegelt ab: „Ach was, wir bauen da einfach eine Alibi-Anforderungstaste fürs Kneeling ein, die die Fahrer dann getrost ignorieren dürfen.“ Peter ist begeistert: „Oh, und lass uns die Taste dann als große Errungenschaft verkaufen! ‘Service auf Knopfdruck‘, oder so ähnlich. Wie wär´s mit ‚Servicetaste‘?“

„Nein, das ist noch nicht verhöhnend genug“, widerspricht Ulricke. Sie verfällt in ihre Denkerpose, in der sie nacheinder an den Fingern ihrer rechten Hand saugt. Dann durchschießt sie ein Geistesblitz: „Der Komfortknopf!“

Peter ist zufrieden: „Perfekt für eine völlig funktionsfreie Taste. Aber kostet das nicht wieder alles Geld?“ Ulricke erwidert: „Das ist egal. Wir drehen den Spieß einfach um und behaupten, damit eine Menge Geld sparen zu können. Das Argument zieht schließlich immer.“ Ulricke ist von ihrer Idee begeistert und lehnt sich in ihrem Bürostuhl zurück. Doch Peter ist noch skeptisch: „Und wie viel willst du angeblich mit dieser abenteuerlichen Konstruktion einsparen?“, fragt er argwöhnisch. Ulricke lutscht wieder kurz an ihren Fingerkuppen und sagt dann: „Zwei Millionen.“

„Ganz schön frech.“ Peter schaut seine Kollegin direkt an. Doch die erwidert nur mit einem Lächeln: „Klar doch, aber wer soll da schon nachforschen? Und falls doch einer nach belastbaren Zahlen fragt: Für nicht überprüfbare Fakten hab ich ja noch die hier!“, und winkt mit ihren Fingerspitzen. (hm)

IGEB Stadtverkehr

aus SIGNAL 1/2013 (März 2013), Seite 6