Berlin
Zwischen moderner Technik und traditioneller Ästhetik: Berlin verabschiedete sich von seinen beispielhaften Nachkriegs-U-Bahnzügen
1. Jul 2005
Sie waren eine kleine Sensation: Als am 28. August 1961, wegen des Mauerbaus und des darauffolgenden S-Bahn-Boykotts fünf Tage früher als zunächst geplant, der erste Abschnitt der heutigen Berliner U 9 eröffnet wurde, sorgten neben den Bahnhöfen die neuen Züge für Aufsehen. Da sie mit maximal 1,2 m/s2 doppelt so schnell beschleunigten wie die damals noch allgegenwärtigen Vorkriegswagen und mit 70 km/h eine größere Höchstgeschwindigkeit besaßen als alle ihre Vorgänger, erschienen sie vielen als „gelbe Blitze"' „,Det is ja'n Düsenjäger' - .Donnerwetter, hat die einen Anzug' - ,Da bleibt einem ja die Luft weg', so lauteten die Kommentare der meisten Fahrgäste.", berichtete der „Tagesspiegel" tags darauf. „Wer im Gang der modernen Großraumwagen stand, konnte sich bei Beschleunigung und Bremsen kaum auf den Beinen halten. Auf den Sitzen rutschte man seinem Nachbarn beinahe auf den Schoß." Zwar war der Prototyp dieser Fahrzeuge bereits im Frühjahr 1956 ausgeliefert worden, und ab Ende 1957 hatte die BVG die Wagen aus der ersten neuen Serie in Dienst gestellt. Aber erst auf dieser einzigen Berliner U-Bahnlinie, die nach 1930 vollkommen neu entstand, konnten die Züge ihre Höchstgeschwindigkeit ausfahren. Zumal sie dort von Anfang an unter sich waren.
Am 27. Februar fand nun, von den Medien kaum beachtet, die offizielle Verabschiedung dieser Wagengattung statt. Jene Exemplare, die seinerzeit so sensationell wirkten, haben die Stadt größtenteils längst verlassen: Die 230 bis 1965 gebauten Vertreter des Typs D, noch mit stählernen Wagenkästen und - außer der jüngsten Serie - einer Innenraumverkleidung aus echtem Holz, sind schon bis zum Oktober 1999 aus dem Verkehr genommen worden. 216 von ihnen wurden nach Pjöngjang verkauft. Womit sie die BVG zum zweiten Male veräußert hatte: Bereits 1988-90 waren viele von ihnen Ost-Berlin überlassen worden, wo man dringend weitere Wagen brauchte, um die Strecke nach Hönow in Betrieb nehmen zu können. Derweil wollte die BVG ihre schon damals ältesten Züge loswerden, weil sie seit einer zu Einsparungszwecken erfolgten Fahrplanausdünnung zu viele Fahrzeuge besaß.
Jahrzehnte zuvor hatte man gefürchtet, die andere Seite könnte einige davon entwenden: Erst, als der Bestand an Vorkriegswagen immer geringer geworden war, durften ab Ende 1969 D-Züge auch über die Transitstrecke der U 8 durch den Ostsektor fahren, von der bekanntlich eine Verbindung zur heutigen U 5 besteht, für welche es der Ost-BVG lange an rollendem Material fehlte. Letzteres bot dem ideologisch gefestigten Westler natürlich auch Gelegenheit, sich in Anbetracht der D-Wagen mal wieder überlegen zu fühlen und das System, in dem er lebte, bestätigt zu sehen - die Ostentwicklung E I kam schließlich über ein bald als unausgereift und technisch überholt abgestelltes Baumuster nicht hinaus. Die stattdessen produzierten Züge des Typs EMI konnten als umgebaute alte S-Bahnen abgetan werden, welche eigentlich nur bedingt für den U-Bahn-Einsatz geeignet waren. Und wie dann die überflüssigen, betagtesten Westwagen im Osten auftauchten, das erinnerte doch stark daran, wie man abgelegte Kleidungsstücke „nach drüben" schickte. Nichtsdestoweniger war es zumindest für West-Berliner allerdings auch ein verstörendes Erlebnis, die so sehr vertrauten Fahrzeuge auf einmal in dieser ungewohnten und in mancher Hinsicht fremden Umgebung zu sehen. Und im Rückblick scheint es, als hätte sich damit bereits angekündigt, wie die Verhältnisse bald darauf allgemein ins Rutschen kommen sollten.
