Aktuell
Mit der Straßenbahn von Frankfurt (Oder) nach Polen
1. Mai 2005
Am 3. Februar 2005 faßten die Stadtverordneten von Frankfurt (Oder) zwei wegweisende Beschlüsse: Erstens soll die Straßenbahn auch künftig das Rückgrat im öffentlichen Nahverkehr der Stadt bleiben, zweitens soll eine Strecke über die Oder ins polnische Stubice gebaut werden. Dieses wäre die erste grenzüberschreitende Straßenbahnverbindung zwischen Deutschland und Polen.
Schon der erste Beschluß ist wichtig, denn damit wird eine Grundlage für die Erarbeitung des zunächst bis 2010 gültigen Nahverkehrsplans gelegt. Der zweite Beschluß beinhaltet den Bau einer Straßenbahnstrecke nach Stubice in Polen (dem ehemaligen Frankfurter Stadtteil Dammvorstadt östlich der Oder), die ab 2008 befahren werden soll. Zuvor hatte die Stadtverordnetenversammlung mit großer Mehrheit einen Antrag der CDU-Fraktion abgelehnt, der vorsah, „die Straßenbahn auf die hochfrequenten Strecken und Zeiten zu begrenzen sowie keine Netzerweiterungen vorzunehmen"
Mit dem Anschluß von Slubice an die Straßenbahn von Frankfurt (Oder) könnte mit demselben Aufwand, den zur Zeit das schlecht ausgelastete Streckenende der Linie 3 zum Stadion verursacht, bis zur Oderbrücke gefahren werden - bei größerer Auslastung. Für die Bedienung der auf polnischer Seite geplanten Schleifenstrecke ist ein weiterer Zug nötig. Wagen dafür sind vorhanden, da nach dem derzeit gültigen Fahrplan nur 13 der 30 KT4D-Wagen benötigt werden. Die Betriebskosten fallen größtenteils auf der polnischen Seite an. Eine eventuelle Differenz wird durch die bessere Wirtschaftlichkeit kompensiert. Der Investitionsaufwand für die gesamte Strecke ist mit 7,6 Millionen Euro angegeben. Auf die Stadt Frankfurt entfallen davon 2,7 Millionen Euro, wenn sie auch für den Gleisbau auf der Oderbrücke zahlen muß, was noch nicht feststeht. Ansonsten würde sich die deutsche Seite mit 1,1 Millionen Euro beteiligen, die weitgehend aus Fördermitteln der EU, des Bundes und des Landes bereitgestellt werden.
Die Strecke in Slubice besteht aus einer etwa 3000 Meter langen eingleisigen Schleife durch die Innenstadtstraßen. Hinzu kommen cirka 400 Meter Strecke auf der Brücke und den Zufahrten. Damit wäre auch das Zentrum von Stubice erstmals direkt angeschlossen. Die bis 1945 bestehende Strecke über die Oder tangierte die damalige Dammvorstadt nur und führte zum Stadion an den Kleisthöhen. Für die innere Erschließung gab es damals eine Buslinie B, die ihren Startpunkt auf der östlichen Seite der Oderbrücke hatte. Die Prognosen für die Neubaustrecke nach Stubice liegen zwischen 2400 und 4800 Fahrgästen pro Tag. Selbst wenn nur der untere Wert erreicht würde, wäre der Bau schon von Vorteil für die Verkehrsgesellschaft Frankfurt, aber auch für die Bewohner beider Städte, die heute noch unter dem Grenzverkehr mit Autos in den Innenstädten leiden oder weite Fußwege über die Brücke haben. Auch im Hinblick auf die sinkende Einwohnerzahl Frankfurts (vor 1990 fast 90.000 Einwohner, heute 66.000, im Jahre 2010 voraussichtlich nur noch 55.000) ist der Anschluß der 17.000 Einwohner Stubices an das Streckennetz der leistungsfähigen Straßenbahn von Bedeutung. Die Attraktivität der Tram kann gegenüber dem Bus so viele neue Kunden gewinnen, daß damit auch das Bestandsnetz langfristig gesichert ist. Wahrscheinlich werden einzeln fahrende KT4D für die Nachfrage auf der neuen Strecke nicht ausreichen.
