Berlin
Schlichte Zumutung und schöner Teil des Großstadttreibens: Die Hochbahn in der Schönhauser Allee wird 100 Jahre alt
8. Jul 2013
Ist von der Schönhauser Allee die Rede, denken wohl die meisten Berliner sofort an die dortige Hochbahn, die am 27. Juli vor hundert Jahren ihren öffentlichen Betrieb aufnahm. Offenbar wird das Image dieses Boulevards von dem eisernen Viadukt stärker geprägt als jenes von Bülow-, Gitschiner, Skalitzer oder Oberbaumstraße – und dies, obwohl die drei letztgenannten, anders als die Schönhauser Allee, auf voller Länge von einer Hochbahn durchzogen werden.
Dabei verdankt das Bauwerk in Prenzlauer Berg seine Entstehung rein finanziellen Erwägungen: Die Strecke vom Spittelmarkt zum Alexanderplatz war unmittelbar zuvor errichtet und bereits am 1. Juli 1913 eröffnet worden. Sie hatte sich – vor allem wegen der Unterfahrung der Spree und zahlreicher Häuser in der noch dicht bebauten Altstadt – als teurer denn erwartet entpuppt.
Die Mehrkosten sollten durch die Anlage einer Hoch- anstelle einer Untergrundbahn wenigstens teilweise wieder hereingeholt werden. Außerdem vermied man auf diese Weise eine komplizierte Kreuzung mit der hier im Graben verlaufenden Ringbahn und mit großen Abwasserkanälen.
Im eher proletarisch geprägten Berliner Norden, meinten die Verantwortlichen, müsse auf Anwohnerproteste wenig Rücksicht genommen werden. War lange geglaubt worden, in Berlin wegen der Bodenbeschaffenheit gar keine Tunnel bauen zu können, so hatte sich die Stimmung rund eine Dekade nach der Inbetriebnahme der Hoch- und Untergrundbahn vollständig gedreht: Die ursprünglich favorisierten und allen voran von Siemens ausgiebig propagierten Viaduktstrecken waren selbst in einem bestenfalls halbdemokratischen Obrigkeitsstaat wie dem deutschen Kaiserreich politisch kaum mehr durchzusetzen.
So war denn die Hochbahn in der Schönhauser Allee, nach und neben der 1902 eröffneten Stammstrecke, bereits das letzte eiserne Viadukt inmitten einer Straße, welches in Berlin errichtet wurde. Als man es verlängerte – die Verbindung zum heutigen Bahnhof Vinetastraße ging am 29. Juni 1930 in Betrieb –, ließ man die Strecke so schnell wie möglich in der Erde verschwinden. Was in diesem Falle eben bedeutete: nach der Kreuzung mit der Bornholmer/Wisbyer Straße. In technischer Hinsicht hätte nichts dagegen gesprochen, die sich an die Schönhauser Allee anschließende Berliner Straße in Pankow wenigstens bis kurz vor der Stettiner Bahn mit einer Hochbahn zu versehen.
Heute wäre ein eiserner Viadukt schon aus Kostengründen kaum mehr vorstellbar: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Preise für Stahl stark gestiegen, schon deshalb führte man Hochbahnen – etwa zwischen Nürnberg und Fürth oder einen Teil der S-Bahn nach Hamburg-Harburg – in Stahlbeton aus.
Derlei wäre wiederum vor hundert Jahren undenkbar gewesen, allein schon weil einer gefälligen Gestaltung des öffentlichen Raums ungleich mehr Bedeutung beigemessen wurde als heutzutage, wo man schon froh ist, wenn der Schmutz, die Schmierereien, die allgemeine und auch die ästhetische Verwahrlosung zumindest nicht überhand nehmen.
Umso bemerkenswerter ist, wie vergleichsweise wenig Ambition und sonstiger Aufwand in der Schönhauser Allee auf eine dem breiten Geschmack schmeichelnde Formgebung verwendet wurde. Die ersten in Berlin gebauten Hochbahnviadukte waren ja – um damals bereits starken Vorbehalten zu begegnen – betont zartgliedrig und transparent gehalten. Nur entlang der gesamten Oberbaumstraße ist noch ein Stück davon erhalten, und nach allen Erfahrungen mit dem Denkmalschutz für Verkehrsbauten in Berlin darf man davon ausgehen, dass auch dieses bedeutende Dokument der örtlichen Verkehrsgeschichte in einigen Jahren verschwinden wird.