Die 230 Fahrzeuge des Typs D und die 202 der Leichtmetallausführung DL, von denen sie sich technisch kaum und optisch überhaupt nicht unterschieden, stellten einen enormen Fortschritt für die Berliner U-Bahn dar. 1956 bis 1965 bzw. 1965 bis 1971 in West-Berlin von den Deutschen Waggon- und Maschinenfabriken (später Waggon Union) und Orenstein & Koppel gebaut, folgten sie einem völlig neuen Konzept: Da sich die Zahl der unterzubringenden technischen Komponenten erheblich erhöht hatte, verteilte man diese auf zwei, durch eine Kurzkupplung miteinander verbundene Wagen. Der „Kompressorwagen" (ungerade Wagennummer) erhielt jeweils die Druckluft- und die Umformeranlage sowie die Einrichtungen für die Beleuchtung, der „Steuerwagen" (gerade Nummer) jene für die elektrische Steuerung. Die Idee, nicht mehr Trieb- und Beiwagen zu bauen, erwies sich als richtungweisend: Bis Mitte der neunziger Jahre wurden über 700 solcher Doppeltriebwagen hergestellt, einschließlich der als Typ F bezeichneten Nachfolgemodelle, jener für die Kleinprofillinien (Typ A 3 bzw. A 3 L) und der S-Bahn-Serie 480.
Außerdem konnten die D-Wagen als erste bei der Berliner U-Bahn mit magnetischen Fahrsperren, vollautomatischen Scharfenbergkupplungen und einem „Totmannschalter" aufwarten - so konnte die schon damals von Geldnöten geplagte BVG die Zugbegleiter wegrationalisieren - , sowie mit einem automatischen Schaltwerk, bei dem der Fahrer nur noch die gewünschte Geschwindigkeit einzustellen und einen Knopf zu betätigen hatte. Auch elektronische Bauteile kamen erstmals bei diesen Wagen zum Einsatz, die zwei Drehgestelle besaßen, mit je einem längsliegenden Fahrmotor und Düwag-Getriebe, das alle Achsen antrieb. Betriebsmäßig wurden sie mit der fremderregten elektrischen Widerstandsbremse gebremst, die elektropneumatische Druckluftbremse diente zur Sicherheit.
Im Innern fanden sich Abdeckleisten (teilweise mit eingelassenen schwarzen Zierstreifen aus Kunststoff!), Fensterrahmen und Haltestangen aus dem Modematerial eloxiertes Aluminium, und Leuchtstofflampen bewirkten eine nie gekannte Helligkeit - die alten, bis 1930 ausgelieferten Fahrzeuge waren mit sechzig oder sogar nur vierzig Watt starken Glühlampen ausgestattet gewesen. Zur gleichen Zeit wurde übrigens auch die Beleuchtung der für heutige Ansprüche unglaublich dunklen U-Bahnhöfe auf die damals hochmodernen „Neonröhren" umgestellt. Vermutlich deshalb wurden die D-Wagen nicht mehr im traditionellen Gelb lackiert, sondern in jenem erheblich rötlicheren „Orangegelb", das bis heute den Fahrzeugpark dominiert: Das Licht von Leuchtstofflampen besitzt bekanntlich einen starken Blaustich, ganz im Gegensatz zu jenem von Glühlampen mit seinem hohen Anteil an Rot- und Gelbtönen. Bei der Farbgebung des neuesten Typs H wurde dies anfangs nicht beachtet - weshalb die Fahrzeuge unter der Erde nicht in dem von der BVG propagierten „Sonnengelb" erstrahlten, sondern durch einen recht kränklich wirkenden Grünstich auffielen.
Bei den D-Wagen stieß sich hingegen mancher an der Innengestaltung. So verglich der renommierte Architekturkritiker Günther Kühne sie im „Tagesspiegel" vom 25. Januar 1970 mit den damals neuesten Hamburger U-Bahn-Wagen des Typs DT 2 bzw. DT 3 (deren Designer stammten aus dem Umfeld der berühmten Ulmer Hochschule für Gestaltung, die sich in der Bauhaus-Tradition sah): „Kein Zweifel, daß sie hervorragende fahrdynamische Eigenschaften haben, daß auf dem Wege zur automatischen Steuerung große Fortschritte gemacht worden und womöglich noch größere zu erwarten sind. Doch schon bei der Innenausstattung hat das Ingenium die Ingenieure (oder wer sonst .gestaltet' hat) verlassen: Die Anordnung der Längsbänke erinnert fatal an die alten Vierter-Klasse-Wagen; die Verkleidung der Innenwände mit (Holzmaserung imitierenden!) dunklen Kunststoffplatten und sorglos zusammengebastelten Deckleisten aus Aluminium ist schlechtestes Erbe der Nierentischzeit. Ein Vergleich mit den Hamburger Fahrzeugen ist schlagend: Platten und Polsterbezüge in angenehmen hellen Grautönen sind so zusammengepaßt, daß die Entwerfer auf die armseligen Krücken der Deckleisten verzichten konnten; Stirnwände und Türen der Fahrzeuge sind leuchtend orange. Außerdem haben die Hamburger U-Bahn-Wagen, obwohl sie schmaler sind als die Berliner Großprofilwagen, Querbänke entweder in der Anordnung 2+2 oder 2+1."
