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Die Wiederentdeckung des Eisernen Vorhangs

Vom Nordpolarmeer über Mitteleuropa bis zum Schwarzen Meer trennte der Eiserne Vorhang das Europa der Nachkriegszeit auf einer Länge von knapp 7000 Kilometern. Entlang dieser ehemaligen Grenze soll auf dem früheren Todesstreifen bald ein Rad- und Wanderweg entstehen, der Reisen auf den Spuren der gemeinsamen Geschichte und Teilung unseres Kontinents ermöglicht.


Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament

1. Jan 2006

Manchmal ist Geschichte paradox. Zum Beispiel wenn sich Orte des Todes in ihr Gegenteil verdrehen und zu Lebensräumen werden. Der Eiserne Vorhang, der die physische und geistige Grenze zweier feindlich ausgerichteter Blöcke war, verbindet heute das wiedervereinigte Europa, ist Symbol einer gemeinsamen gesamteuropäischen Erfahrung. Das Projekt steht unter der Schirmherrschaft von Michail Gorbatschow. Es ist Bestandteil im kollektiven Gedächtnis Europas, mit dem die viel beschworene europäische Identität gefördert werden kann.

Rad-Wanderweg „Eiserner Vorhang"

Dies hat auch das Europäische Parlament (EP) erkannt und Anfang September den „Iron Curtain Trail" (Rad-Wanderweg Eiserner Vorhang) in seinen Bericht über „Neue Perspektiven und Herausforderungen für einen nachhaltigen europäischen Fremdenverkehr" aufgenommen und mit großer Mehrheit verabschiedet.

Auf Antrag der Fraktion der Grünen/EFA werden die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten aufgefordert, „die Initiative Iron Curtain Trail umzusetzen, für die der Berliner Mauerweg Pate stand. Auch eine finanzielle Beteiligung durch die EU ist möglich, nachdem das EP im Haushaltsplan für 2006 beschlossen hat, dass der Iron Curtain Trail als Beispiel für sanfte Mobilität und als Symbol für die Wiedervereinigung Europas gefördert werden" soll.

An diesem Projekt sind 19 Länder beteiligt, darunter 12 EU-Mitgliedsstaaten.

Projekt mit 19 Ländern

Folgende Route ist vorgesehen: Beginnend an der Barentssee, Teil des Nordpolarmeeres, verläuft der Rad-und Wanderweg entlang der norwegisch-und finnisch-russischen Grenze bis zur Ostsee und passiert die Küstenstreifen von Estland, Lettland, Litauen, Kaliningrad und Polen.

Von Lübeck bis zum sächsisch-bayrischtschechischen Dreiländereck folgt der Rad-Wanderweg dem ehemaligen innerdeutschen Grenzstreifen, für dessen Schutz und Nutzung für den sanften Tourismus der Deutsche Bundestag einstimmig votiert hat. Dann führt er über die Höhen des Böhmerwalds, vorbei an Mähren und der slowakischen Hauptstadt Bratislava, um bei Wien die Donau zu überqueren. Entlang der Südgrenze Ungarns führt der Weg über Slowenien, Kroatien und die Vojvodina. Zwischen Rumänien und Serbien folgt die Strecke dem Lauf der Donau, um schließlich über Bulgarien, Mazedonien und Griechenland am nördlichsten Punkt der Türkei an der Schwarzmeerküste zu enden.

Die Strecke verläuft durch mehrere Nationalparks und verbindet eine Vielzahl einzigartiger Landschaften, die wegen ihrer Grenzlage und vormaligen Sperrzonen nahezu unberührt geblieben sind.

Wie beim Berliner Mauerweg können auch für die Einrichtung des Iron Curtain Trail die teilweise noch bestehenden asphaltierten Patrouillenwege der Grenzanlagen genutzt werden. So wird umweltschonend und mit relativ niedrigem finanziellem Aufwand ein landschaftlich und kulturell einzigartiger Radund Wanderweg geschaffen, durch den die Erinnerung an die Spaltung des Kontinents und seine Überwindung auch an die kommenden Generationen weitergeben werden kann.

Besonders in den mittel- und südosteuropäischen Regionen, in denen der Fahrradtourismus weniger stark verbreitet ist, wird der Iron Curtain Trail ein attraktives Angebot für diese kontinuierlich wachsende und wirtschaftlich zunehmend bedeutende Tourismusbranche darstellen. Untersuchungen haben ergeben, dass Fahrradtouristen pro Tag mehr Geld ausgeben als Autotouristen, was insbesondere der lokalen Wirtschaft zu Gute kommt.

Nun liegt es an den Mitgliedsstaaten, zusammen mit der EU Kommission das „Grüne Band" zügig zu realisieren, damit man europäische Geschichte, Politik und Kultur im wahrsten Sinne des Wortes erfahren kann.

Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament

aus SIGNAL 6/2005 (Dezember 2005/Januar 2006), Seite 27