Für den um 1900 vorherrschenden Geschmack stellten diese Anlagen dennoch eine Zumutung dar. Es begann schon mit dem verwendeten Werkstoff: Eisen galt nicht als „echtes“ Material – wie allen voran Stein –, sondern als ästhetisch minderwertig. Der Bauherr versuchte, die Viadukte aufzuwerten, indem er sie mit allerlei Schmuck behängte und in der Bülowstraße von vornherein etwas anders gestaltete und auch mit steinernen Elementen ergänzte.
Die wohl wesentlichste Abweichung vom ursprünglichen Standardentwurf stellte die Schrägstellung der Stützen dar, was dem Viadukt eine dynamischere Anmutung verlieh. Das wurde auch ein gutes Jahrzehnt später in der Schönhauser Allee übernommen. Freilich hatten sich die Konstruktionen auf der Stammstrecke als allzu filigran erwiesen. Im Berliner Norden kamen daher statt Fachwerk- weniger korrosionsanfällige Vollwandträger zum Einsatz.
Auf Dekoration wurde relativ wenig Wert gelegt – wohl nicht nur, weil der Jugendstil mit seinen fließenden Formen, der noch heute die Hochbahn in der Bülowstraße prägt, um 1913 bereits als veraltet, wenn nicht gar geschmacklos galt. Offenkundig hatte man schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg, welcher den Untergang der bürgerlichen Gesellschaft einleiten und wahrlich ein Zeitalter beenden sollte, einen gewissen Sinn für schmucklosen Funktionalismus entwickelt.
Zwar gibt es bei der Hochbahn in der Schönhauser Allee an den Straßenkreuzungen noch steinerne Portale, und ursprünglich wurden diese – die auch als stabile Brückenwiderlager dienen mögen – von verzierten Bögen bekrönt (letzte Beispiele für solchen Schmuck haben sich am Übergang von der Rampe zum eisernen Viadukt, nicht weit südlich der Station Eberswalder Straße, erhalten). Noch bemerkenswerter sind die Stützen, auf denen die letztgenannte Haltestelle ruht: Man möchte meinen, in maximalem Kontrast zu den feingliedrig wirkenden Konstruktionen, auf denen noch heute die Stationen Görlitzer Bahnhof, Prinzenstraße oder Hallesches Tor stehen, sollte hier so stabil wie möglich gebaut werden.
Auch in der Schönhauser Allee zeichnete, wie bei so vielen Berliner U-Bahn-Bauten bis 1930, als Architekt Alfred Grenander verantwortlich. In den mächtigen Stützen mag man einen Hang zum Monumentalen und zum Neoklassizismus ausmachen, der für jene Zeit nicht untypisch ist und der auch in dem – ebenfalls 1913 nach Plänen Grenanders fertiggestellten – Empfangsgebäude auf dem Wittenbergplatz zum Ausdruck kam.
Die massive Sockelkonstruktion wirkt um so klobiger, als auf ihr eine vergleichsweise kleine, ganz einfach und funktional gestaltete Bahnsteighalle thront. Diese wird zwar in der Längsachse bekrönt von einer satteldachförmigen Oberlichtraupe, doch erstens war man 1913 noch Jahre entfernt von den Glaubenskriegen um das Flachdach und zweitens bewirkt die satteldachartige Ausführung einen besseren Lichteinfall als eine flache, ist also letztlich zweckgerichtet.
Den einzigen Schmuck an der Halle stellen die andreaskreuzförmigen Sprossen der hochliegenden seitlichen Fensterbänder dar (beim heutigen Bahnhof Schönhauser Allee, dessen Halle nahezu identisch gestaltet wurde, blieben diese Sprossen nicht erhalten). Ansonsten sind die Wände geschlossen. Ursprünglich wurden sie von langen hölzernen Reklametafeln dominiert.