Die wenig später ausgelieferten F-Züge sollten Kühnes Vorstellungen weitgehend entsprechen. Weshalb Berlin mit den D-Wagen nicht nur ein weiteres Mal Nahverkehrsfahrzeuge verloren hat, welche das Bild der Stadt jahrzehntelang geprägt haben - nach den legendären alten S-Bahn-Wagen, den „Reko"-Straßenbahnen und den bis Herbst 1989 in Ost-Berlin eingesetzten Vorkriegs-U-Bahnen. Mit Furnier an den Wänden, rotem Linoleum auf dem Boden und (ursprünglich) dunkelgrünen Kunstledersitzen zählten die D-Wagen auch zu den letzten, die noch dem alten Ideal folgten, im Inneren von Bussen und Bahnen Wohnlichkeit zu vermitteln. Nur bei einigen A3L-Wagen, sozusagen vom Typ D/DL aufs Kleinprofil adaptiert und nach diesen die allerletzten in West-Berlin, die noch mit Zierleisten und Türgriffen ausgestattet waren, kann man dies nun noch finden. Doch von der zeittypischen Eleganz, welche diese in den Fifties kreierten Fahrzeuge einmal besaßen, ist nur noch wenig zu spüren: Vor allem im Laufe der letzten 20 Jahre wurde bei ihnen hier etwas angestükkelt, dort etwas aufgeschraubt, wurden dort neue Klappen angebracht, hier noch ein paar Abdeckbleche, dazu die gefleckten Sitzbezüge, oft neue Leuchten - die Wagen bieten ein chaotisches, per se recht ungepflegtes Bild, bei dem vom Schick und Charme der Nachkriegszeit nahezu nichts übrig geblieben ist.
Insofern fällt auch der Quasi-Abschied vom Typ A 3 leicht, dessen letzte 32 Doppeltriebwagen seit einiger Zeit bei der Firma Mittenwalder Gerätebau „ertüchtigt" werden. Durch ein laut BVG „ehrgeiziges Programm" sollen „die Oldies weitere 16 bis 20 Jahre ohne großen Instandhaltungsaufwand fahren können": Neben einer neuen Elektronik, neuer Heizung und neuen Stromabnehmern erhalten sie beispielsweise ein Interieur in trendigem Grau statt in wohnlichem Braun - und statt Nummern aus dem 900er- solche aus dem 400er- und 500er-Bereich. Daß diese 1964 bis 1966 gebauten Fahrzeuge noch stählerne Wagenkästen besitzen (und damit Raritäten sind), ist für den Fahrgast praktisch nicht zu erkennen. Doch weshalb möbelt die BVG solche Wagen fürs Kleinprofilnetz mit seinen vielen oberirdischen Strecken auf, derweil sie jüngere, die den Großteil ihres „Lebens" vor Wind und Wetter geschützt im Tunnel verbracht haben, ausrangiert? Eine Spätfolge der Ära Diepgen, die glücklicherweise kaum thematisiert wurde: Wandern die DL-Wagen doch seit dem Sommer 2002 auf den Schrottplatz dank der überzogenen Berliner Wachstumsphantasien der ersten Zeit nach dem Mauerfall. Plus der Vorstellung, man könnte die Olympischen Spiele 2000 ergattern. Als diese an Sydney vergeben worden waren und sich abzeichnete, Berlin würde wohl doch nicht bald vier oder fünf Millionen Einwohner haben, sollte die Bestellung vieler H-Züge storniert werden. Doch die BVG kam aus dem Vertrag, den sie auf Geheiß des Senats geschlossen hatte, nicht mehr heraus. Außerdem drohte der Hersteller in der üblichen Weise mit dem Verlust von Arbeitsplätzen.
Ihren letzten regulären Einsatz, der erstmals für den Herbst 2002 angekündigt gewesen war, hatten die DL-Wagen, von denen viele erst 1996 für 1,5 Millionen DM mit Vorheizanlagen ausgerüstet worden waren, am 11. Dezember 2004. Im Sommer 2003 waren einige von ihnen sogar noch einmal kurzzeitig auf die U 9 zurückgekehrt, ihre einstige Paradestrecke, von der sie freilich früh und vollständig durch die F-Züge verdrängt worden waren. Einem kurzen Durcheinander in der Fahrzeugverteilung geschuldet, hatte sich damit - von kaum jemandem bemerkt -ein Kreis geschlossen.
Jan Gympel
aus SIGNAL 3/2005 (Juni/Juli 2005), Seite 20-21