Berlin

Noch ein Hauptbahnhof in Berlin!

Die Welt ist so unsicher geworden. Doch auf eines kann man sich noch immer verlassen: Von allen schlechten Lösungen, die denkbar sind, picken Senat und Bahn AG mit schlafwandlerischer Sicherheit die allerschlechteste heraus. Und so bekommt Berlin, Hauptstadt der BRD, nun endlich wieder einen Hauptbahnhof.


Jan Gympel

1. Nov 2002

Wenn auch der Lehrter Bahnhof womöglich nie ganz fertig wird - einen neuen Namen benötigt er trotzdem. „Eine Hauptstadt braucht einen Hauptbahnhof", wird stellvertretend Margit Scheller-Wegener von der Firma Metadesign, der die BVG ihr Corporate Design zu verdanken hat, im „Tagesspiegel" vom 12. September zitiert. Richtig, und deshalb erblassen London, Paris oder Wien, denn mangels Hauptbahnhof sind sie als Provinzstädtchen gebrandmarkt. Ganz im Gegensatz zu strahlenden Metropolen wie Bielefeld, Kaiserslautern, Spremberg oder Neustrelitz die alle eine so betitelte Station stolz ihr eigen nennen.

„Wichtigstes Argument bleibe Orientierungshilfe", erfahren wir, und vor so viel geballter Kompetenz kann man endgültig nur noch kapitulieren. Denn wenn man am künftigen Berliner Hauptbahnhof aussteigt, wird man dort all das finden, was man an den Hauptbahnhöfen von Frankfurt am Main, München, Leipzig, Hamburg oder Köln findet und deshalb auch an der Spree erwartet: Um den Lehrter, pardon Hauptbahnhof, gibt es Kinos, Diskos und Theater, massenweise große und kleine Hotels, Waren- und Geschäftshäuser und nicht zu vergessen ein Rotlichtviertel. Bis in die späte Nacht hinein tobt dort das Leben, und nur wenige Schritte entfernt befinden sich der alte Kern und das gegenwärtige, unumstrittene Zentrum der Stadt. Alles ganz so wie bei jener Station, die diesen Namen auch schon einmal trug. Konsequenterweise sollte man auf dem neuen Berliner Hauptbahnhof Zusatzschilder anbringen: „Berlin - Hauptstadt der BRD".

Zugegeben, momentan liegt „der größte Kreuzungsbahnhof Europas" (neue Sprachregelung in den Dufte-Medien, seit bemerkt wurde: die Hauptbahnhöfe von Leipzig oder Frankfurt/M. sind doch ein wenig größer) noch in einer Einöde zwischen verschlafenen Regierungsviertel, leerstehenden Wohnungen, Leichenschauhaus und Brachland. Aber sicher bald werden sich die Investoren darum reißen, hier, im Herzen der Boomtown Berlin, Wohnungen, Büros oder auch Filmtheater zu bauen - Dinge, welcher die explosionsartig wachsende Stadt, in der die Arbeitsplätze wie Pilze aus dem Boden schießen und die Kaufkraft sprunghaft steigt, dringend bedarf.

So ist die gefundene Lösung nicht nur ein echter Strieder: Durchströmt von Wunschdenken, wird plötzlich ein Name bestimmt, der bei der mit viel Trara durchgeführten Abstimmung schon in der ersten Runde mangels Zuspruch aussortiert worden war. Sie ist auch ein Musterbeispiel sozialdemokratischer Entmün-, pardon: Fürsorgepolitik. Man stelle sich nur vor, jemand würde an einem Fahrkartenschalter, pardon: TicketCounter, ein Billett nach Berlin verlangen und hätte dann auszusuchen zwischen Zoo, Ostbahnhof, Lehrter Bahnhof, Lichtenberg und was es noch so gibt! Kann man von Bahn-Bedienstesten, Verzeihung: CustomerConsultants, erwarten zu wissen, wie diese Station im Zentrum der deutschen Hauptstadt heißt? Früher gab's die praktische Tarifbezeichnung „Berlin Stadtbahn", da konnte man dann aussteigen, wo man wollte, oder auch noch ein wenig mit der S-Bahn weiterfahren - aber das war ja in der furchtbaren alten Zeit.

Doch warum auf halbem Weg stehen bleiben? Zumal München seit kurzem die wohl erste deutsche Stadt ist, wo auf der Netzspinne dem altertümlichen deutschen Wort „Hauptbahnhof" die Bezeichnung „Central Station" hinzugefügt worden ist. So internäschenell müssen auch wir schleunigst werden! Wie wäre es also mit „Berlin City Central Station" (sprich: Börlinn Ssiddy Ssentrell S-teyschen)? Vielleicht noch mit den Untertiteln „Chancellor's Office" und „Reich's Day". Oder so.

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In der „Abendschau" hat der Senator für Bauen, Wohnen, Verkehr etc. pp. auch bereits in erfreulicher Offenheit erklärt, wie er sich das weitere Verfahren vorstellt: Wenn der Bahnhof fertig ist, werden sich die Leute schon an den neuen Namen gewöhnen, basta!