Die Grundform der beiden Hochbahnstationen in der Schönhauser Allee erinnert an den 1912 nach einem Entwurf Sepp Kaisers errichteten Bahnhof Gleisdreieck, auf dessen Außenansicht freilich auch deshalb wenig Wert gelegt zu werden brauchte, weil diese in Anbetracht der Lage der Station kaum jemand wahrnehmen konnte. Anders als in Gleisdreieck tragen in der Schönhauser Allee die bogenförmigen Binder der Bahnsteighallen viel stärker zur Raumwirkung bei. Und während der Mittelperron nun auch bei Viaduktstationen zum Standard geworden war, wurden die Zugänge noch immer mit doppelläufigen Treppen versehen. Nur an der Haltestelle Eberswalder Straße ist diese Situation erhalten, und so kann man dort auch heute noch erkennen: Ein einfacherer, einladenderer Zugang zu den Flächen unter der Hochbahn wurde erkauft mit für den Fahrgastandrang zu schmalen Treppen.
Kurzsichtig erscheint auch der Gedanke, angesichts des Mittelbahnsteigs auf große Fensterflächen in den Seitenwänden der Hallen verzichten zu können, da die Züge diese ohnehin verdecken würden: Der 1929 eröffnete neue Hochbahnhof Kottbusser Tor wurde ebenso auf voller Länge großflächig verglast wie ungefähr zeitgleich oder wenig später entstandene Bahnsteighallen der S-Bahn, etwa in Jannowitzbrücke, Westkreuz, Schöneberg oder Zoo.
Rund um das Kottbusser Tor – genauer: zwischen der Oranien-/Wiener Straße und der Zossener Brücke – kann man auch aus der Zwischenkriegszeit stammende Viadukte sehen, welche die rasch verschlissenen Ursprungsbauten ersetzten. Interessanterweise sind sie anders gestaltet als die an der heutigen Kreuzung Paul-Robeson-/Erich- Weinert-Straße beginnende Verlängerung der Hochbahn in der Schönhauser Allee: Diese wurde so ausgeführt, dass die Längsträger – gestützt von simplen Pfeilern mit quadratischem Grundriss – über statt unter der Fahrbahnfläche für die Züge liegen. Diese Konstruktionsweise gewährleistet eine bestmögliche Beleuchtung des unter dem Viadukt verlaufenden Fußwegs – anders als in Kreuzberg oder in der Bülowstraße wird dieser Raum in der Schönhauser Allee ja nicht mittlerweile als Parkplatz zweckentfremdet. Der „Magistratsschirm“ kann also noch benutzt werden.
Wobei Letzteres wohl eine dieser Bezeichnungen ist, von denen die Berliner staunend in gewissen Büchern und Artikeln lesen, sie würden sie benutzen. Sie ist natürlich auch sachlich falsch, denn 1913 hatte die Stadt Berlin noch nicht einen einzigen Kilometer Hoch- oder Untergrundbahn fertiggestellt. Auch die Strecke zur Schönhauser Allee war von privater Seite gebaut worden und wurde privat betrieben – beides übrigens, heute unvorstellbar, ohne Subventionen der öffentlichen Hand.
Die Hochbahn im Norden bildete dabei den Abschluss der ersten Schnellbahnstrecke durch das Berliner Zentrum. Deren Bau wurde als willkommene Gelegenheit genutzt, in der Altstadt mal wieder kräftig abzureißen – als die DDR dort um 1970 neben zahlreichen Gebäuden sogar das aus der Anfangszeit Berlins überkommene Straßennetz tilgte, war dies ja nur der finale Akt eines seit mindestens einem Jahrhundert mit regelrechtem Hass betriebenen Zerstörungsprozesses.
So soll es der Stadtverwaltung ganz recht gewesen sein, dass durch die Untertunnelung der Spree eine große Bresche in den ufernahen Bestand an Gebäuden des 17. und 18. Jahrhunderts geschlagen wurde. Kurz zuvor hatte man – direkt neben dem 1913 eröffneten U-Bahnhof Klosterstraße – mal eben einen ganzen Block abgebrochen, um Platz für das Stadthaus zu schaffen. Und parallel zum Bau der U-Bahn wurde seit 1906 der Kern des Scheunenviertels kahlschlagsaniert und an seiner Stelle der heutige Rosa-Luxemburg-Platz angelegt.
