Fernverkehr
Die Deutsche Bahn AG schränkt den Fernverkehr abseits der ICE-Routen drastisch ein. Wenn die Landesregierungen nicht wirksam gegensteuern, fährt am 9. Juni 2001 auf vielen Strecken der letzte Interregio, werden einst bedeutende Magistralen zu Nahverkehrsstrecken degradiert.
1. Dez 2000
Besonders stark betroffen sind die neuen Bundesländer, so allein fünf IR-Linien durch Brandenburg und vier durch oder ab Berlin. Allerdings könnten private Anbieter die Pläne der DB AG durchkreuzen!
Mit den Zugstreichungen will DB Reise & Touristik das Konzept „Marktorientiertes Reisezugangebot (MORA)" umsetzen. Es soll die Wirtschaftlichkeit des Personenverkehrs sichern - und läuft auf einen Kahlschlag hinaus.
Im ersten Schritt plant die Bahn, bundesweit 16 Millionen Zugkilometer einzusparen, in weiteren (vom Unternehmen bisher nicht konkret angekündigten) Schritten bis zum Jahr 2003 noch einmal 20 bis 25 Millionen Zugkilometer. Damit würde fast ein Viertel der gegenwärtigen Fernverkehrsleistungen entfallen. Oder anders ausgedrückt: Außerhalb des heutigen ICE-Netzes und einiger noch auf ICE-Bedienung umzustellender IC- und IR-Linien bliebe kaum etwas übrig!
Wie es in einer Mitarbeiter-Information der DB AG heißt, gingen der Umsetzung von MORA umfangreiche Markterhebungen voraus, bei denen hoch defizitäre Züge ermittelt wurden. Die Verluste aus schwach besetzten Interregios beliefen sich auf einen dreistelligen Millionenbetrag. Gestrafft werde das Angebot dort, wo kein kostendeckender Verkehr möglich sei.
Hans Leister, bisher Beauftragter der DB-Konzernleitung für das Land Brandenburg, erklärte gegenüber der Presse: „Die Deutsche Bahn ist vom Gesetzgeber durch die Bahnreform in die Pflicht genommen worden, profitabel zu arbeiten. Dazu gehört, daß wir unsere Wirtschaftlichkeit bis 2004 um 8,4 Milliarden Mark verbessern müssen." Das bahninterne Papier dokumentiert den „Planungsstand 28.9.2000". Es gibt Aufschluß darüber, welche Linien zum Fahrplanwechsel im Juni 2001 bundesweit von „MORA" betroffen sind. Es enthält an mehreren Stellen aber auch den Hinweis, daß Detailplanungen noch mit den Ländern abzustimmen sind.
Bei den Verkehrsministern stößt das „marktorientierte Reisezugangebot" auf Widerstand. Über die eine oder andere, nun zur Disposition stehende Interregio-Linie ist wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen. Für Aufsehen sorgten im Oktober Meldungen, wonach private Transportunternehmen bereit sind, Teile des Interregio-Netzes zu übernehmen, so auch den Abschnitt Berlin - Magdeburg. Die Gerüchteküche brodelt. Doch immerhin teilte das Ministerium für Wohnungswesen, Städtebau und Verkehr in Sachsen-Anhalt in einer Presseerklärung bereits mit, daß sich Minister trgen Heyer am 15. November mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Eisenbahngesellschaft (DEG), Jean-Michel Herrewyn, trifft. Die DEG gehört zur französischen Connex-Gruppe, und eben diese ist als möglicher Interregio-Anbieter im Gespräch!
Wie auch immer: Die Deutsche Bahn AG möchte jedenfalls, daß die Länder zum Ausgleich für gestrichene Fernzüge bei ihr mehr Nahverkehrszüge bestellen. Für einige Linien weist sie in ihrer Mitarbeiter-Information bereits auf Ersatzangebote hin, doch sind diese nur zum Teil schon mit den regionalen Aufgabenträgern (Landesregierungen, Verkehrsverbünde, Zweckverbände etc.) abgestimmt.