Vollständigkeitshalber sei erwähnt, daß im Vorfeld der Entscheidung von einigen Stadtverordneten eine (vorläufige?) Buslinie nach Slubice vorgeschlagen wurde. Diese müßte aber in Frankfurt mindestens bis zum Bahnhof fahren und damit weitgehend parallel zur Straßenbahn, ohne daß dafür andere Leistungen eingespart werden könnten. Dagegen wird bei einer Straßenbahnanbindung zugleich das Liniennetz optimiert.
Die seit langem heftig diskutierten und nun endlich gefaßten zukunftsweisenden Beschlüsse geben Anlaß, das derzeitige Frankfurter Strecken- und Liniennetz näher zu betrachten.
Im Stadtliniennetz mit seinen acht Bus- und sechs Bahnlinien werden jährlich etwa 12 Millionen Fahrgäste befördert, davon rund 9 Millionen mit der Straßenbahn - das sind beachtliche 75 Prozent! Das derzeitige Streckennetz ist 25,1 Kilometer lang, jede der sechs Linien fährt werktags alle 20 Minuten. Da fast alle Strecken mit zwei Linien belegt sind, besteht auf dem größten Teil des Netzes ein Zehn-Minuten-Takt. Neuberesinchen wird mit drei Linien sogar alle sechs bis sieben Minuten bedient. Lediglich zur Lebuser Vorstadt und außerhalb des Berufsverkehrs zwischen Kopernikusstraße und Markendorf wird nur alle 20 Minuten gefahren. Montags bis freitags in der Hauptverkehrszeit (HVZ) verkehrt die Linie 4 alle zehn Minuten, die Linie 3 verkehrt dann nicht. Von den Haltestellen Bahnhof und Zentrum bestehen Direktverbindungen in alle von der Straßenbahn bedienten Stadtteile. Das Glanzstück im Streckennetz ist die Stadtbahntrasse nach Markendorf mit fünf niveaufreien Über- bzw. Unterführungen, darunter eine Straßenbahnbrücke über die Autobahn A12 und der viergleisigen Endstelle Markendorf vor dem ehemaligen Halbleiterwerk.
Der Fahrzeugpark besteht aus acht Niederflurgelenktriebwagen GT6M mit je 27 Meter Länge und 30 Kurzgelenktriebwagen Tatra KT4D mit je 18 Meter Länge. Erstere sind Verwandte des in Berlin fahrenden Typs, letztere sind zum Teil bereits abgestellt. Die Leistungsfähigkeit der Frankfurter Straßenbahn kann erst seit 1987 mit dem Einsatz der KT4D in 36-Meter-Doppeltraktionen voll genutzt werden. Die bis dahin eingesetzten Gothazüge durften wegen einiger starker Steigungen im Streckenetz nur als Triebwagen-Beiwagen-Kombination mit 22 Metern Länge eingesetzt werden. Aufgrund des Verkehrsrückganges ab 1990 sind die meisten der maximal 17 benötigten Züge heutzutage KT4D Solowagen. Auf der Linie 2, in deren Einzugsbereich sich zahlreiche Einrichtungen der Europauniversität Viadrina befinden, wird tagsüber mit Doppeltraktionen gefahren. Die GT6M sind so im Netz verteilt, daß auf allen Strecken Niederflurwagen angeboten werden. Am Tage ist das Angebot meist gut ausgelastet, lediglich die Streckenenden zum Stadion und zur Lebuser Vorstadt werden nicht so gut nachgefragt. Auf der Strecke der Linien 3 und 4 zwischen Zentrum und Südring sind die Bahnen zur HVZ oft überfüllt, so daß auch dort Doppeltraktionen gerechtfertigt wären.
Auch an anderen Stellen ist das Frankfurter Straßenbahnnetz entwicklungsfähig. Eine Strecke aus Neuberesinchen zum Stadion und damit auf alternativer Route ins Zentrum würde aus der wenig genutzten Stichstrecke dort eine gefragte Durchgangsverbindung werden lassen. Langfristig sollte auch die Anbindung der Nordstadt, ausgehend von der Strecke zur Lebuser Vorstadt, als Option offengehalten werden.
Wolfgang Höfer und IGEB Stadtverkehr
aus SIGNAL 2/2005 (April/Mai 2005), Seite 4-5