Die Bahn gibt (sich) auf

Warum die DB AG zum Psychiater muß


Jan Gympel

1. Okt 2000

Große Aufregung: Die Bahn hat für viel Geld den Berliner Ostbahnhof umbauen lassen, und dabei die Zahl der Schalter so knapp bemessen, daß es wieder lange Warteschlangen und Verdruß gibt. Außerdem die Einrichtung eines Wartesaals „vergessen".

In der Psychologie nennt man so etwas eine Freudsche Fehlleistung. Und mit Psychologie muß man hier kommen. Denn die Bahn gibt nicht nur immer mehr Strecken und, nicht zuletzt auch internationale, Verbindungen auf. Die Bahn scheint sich auch selbst aufgegeben zu haben. Man muß sich das Vorgehen auf dem Leipziger Hauptbahnhof ansehen, das von der Bahn und ihren Partnern selbst zum Vorbild für die Ummodelung ihrer Stationen in ganz Deutschland zu „Einkaufszentren mit Gleisanschluß" (schicker ausgedrückt „Dienstleistungs- und Kommunikationszentrum", als wenn Bahnhöfe dies nicht von Anfang an gewesen wären) deklariert wurde. Einst verschmolzen die grandiose Querbahnsteighalle und die von ihr ausgehenden Perrons zur Raumeinheit; jetzt sind die Längsbahnsteighallen, deren Sanierung bezeichnenderweise viel später beendet wurde als der Umbau des eigentlichen Bahnhofsgebäudes, zu diesem hin weitestgehend mit Schürzen aus spiegelndem Glas abgeschlossen, die Gleise hat man aus der Querbahnsteighalle zurückgezogen. Der Raum, in dem die Züge fahren, ist damit von jener Sphäre getrennt, in der man vor allem „Shoppen" soll. Die Bahn hat sich zurückgezogen und aus der Shoppingwelt, zu der diese Kathedrale der Eisenbahn umgemodelt wurde, selbst ausgesperrt.

Hinter diesem Vorgehen steckt ein grundlegender Wandel der Vorstellungen vom Charakter eines Bahnhofs und von den Funktionen, denen er zu dienen hat: Bis vor wenigen Jahren galt eine Station als ein Ort, an dem Züge verkehren und es nebenher noch einige, diesem Zweck (und das heißt auch: den Reisenden) dienliche Einrichtungen gibt. Heute hingegen scheint es die Bahn als die ihre vornehmste Aufgabe zu betrachten, in den Stationen für genügend Laufkundschaft für die Läden zu sorgen. Das geht so weit, daß vergessen wird, daß in gewissem Maße eine Voraussetzung dafür die Benutzung der Züge ist. Allmählich dämmerte es der Bahn, daß es doch sinnvoll sein könnte, in einem Bahnhof ein paar Fahrkartenschalter, pardon: ein „ReiseCenter" unterzubringen. Und noch immer läßt sich der Ort, an dem man eine Fahrkarte - pardon: ein „Ticket" - erwerben kann, nur mit Mühe finden, derweil man die Schalter ursprünglich neben den Türen der Haupteingänge fand, sie also unübersehbar waren.

Mit der Umwandlung zum „Einkaufszentrum mit Gleisanschluß" ist der Handel in den Mittelpunkt gerückt; nach seinen Bedürfnissen, nicht mehr nach denen des Verkehrs, hat der Bahnhof (um-)gestaltet zu werden - und nebenbei fahren noch irgendwo, irgendwie ein paar Züge. Deshalb ist es kein „Versehen", wenn bei solchen Umbauten die Fahrkarten-Verkaufsstellen wie im Ostbahnhof viel zu gering dimensioniert werden oder man sie, wie für die S-Bahn im Bahnhof Zoo, gleich ganz vergißt und der Weg von der Empfangshalle der S-Bahn zu jener der Fernbahn, früher deutlich an großen Fahrplanaushängen vorbeiführend, heute mühsam zwischen Läden und Ständen gesucht werden muß. Ebenso verhält es sich mit dem Fehlen von Wartesälen: abgesehen, daß die Züge der Deutschen, pardon „Die Bahn" doch nie nennenswerte Verspätung haben - sollte man wirklich warten müssen, sollte man diese Zeiten in einem der schicken Läden verbringen, die Dinge bieten und Ketten gehören, die man in jedem x-beliebigen Einkaufszentrum findet. Ansonsten ist Privatinitiative gefordert. Warum sollte, wo das Pipimachen 1,50 Mark kostet, das Warten kostenlos sein?