Und den Untertitel „Lehrter Bahnhof", jetzt noch zur Beruhigung der erzürnten Volksseele beigegeben? Den könnte mann möchte man Strieder ergänzen, bei irgendeinem Fahrplanwechsel klammheimlich wegfallen lassen. Die S-Bahn hat doch gerade mit der geschwinden Totalentsorgung der Traditionsnamen Witzleben und Eichkamp gezeigt, wie sowas funktioniert.

Zumal die doofen Berliner selber schuld sind, wenn sie das Falsche entscheiden. Dabei hatte man sie gleich zweimal abstimmen lassen. Und Strieders Verwaltung hatte ihnen weiß Gott reichlich Hilfestellung für das richtige Votum gegeben: Wer im Internet die Stadtentwicklungs-Verwaltung anwählte, erfuhr: „In Berlins Mitte entsteht ein völlig neuer Bahnhof der Superlative. Nach seiner Fertigstellung werden mehr als 200.000 Passagiere täglich das neue Gebäude frequentieren. In 15 Meter Tiefe unter dem Straßenniveau liegen die vier Bahnsteige in Nord-Süd-Richtung, zehn Meter über dem Straßenniveau sind die zwei Bahnsteige für die Regional- und Fernzug in Ost-West-Richtung. Natürlich ist der Bahnhof an das S- und U-Bahnnetz [sic!] angebunden. Einen solchen Bahnhof gab es bisher in Berlin nicht. Der neue Bahnhof braucht einen neuen Namen!" Klickte man weiter, landete man auf der Abstimmungsseite und las dort: „Der neue Bahnhof der Superlative in Berlins Mitte soll heißen..." Und als erste Möglichkeit wurde genannt- Strieders Lieblingsname „Berlin Mitte".

Bald kann sich die Bundeshauptstadt mit einem weiteren Titel schmücken: sie ist die einzige Stadt mit zwei Hauptbahnhöfen. Den Herren Strieder und Mehdorn sei Dank! Denn die Berliner Parkeisenbahn hat ihn schon viel länger - den Hauptbahnhof! Foto: Alexander Frenzel

Nach diesem Vorbild könnte man demnächst auch die Wahlzettel gestalten: „Entscheiden Sie, ganz unbeeinflusst, ob es gemeinsam mit der SPD und ihrem tollen, sympathischen, superkompetenten Landesvorsitzenden Strieder weiter aufwärts gehen soll oder aber mit dem unfähigen Haufen wie CDU, FDP oder Grünen schnurstracks ins Verderben." Oder Strieder ernennt sich gleich selbst zum Senator auf Lebenszeit. Bei seinem in Sachen Lehrter Bahnhof demonstrierten Verständnis von Demokratie wäre dies nur konsequent.

In den Wochenend- und Feiertagsnächten verkehrten im Berliner Schnellbahn-Netz alle S-Bahn-Linien, die U 9 (Osloer Straße - Rathaus Steglitz), eine U 12 (Warschauer Straße - Ruhleben) und die U 6 auf dem Abschnitt Seestraße - Tempelhof. Doch das U 6-Nachtangebot gibt es seit dem 13. Oktober 2002. Das Angebot wurde von der S-Bahn GmbH als Ersatz für den S-Bahn-Nord-Süd-Tunnel finanziert. Und da der Tunnel ab dem Morgen des 13. Oktober wieder befahren werden kann, endet an diesem Tag die Bestellung der nächtlichen U 6-Fahrten.

Die Einstellung des U 6-Nachtverkehrs ist deshalb so ärgerlich, weil Senat und BVG seit langem auf den Innenstadtstrecken der U-Bahn, also auch auf der U 6, einen durchgehenden U-Bahn-Nachtverkehr planen. Denn in beiden Häusern hat man gemerkt, dass der Bus-Nachtverkehr am Wochenende am Rande seiner Leistungsfähigkeit ist. Man fahre zum Beispiel mit dem N 5 über Karl-Marx- und Frankfurter Allee. Oft gibt es nur noch Stehplätze, und das bei einem 15-Minuten-Takt des N 5. Derweil herrscht unter diesem Straßenzug im U5-Tunnel Nachtruhe.

Der über vier Monate erprobte U 6-Nachtverkehr hätte ein guter Einstieg in den künftigen nächtlichen Innenstadt-U-Bahn-Verkehr an Wochenenden sein können. Natürlich wird dieser Verkehr Umstrukturierungen und Einsparungen bei teilweise parallelen Nachtbuslinien erfordern. So funktioniert es ja schon bei der U 9: In der Woche fährt der Bus N 9, am Wochenende die U-Bahn U 9. Doch die BVG hat die U 6-Chance nicht genutzt. Statt dessen bietet sie weiterhin ein rudimentäres U-Bahn-Nacht„netz" aus zwei Linien, das 1989 für West-Berlin entwickelt und 1990 gestartet wurde. Im U-Bahn-Nachtverkehr gibt es sie also noch immer: die Berliner Mauer. So wird Wochenende für Wochenende auf dem Westast der U 2 nach Ruhleben (U 12) vor allem warme Luft transportiert, während auf dem Ostast nach Pankow, in dessen Umfeld das Nachtleben von Prenzlauer Berg tobt, der U2-Verkehr ruht.

Jan Gympel

aus SIGNAL 5/2002 (November 2002), Seite 23-24