Berlin

Das Tokyo-Feeling

Wie der BVG-Busverkehr immer attraktiver wird


Jan Gympel

1. Jun 2001

Weihnachten war die Zeit des Schenkens, und auch die BVG wollte ihre Lieben mit einer Gabe bedenken. Dabei wußten wir Busbenutzer im Berliner Südwesten jedoch noch nicht, auf welche zukünftigen Genüsse wir da im Advent, der Zeit der Vorfreude, eingestimmt wurden.

Denn im dicksten Weihnachtsgeschäft setzte der Verkehrsbetrieb im vergangenen November in dem, was er für „verkehrsschwache" Zeiten hielt, plötzlich auf den Linien 185 und 186 nur noch Eindecker ein. Und zwar nicht etwa Gelenkbusse oder die neuen, fünfzehn Meter langen Dreiachser, sondern ganz normale, kurze Eindecker. Erst dachte ich, die BVG habe bei ihrem emsigen Bemühen um eine stegtige Verbesserung des Öffentlichen Personennahverkehrs wohl übersehen, daß diesmal auch schon an den Novembersamstagen die Geschäfte bis 18 Uhr geöffnet haben durften, weshalb die Stunden davor für die beiden Linien, die über die Steglitzer Schloßstraße führen, alles andere als „verkehrsschwach" waren.

Das waren noch Zeiten, als ausschließlich Doppeldecker auf dem 146 und 185 eingesetzt wurden. Foto: Marc Heller, Mai 1995

Doch dann fiel mir ein, daß die BVG ja schon vor geraumer Zeit eine drastische Reduzierung des Anteils der Doppeldecker an ihrem Wagenpark verkündet hatte und der Bestand mangels Neubeschaffungen auch schon deutlich zurückgegangen ist - inzwischen ist nicht einmal mehr jeder vierte von zehn Bussen ein „großer Gelber". Hinzu kommt, daß der überalterte Wagenpark teils mit Korrosionsschäden zu kämpfen hat, weshalb bei einer Reihe von Fahrzeugen der Aufbau saniert werden muß und diese nicht zur verfügung stehen. All dies hat zur Folge, daß zwar nicht die Fahrgastzahl, die befördert werden können, wesentlich reduziert würde - allerdings geht der Komfort doch ein klein wenig zurück, denn während beim Doppeldecker der Sitzplatzanteil bei über achtzig Prozent liegt, beträgt er beim Eindecker maximal vierzig.

„Wir müssen konkurrenzfähig werden", hatte BVG-Sprecherin Mansfield zu dieser Strategie einmal erklärt. „Die Konkurrenzfähigkeit mit dem eigenen Wagen kann sie damit wohl nicht gemeint haben", hatte ich gedacht, mich damit aber ein weiteres Mal als unverbesserlicher Nörgler und Pessimist erwiesen. Denn in Wahrheit steckt hinter der ganzen Sache ein geniales neues Marketingkonzept der BVG, wie man seither zwischen Vormittag und frühem Nachmittag auf den beiden genannten Linien beobachten kann.

Hat sich die BVG doch zum Glück auch nicht an ihre Ankündigung gehalten, die ganz- oder zeitweise Umstellung auf Eindecker nur auf kürzeren Relationen vorzunehmen: Der 186er fährt vom S-Bahnhof Lichterfelde Süd durch Lichterfelde, Steglitz, Friedenau und Schmargendorf bis zum Roseneck, manchmal auch noch weiter bis zum S-Bahnhof Grunewald. Der 185er verkehrt vom gleichen Ausgangspunkt bis zum Wittenbergplatz. Und beide Linien sind zwei der wichtigsten Zubringer zur Schloßstraße, die allem Gejubel über die Friedrichstraße und das Shoppingcenter am Potsdamer Platz zum Trotz noch immer die zweitwichtigste Einkaufsmeile in Berlin ist.