Allerdings ist der Mangel an Schaltern oder Wartesälen in großen Bahnhöfe nicht gegen die Tristesse kleiner Stationen: Ob Dorfbahnhof oder großstädtischer S-Bahn-Halt - in früheren Zeiten konnte sich der Fahrgast darauf verlassen, praktisch überall einen umfangreichen Service zu genießen, vom Fahrkartenschalter über die auskunftsfähige Aufsicht bis zu Warteraum, Toilette und zumindest einem kleinen Restaurationsbetrieb. Heute hingegen in der einzige „Service" in der Regel ein Fahrkartenautomat (mit dem komplizierten Tarifsystem eines Verkehrsverbunds?) in einer unbeaufsichtigten und dementsprechend verwahrlosten Station und vielleicht noch ein demoliertes Wartehäuschen wie man es von Bushaltestellen kennt. Da fühlt man sich wahrlich als Fahrgast und willkommen. (Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, daß die Verwahrlosung der S-Bahnhöfe in Berlin, ganz im Gegensatz zum Stadtbild, geringer ist als im restlichen Bundesgebiet, wo kaum noch eine Haltestelle mit Personal besetzt ist.) Empfangsgebäude wurden (und werden) im Zuge des gewandelten Selbstverständnisses des Bahn vom Transportunternehmen zum Immobilienhändler zu Wohn- oder Gewerbezwecken vermietet oder verkauft.

Hinter all dem steckt nicht nur eine grundlegend falsche Strategie, sondern offenkundig auch ein psychologisches Problem, das das Beschreiten des Holzwegs überhaupt erst erklärt: Die Bahn hält wenig von sich selbst und ihrem Produkt. Andernfalls würde sie sich nicht so schäbige Auftritte leisten. Sie würde sich auch nicht so bereitwillig für ihren „Feind" verdingen, wie man es im Leipziger Hauptbahnhof beobachten kann: Drei Gleise gab man auf, um Autos Parkraum zu bieten. Der Raumeindruck der Querbahnsteighalle wurde durch zwei klobige Aufzugstürme ramponiert, deren störende Höhe nicht etwa technisch bedingt ist, sondern der Schaffung zu Reklamezwecken vermarktbarer Glaskästen dient; präsentiert werden in diesen: Autos. Tagelang wurde im Oktober 1998 die halbe östliche Eingangshalle samt der großen Treppe zu den Gleisen gesperrt; vorgestellt wurde auf dieser - richtig geraten: ein Automodell.

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Aber die Bahn möchte ja auch gar keine Bahn mehr sein. Sie will lieber ein Flugzeug werden und hat folgerichtig soviel Bahntypisches wie möglich ausgetrieben. Deshalb schaffte man weitgehend die Abteil- zugunsten von Großraumwagen ab. Deshalb sehen Bahnfahrkarten nicht mehr so aus, wie sie weit mehr als hundert Jahre lang ausgesehen haben, sondern versuchen Flugscheine nachzuäffen. Deshalb ähnelt auch das Äußere neuer Triebzüge immer mehr dem von Flugzeugen, einschließlich dem Weiß als dominierender Farbe bei Fahrzeugen des Fernverkehrs. Würde sich noch jemand wundern, wenn die nächste ICE-Generation kleine Flügel an den Seitenwänden hätte und Stewardessen nach dem Verlassen jedes größeren Bahnhofs Vorführungen mit Sicherheitshinweisen veranstalteten?