Die nach Ländern gegliederte Liste der Bahn enthält Fehler und Widersprüchlichkeiten (auch deshalb, weil sich das IR-Netz nun einmal nicht an den Landesgrenzen orientiert). So stimmen einige als „Ist-Zustand" angegebene Zugzahlen nicht, und die Formulierungen zum Weiterbetrieb oder Wegfall mancher Linienabschnitte sind schwammig. Folgende Liste der vom Konzept „MORA" betroffenen Verbindungen - neben IR-Linien auch Abschnitte von ICE- und IC-Linien — stützt sich auf das Papier. Wir haben sie jedoch um offenkundige Ungereimtheiten bereinigt und neu geordnet.
Vorangestellt sind die betroffenen Linien in Berlin und Brandenburg. Die weiteren folgen entsprechend den von der DB AG vergebenen Liniennummern länderübergreifend. Lange Linien, die von der „Neuausrichtung des Angebots" in unterschiedlichem Maße betroffen sind, haben wir der besseren Übersichtlichkeit halber in Abschnitte unterteilt.
Eine gute Nachricht sei der „Streichliste" vorangestellt: Zwischen Hamburg und Berlin wird vom kommenden Sommer an ein neues IR-Zugpaar über Uelzen - Salzwedel - Stendal eingesetzt, auf einer zunächst nur für den Regional- und Güterverkehr wieder eröffneten Verbindung. Das ist immerhin ein Lichtstrahl in der Finsternis...
Hier wird das Angebot auf ein tägliches Zugpaar zwischen Norddeich Mole und Berlin reduziert. Das bedeutet: Wilhelmshaven ist überhaupt nicht mehr und Bremen nur noch mit besagten IR-Paar (sowie einzelnen ICE-Zügen) mit Berlin verbunden. Bislang gibt es in der Relation Oldenburg - Bremen - Berlin einen Zweistunden-Takt.
Dieser Abschnitt entfällt. Zwischen Berlin und Cottbus sollen jedoch künftig stündlich RE-Züge verkehren (bisher alternierend mit den zweistündlichen Interregios).
Von dem offenbar zur Gänze auf der Streichliste stehenden IR-Angebot der Linie 25 Hof - München - Oberstdorf ist auch das von/nach Berlin verkehrende Zugpaar IR 2301/2300 „Göltzschtal" betroffen. Damit entfiele die Direktverbindung zwischen Berlin und dem Allgäu.
Über die Angebotsgestaltung wird noch mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern gesprochen.
Zwischen Berlin und Chemnitz wird die Zahl der Zugpaare von fünf auf drei reduziert.
Der annähernde Zweistundentakt zwischen Stralsund und Berlin wird aufgegeben. Künftig verkehren nur noch zwei Zugpaare zwischen Binz und Berlin, außerdem saisonale Wochenendzüge. Zum Fortbestand der IR-Verbindung Malmö - Stralsund - Berlin - Leipzig schweigt sich das Papier aus.
Südlich Berlins bleibt es beim Zweistunden-Takt.
Derzeit wird die IR-Linie 39 im Abschnitt Bad Kleinen - Dresden im Zweistunden-Takt bedient. Das „marktorientierte Reisezugangebot" sieht zumindest vor, die Interregios zwischen Lübeck und Stendal zu streichen (ansonsten sind die Passagen zur IR-Linie 39 eher nebulös). Der brandenburgische Verkehrsminister Hartmut Meyer erfuhr in Gesprächen mit dem DB-Vorstand jedoch, daß der durch die Prignitz über Wittenberge führende Abschnitt Lübeck - Halle voraussichtlich komplett entfällt.