Und so kann man hier jetzt jeden Tag beobachten, was wohl passiert, wenn man die Fahrgäste, die einen Doppeldecker gut füllen würden, mal eben in ein halb so großes Gefährt quetscht. Wobei es besonderen Spaß bringt, daß an jeder Haltestelle ein großes Gewühle losgeht, denn dummerweise wollen nicht alle Beförderungsfälle einfach von A nach D kutschiert werden, manche erdreisten sich auch, schon bei B aus- oder erst bei C einzusteigen. Dies alles ermöglicht nun nicht nur interessante psychologische Studien über den Zusammenhang zwischen der Einschränkung des pro Person verfügbaren Raumes und dem Wachstum von Aggressivität. Auch zeigt sich die BVG engagiert im Kampf gegen die Isolation des Großstadtmenschen: Endlich einmal kommt man seinen Mitbürgern so richtig nahe, riecht ihren Atem, atmet ihre Ausdünstungen ein, erhält jenen körperlichen Kontakt, den doch so viele entbehren müssen. Und erfährt ansatzweise auch, was sie wohl eingekauft haben, sollten sie leichtsinnigerweise versuchen, mit ein oder zwei gefüllten Einkaufstüten den Heimweg anzutreten.

Eine weitere Steigerung erfährt dieses Vergnügen, wenn jemand mit einem Kinderwagen ankommt. Doch am allerlustigsten wird es, wenn dann auch noch eine Überprüfung der Fahrausweise verfügt wird. Damit sich die Kontrolleure Zeit lassen können, wenn sie sich durch den überfüllten Bus quetschen (was um so länger dauert, als die meisten von ihnen aussehen, als hätten sie die ersten dreißig Jahren ihres Berufslebens mit einer Tätigkeit verbracht, bei der man die ganze Zeit sitzt und auch nie Lust auf Ausgleichssport verspürt), bleibt dieser solange einfach an der Haltestelle stehen. Angesichts der Verspätung, die durch den umständlichen Fahrgastwechsel an den Haltestellen bereits entstanden ist, fallen diese fünf Minuten auch nicht mehr ins Gewicht. Und schließlich gilt es sicherzustellen, daß nicht etwa der eine oder andere Beförderungsfall auf den Gedanken kommt, für einen solchen Service wie ihn die BVG bietet, brauchte man eigentlich nur noch jedes zweite Mal zu bezahlen. Oder noch besser gar nicht mehr.

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Den Ausnahmefall des ansonsten recht rar gewordenen Kontakts mit BVG-Personal sollte man allerdings nicht dazu nutzen, sich gleich mal über das Absinken von Komfort und Qualität zu beschweren, derweil die Fahrpreise in einem Tempo steigen, das sich offenkundig an der Inflationsrate Brasiliens orientiert. „Sie haben ja gar keinen Sitzplatzanspruch!" wurde mir darauf neulich schlicht erwidert, nach dem Motto: „Klappe halten und dankbar sein, daß Du überhaupt mitgenommen wirst!" Und richtig, die BVG geht ja nicht nur von der durchaus richtigen Überlegung aus, daß mit ihr sowieso nur noch fährt, wer für den eigenen Wagen zu arm, zu alt oder zu jung ist, sie also kaum befürchten muß, noch mehr Fahrgäste zu vergraulen als sie dies in den letzten Jahren schon getan hat. Die BVG weiß auch, daß sich aus all dem ein Erlebnis machen läßt.

Denn mit der vermehrten Umstellung auf Eindeckerbetrieb trägt das Verkehrsunternehmen dazu bei, daß Berlin auf dem Weg zum ersehnten Rang einer Weltstadt einen weiteren Schritt vorankommt. Busfahren wird auf diese Weise zum Erlebnis, pardon „Event": Seit die Fenster zunehmend mit Reklame zugekleistert werden, können wir ja schon das „Nachkriegsfeeling" genießen - durch die Stadt kutschiert werden mit fast soviel Ausblick wie anno '47, als es statt Scheiben meist nur Pappe oder Blech gab. Nun kommt das "Tokyo-Feeling" hinzu: Zusammengepfercht wie in der U-Bahn der japanischen Hauptstadt, wozu die BVG sich hoffentlich bald auch der berühmten Hilfskräfte bedienen wird, die die Fahrgäste in die Wagen quetschen. Und das nächste Feeling könnte dann noch mehr Reklameflächen, Beförderungskapazität und weniger Reparaturkosten bringen: Man verzichtet konsequenterweise gleich ganz auf Sitze und Fenster.

Jan Gympel

aus SIGNAL 3/2001 (Mai-Juni 2001), Seite 11-12