Natürlich spiegelt dieses Verhalten nur sehr genau die Machtverhältnisse wider, zeigt, wer längst das Sagen hat und die Standards setzt. Das Gebaren der Bahn ist insofern wie das eines Hundes, der in einem Haushalt voller Katzen beginnt, Katzenfutter zu fressen.

Wozu mit der Bahn fahren, die sich als Flugzeug verkleiden will, aber leider nicht annähernd so schnell (und in zunehmendem Maße auch nicht mal mehr so preiswert) wie das Flugzeug ist? (Und dann gibt es noch nicht mal kostenlose Zeitungen und Getränke in den Zügen!). Zumal man bei der Bahn auch noch an einer gewissen Bewußtseinsspaltung zu leidet: So sehr man sich den heutigen Machtverhältnisse mit der Dominanz des Flugzeugs (und, wo es statt um Schnelligkeit auf längeren Strecken um Bequemlichkeit und Beweglichkeit geht, des Autos) bewußt ist, tut man andererseits immer wieder so, als habe man noch immer jene selige Monopolstellung inne, die die Bahn bis in die fünfziger Jahre besaß. Ähnlich wie die BVG glaubt man, mit den Beförderungsfällen umspringen zu können, wie man wolle. Doch die, die einmal Fahrgäste waren (oder es hätten werden sollen), haben zum größten Teil längst mit den Füßen abgestimmt - gegen die Bahn.

Statt einen Kampf auszutragen, den sie auf diese Weise nicht gewinnen kann, sollte sich die Bahn auf die Dinge konzentrieren, in denen sie dem Flugzeug überlegen ist: Etwas langsamer? Gut, aber auch billiger. Außerdem bequemer, auch was den Zugang angeht: Keine Fahrt vor die Tore der Stadt, keine Sicherheitskontrollen, kein langes Warten, bis man endlich einsteigen darf. Und schließlich ist die Bahn mythenumwobener - Flugzeuge spielen beispielsweise im Kino fast nur eine (Haupt-)Rolle, wenn sie verunglücken, aber was wären Eisenbahn-Filme ohne das Geschehen in den einzelnen Abteilen?

Nicht zuletzt gehören dazu auch Architektur und Mythos der (großen) Bahnhöfe, gegen die die Flughäfen mit ihrer austauschbaren Gestaltung nicht mithalten können (von Tempelhof abgesehen). Doch so wie die Bahn auf den Verlust ihrer Monopolstellung reagierte, setzte sie ebenso absurd den Bahnhöfen zu. Statt sie angesichts des neuen Konkurrenzkampfs zu pflegen, ließ man sie erst verwahrlosen und modelt nun die großen unter ihnen um - auf daß sie Flughäfen und Einkaufszentren, die in den letzten zehn Jahren gebaut wurden, gleichen.

In Sachen Architektur und Denkmalpflege haben sich die Verhältnisse noch verschlimmert, seit die Bahn formal ein Privatunternehmen geworden ist: Früher ließ sich wenigstens an die Vorbildfunktion appellieren, die der Staat via seiner Behörde Bahn im Umgang mit Baudenkmalen gegenüber privaten Eigentümern einnehmen sollte. Heute geht es nur noch darum, möglichst schnell möglichst viel Geld herauszuquetschen.

So machen Meldungen, wonach die DB AG plant, sich auf den Fernverkehr zu beschränken, sogar Hoffnung: Etwas Schlimmeres als diese konfuse, offenbar mit ihrem Selbstbewußtsein und Selbstverständnis hadernde Firma, die die Nachteile einer trantütigen Behörde mit denen einer auf reine Profitmaximierung bedachten Privatgesellschaft vereint, das Streckennetz zerstört, die Bahnhöfe zu Shoppingcentern profanisiert und davon träumt, fliegen zu können, ist kaum noch vorstellbar.

Jan Gympel

aus SIGNAL 7/2000 (September/Oktober 2000), Seite 10-11