Im Zusammenhang mit den Fernzugstreichungen weist die DB AG darauf hin, daß sämtliche RE-Linien über Berlin Stadtbahn in Zukunft mindestens im Stundentakt bedient werden. Dadurch würden auch die Bahnhöfe Berlin Friedrichstraße und Berlin Alexanderplatz weiter aufgewertet. Auf Nachfrage verdeutlichte die DB-Pressestelle, daß dort statt bisher fünf künftig sechs RE-Züge pro Stunde und Richtung halten (je einer auf den Linien RE 2 bis 5 und zwei auf der halbstündlich bedienten RE 1).
In die zur Zeit alle zwei Stunden bediente Linie RE 3 Dessau - Berlin Stadtbahn - Schwedt soll die bisherige RB-Linie 11 Beizig - Berlin-Charlottenburg integriert werden. Ab 10. Juni 2001 sollen die RE-Züge von Beizig über Berlin stündlich alternierend nach Schwedt und Stralsund verkehren.
Über ein Ersatzangebot für die Interregios Berlin - Görlitz schweigt sich die DB AG freilich aus - es ist auch keines geplant. Zwar gibt es pro Stunde einen Regionalexpress zwischen Berlin und Cottbus, Reisende nach Görlitz aber müssen generell in Cottbus umsteigen.
Von gegenwärtig insgesamt fünf ganzjährig bis Westerland durchgebundenen IC-Paaren verbleiben vier im Sommer und nur noch zwei im Winter.
Zur Zeit fahren hier etwa zweistündlich IC- oder ICE-Züge. Das Papier verweist auf den Stundentakt im Regionalverkehr und verspricht, es werde auch künftig „durchgehende Verbindungen von Kiel nach Berlin, Köln, Stuttgart und Basel mit mehreren ICE- und IC-Zugpaaren geben" - wie viele, läßt es offen.
Diese keiner Stammlinie zuzuordnenden Tagesrand-ICE von Stuttgart bzw. nach Göttingen werden zwischen Bremen und Bremerhaven gestrichen.
Das Angebot auf der noch annähernd zweistündlich bedienten Linie schrumpft im Abschnitt Rostock - Stralsund - Binz auf ein einziges IR-Zugpaar (mit Durchlauf von/nach Hamburg). Wieviele Interregios außerdem künftig den Abschnitt Hamburg - Schwerin - Rostock bedienen, geht aus dem Papier nicht hervor.
Erhalten bleiben soll der zur Zeit in den IR-Takt integrierte Intercity „Rügen", der das Rheinland über Hamburg mit Binz verbindet.
Das Angebot am Wochenende wird reduziert - aber: „Die durchgehende Verbindung nach Jütland bleibt bestehen" (so wörtlich in d em Papier).
Angebotseinschränkungen südlich von Hamburg sind bisher nicht angekündigt.
Dieser Abschnitt entfällt. Reisende zwischen Bremerhaven und Münster werden auf stündliche Fahrmöglichkeiten mit SE- und IC-Zügen (mit Umsteigen in Bremen) verwiesen.
Zwischen Münster und Trier gibt es weiterhin einen Zweistunden-Takt, drei Zugpaare fahren täglich bis/ab Luxemburg.
Dieser Abschnitt entfällt, denn „die Verbindung kann durch Regio-Leistungen sichergestellt werden".
Explizit hingewiesen wird auf den Wegfall aller IR-Züge zwischen Hamburg und Lübeck, da diese „ausschließlich Pendlerleistungen im Nahverkehr erbringen". Zwischen den beiden Hansestädten fahren stündlich bzw. halbstündlich Regionalzüge. Angaben zum saisonierten IR-Verkehr nach Puttgarden hingegen fehlen.
Hier bleibt es beim Zweistunden-Takt.
Die Schwarzwaldbahn wird nur noch mit zwei IR-Paaren befahren.
Alle IR-Züge auf diesem Teilstück entfallen.
In diesem Abschnitt bleibt das Angebot unverändert erhalten.