So fragwürdig dieses Vorgehen war – die Innenstadtstrecke erwies sich rasch als voller Erfolg. Bis zum Mauerbau 1961, durch den sie bis 1993 vom restlichen Kleinprofilnetz abgetrennt wurde, war sie eine der am stärksten frequentierten der Berliner U-Bahn. So rühren aus jener Zeit auch die Pläne, sie durch eine geradlinige Großprofilverbindung zwischen Alexanderplatz und Potsdamer Platz zu ergänzen – Pläne, die man inzwischen wohl als wilde Phantasien bezeichnen darf, denn dank veränderter Verkehrsströme und Stadtstrukturen sowie neuer U-Bahn-Strecken wirkt die heute von der U 2 genutzte Trasse keineswegs mehr überlastet, unweit von ihr wird gerade die parallel verlaufende Verlängerung der U 5 gebaut, und eine Straßenbahn soll zwischen Alex und Potsdamer Platz ja eigentlich auch noch entstehen.
Apropos Straßenbahn: Nahezu auf ihrer gesamten Länge – und im Norden noch über die am 16. September 2000 eröffnete neue Endstation Pankow hinaus – wird die Hochbahn in der Schönhauser Allee von der Tram begleitet. Dabei ist Parallelverkehr auf Schienen für die BVG Teufelszeug. Abgesehen von einem Teil von Friedrich- und Chausseestraße gibt es ihn daher auch nirgends auf nur annähend so langer Strecke wie in der Schönhauser Allee und der Berliner Straße.
Dabei war es sicher auch dieses Nebeneinander von Hoch- und Straßenbahn, welches der Schönhauser Allee in den Jahren der Teilung das Image verschaffte, Ost-Berlins lebendigste Straße zu sein. Natürlich hatte die Schönhauser Allee, der bald sogar die Ehre zuteil wurde, im Schlager besungen zu werden, auch wenig Konkurrenz: Die als Prachtmeile gedachte Stalinallee war architektonisch noch vor ihrer Fertigstellung wieder in Ungnade gefallen und viel zu weitläufig, um wirklich Urbanität zu entfalten. Erst recht galt dies für die mühsam mit größtenteils belanglosen Betonklötzen kaschierte, erst um 1970 geschaffene Einöde rund um den Fernsehturm.
Ging es darum, quirliges Großstadttreiben zu zeigen, drehte man daher für Film wie Fernsehen gern in der Schönhauser Allee. Und beginnend mit Gerhard Kleins 1957 entstandenem Spielfilm „Berlin – Ecke Schönhauser“ wurde insbesondere die große Kreuzung vor der heutigen Station Eberswalder Straße so oft ins Bild gerückt, dass man fast glauben konnte, die Hochbahn wäre extra für die Dreharbeiten aufgebaut worden. Vielleicht trug diese offenkundige Wertschätzung für einen Bau, der eigentlich ein Zeugnis finstersten kapitalistischen Profitstrebens ist, auch dazu bei, dass die Hochbahn schon 1979 unter Denkmalschutz gestellt wurde. Erst ein Jahr später geschah dies – gegen heftigen Widerstand der BVG – mit der ersten U-Bahn-Anlage in West-Berlin: dem Empfangsgebäude auf dem Wittenbergplatz.
So hatte sich etwas, das einmal als Verschandelung betrachtet wurde, zum besonders erhaltenswürdigen Teil des Stadtbildes gewandelt. Natürlich stellt die Hochbahn, wie von ihren Gegnern vor hundert Jahren befürchtet, eine Belästigung dar. Und genehmigungsfähig wäre solch ein Bau heute wohl kaum mehr, und wenn doch, würde er vermutlich von schauderhaften Schallschutzwänden umschlossen. Aber diese Anlage zeigt auch, wie eine Zumutung, wenn man sich an sie gewöhnt hat, zum Attraktivitätsgewinn werden kann. Denn was die Schönhauser Allee ganz wesentlich von ihren „Schwestern“ Greifswalder Straße oder Prenzlauer Allee unterscheidet und ihr ihren besonderen Charakter verleiht, ist eben die – sich seit einigen Jahren in Quietschgrün darbietende – Hochbahn, an die fast jeder denkt, wenn es um diese Straße geht.
Jan Gympel
aus SIGNAL 3/2013 (Juli 2013), Seite 17-20