Aktuell
Der Berliner Fahrgastverband IGEB kritisiert die erneute Erhöhung der Nahverkehrstarife in Berlin und Brandenburg und fordert zugleich strukturelle Veränderungen beim Verbund
1. Aug 2000
Am 1. August 2000 werden Busse und Bahnen ein weiteres Mal teurer. Das ist ein verheerender Fehler:
Verheerend sind die Auswirkungen vor allem deshalb, weil in Berlin und Brandenburg die Erhöhung der Nahverkehrstarife seit Jahren weit über der Inflationsrate liegt. Angesichts solcher anscheinend durch keinen Protest und kein vernünftiges Argument aufzuhaltenden Preistreiberei sind viele Fahrgäste wütend oder verbittert. Um allen noch einmal vor Augen zu führen, wie weit die Verteuerung der Berliner Nahverkehstarife über der allgemeinen Preissteigerung liegt, hat der Berliner Fahrgastverband die nachfolgende Übersicht zusammengestellt: (siehe Bild)
Berücksichtigt man jetzt noch, daß das durchschnittliche Einkommen in München und Düsseldorf erheblich höher ist als in Berlin und erst recht höher als in Brandenburg, dann wird deutlich, wie überhöht die Fahrpreise hierzulande sind.
Deshalb fordert der Berliner Fahrgastverband IGEB für die Zukunft grundlegende Veränderungen in Berlin und Brandenburg:
Im Vorfeld der Tariferhöhung gab es monatelange Auseinandersetzungen zwischen den Verkehrsbetrieben, der Verbundgesellschaft, dem Berliner Senat, dem VBB-Aufsichtsrat usw. - jeder gegen jeden. Das kostet Zeit, Kraft und vor allem Geld. Die Mehreinnahmen der Tariferhöhung sind durch die Vorlauf- und die Umstellungskosten längst verbraucht. So darf es nicht weitergehen. Über die Tarifhöhe muss einzig und allein die Politik entscheiden. Ein Politiker muss sich der Öffentlichkeit stellen und kann von den Fahrgästen gegebenenfalls abgewählt werden - ein Vorstand (leider) nicht.
Seit Jahren ist bekannt, daß die BVG jährlich viele Millionen DM einsparen könnte, wenn ihre Busse und Bahnen weniger Zeit in Autostaus und vor roten Ampeln verbrächten. Anhand erster Beschleunigungsmaßnahmen auf den Straßenbahn-Linien 6 und 8 können jetzt auch Bedenkenträger erkennen, daß ÖPNV-Vorrangschaltungen keineswegs zwangsläufig ein Autochaos nach sich ziehen. Nun muss endlich in der gesamten Stadt der öffentliche Verkehr durch eigene Trassen und Vorrangschaltungen beschleunigt werden. Die bisherigen Pläne von Senator Strieder und seiner Verkehrs-Staatssekretärin Krautzberger gehen in die richtige Richtung, doch die Umsetzung erfolgt viel zu zögerlich.
Die BVG muß sofort das Projekt „Zugangssperren bei U-Bahnhöfen" aufgeben. Wer von den Fahrgästen mehr Geld fordert und zugleich Geld ohne Ende für ein fahrgastfeindliches Projekt ausgibt, beraubt sich jeder Glaubwürdigkeit. Ein paar Zahlen: Die mechanischen Zugangssperren würden nach Angaben der BVG eine Investition von 125 Mio. DM erfordern, die in diesem Zusammenhang notwendige Einführung des elektronischen Tickets würde nach vorläufigen Schätzungen weitere rund 400 Mio. DM kosten. Legt man eine zehnjährige Abschreibungsfrist zu Grunde, wäre das eine zusätzliche jährliche Belastung von 50 Mio. DM. Hinzu kämen jährlich Millionenbeträge für Betrieb und Wartung der Anlagen sowie zusätzliches Personal. Zum Vergleich: Von der jetzigen Tariferhöhung erwartet die BVG im besten Fall jährliche Mehreinnahmen von 25 Mio. DM. Mit den Zugangssperren würde also die Preistreiberei bei den Tarifen nochmals angeheizt. Außerdem würde die U-Bahn durch den erschwerten Zugang sicher nicht attraktiver.
Die erste Tabelle zeigt, daß in den letzten Jahren insbesondere die Stammkunden, also die Inhaber von Monats- und Jahreskarten, und die Schüler (und damit die Familien) von den drastischen Erhöhungen betroffen sind. Eine Folge war, daß viele Umweltkarteninhaber, die nicht täglich mit Bahn und Bus fahren (Teilzeitkräfte, Senioren u.a.) mit Einzelfahrscheinen oder Tageskarten insgesamt günstiger fahren und damit der BVG als Stammkunden verloren gingen. Denn diese Fahrgäste überlegen vor jeder Fahrt neu, ob sie per Fuß, Fahrrad oder Auto nicht vielleicht preiswerter oder bequemer an das gewünschte Ziel gelangen. Eine andere Folge war, daß Eltern immer öfter Fahrgemeinschaften organisiert haben, um ihre Kinder mit Autos zur Schule zu bringen. So darf es nicht weitergehen. Bei der nächsten Tarifänderung müssen vor allem die Jahreskarten und die Schülermonatskarten preiswerter und rabattierte Familien- oder Haushaltsabos eingeführt werden.
Alle Fachleute bestätigen, daß der Verbundtarif in Berlin und Brandenburg einer der kompliziertesten in Deutschland ist und viele Fahrgäste überfordert sind. Daran ändert auch die neue Darstellung des brandenburgischen Verbundraumes in Form von Ringen um Berlin nichts. Vielmehr fragt man sich, warum der VBB erst jetzt eine solche Lesehilfe anbietet? 16 Monate nach Einführung des VBB-Tarifes liegen nun genügend Erfahrungen vor, um mit der Planung für eine grundlegende Vereinfachung zu beginnen.
Die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten stiegen in Berlin in den letzten fünf Jahren um rund 4 Prozent, während die Fahrten mit Bussen und Bahnen im Durchschnitt um rund 30 Prozent, zum Teil aber sogar um mehr als 100 Prozent teurer wurden. Am härtesten traf es Familien. Diese Preistreiberei ist falsch und ungerecht. Angesichts vielfach stagnierender Einkommen wird das Nahverkehrsticket immer mehr zum Luxusartikel. Dennoch wächst das jährliche Defizit der BVG. So darf es nicht weitergehen. Der Berliner Fahrgastverband IGEB fordert Berlins Verkehrssenator Strieder auf, sich für eine grundlegende Reform des Verbundtarifes in Berlin und Brandenburg einzusetzen und in seiner Verkehrspolitik dem öffentlichen Nahverkehr nicht nur wortreich, sondern auch in der Praxis deutlich bessere Bedingungen zu verschaffen.
Da die Tariferhöhung mitten in den Sommerferien erfolgt,
IGEB
aus SIGNAL 6/2000 (August 2000), Seite 4-5