Das „MORA"-Papier vermeldet: „Ersatzloser Ausfall des einzigen Zugpaares pro Tag". Gemeint ist das Zugpaar bis/ab Chemnitz. Und was wird aus den derzeit noch in Gera endenden bzw. beginnenden Zügen?
Zwei der vier Zugpaare zwischen Würzburg und München entfallen. Keine Angaben zur Durchbindung von/nach Frankfurt (Main).
Das Angebot der bislang zwischen Hagen und Frankfurt zweistündlich bedienten Linie wird auf ein einziges Zugpaar zwischen Norddeich Mole und Frankfurt reduziert, der Ast Düsseldorf - Hagen also überhaupt nicht mehr bedient.
Für den überwiegend hessischen Abschnitt Siegen - Gießen - Frankfurt (Main) stellt die DB AG als Ersatz sechs RE-Paare in Aussicht.
Das einzige Zugpaar dieser Linie entfällt.
Die vier Zugpaare zwischen Hof und Oberstdorf einschließlich der Verbindung mit Berlin (über Leipzig) entfallen. Offen läßt das „MORA"-Konzept, ob es noch (wie einmal in Aussicht gestellt) ein saisoniertes Angebot München - Oberstdorf und weiterhin das IR-Paar der Relation München - Schwandorf - Prag gibt.
Für das nächste Jahr wird die mit ICE-TD bediente ICE-Linie 17 Dresden - Hof - Bayreuth - Nürnberg angekündigt. Reisenden von Hof nach München empfiehlt die DB AG, künftig die Neigetechnik-ICE bis Nürnberg zu nutzen, und von dort mit „nach Fertigstellung der Hochgeschwindigkeitsstrecke" (Anm. der Redaktion: wann?) wesentlich schnelleren ICE-Zügen bis München zu fahren. Im übrigen wäre sowohl im Nordabschnitt als auch im Südabschnitt der heutigen IR-Linie 25 „ein Alternativangebot des Regionalverkehrs vorstellbar" (aha...).
Der Zweistunden-Takt wird in diesem Abschnitt beibehalten.
auch die IR-Verbindung Trier/Saarbrükken - Ulm - Innsbruck. „An ihre Stelle könnten teilweise Regionalverkehre treten."
Die acht IR-Paare durch das Remstal über Aalen bleiben erhalten, die zwei IR-Paare auf der Murrbahn über Schwäbisch Hall-Hessental entfallen.
Zwischen Saarbrücken und Mannheim wird das Interregio-Angebot dieser Linie auf vier Zugpaare gekürzt; zuzüglich einzelner, teils nach/von Frankfurt durchgebundener Verstärkerzüge.
Den tagsüber zweistündlichen ICE-/EC-Verkehr, verdichtet um einige Interregios, bezeichnet die DB AG als nachfragegerecht.
Diese Linie soll im Abschnitt Lübeck - Schwerin - Stendal laut Mitarbeiter-Information der DB AG eindeutig entfallen. Für das Teilstück Stendal - Magdeburg findet sich bei Sachsen-Anhalt nur der schwammige Hinweis, daß es ebenfalls von MORA betroffen ist. Ob das nun die völlige Einstellung oder nur eine Angebotsausdünnung bedeutet, bleibt offen. (Redaktionelle Anmerkung: Sinnvoll wären Fernverkehrsanschlüsse von/nach Stendal). Zur Disposition steht offenbar jedoch der gesamte Abschnitt Lübeck - Halle; siehe dazu oben unter Brandenburg.
Dem Papier zufolge sind in Sachsen nur die IR-Linien 14, 20 und 25 (siehe dort) von Angebotskürzungen betroffen. Demnach bliebe die Linie 39 zwischen Halle und Dresden erhalten. Zu vor Monaten bekannt gewordenen Überlegungen, die Linie 39 auf einem noch festzulegenden Laufweg von Kiel bis Prag durchzubinden, finden sich keine Angaben.
IGEB, Abteilung Fernverkehr
aus SIGNAL 8/2000 (Dezember 2000), Seite 14-17