Aktuell

Aufstieg, Niedergang und Renaissance

125 Jahre elektrische Straßenbahn


Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Anstalt des öffentlichen Rechts
Thomas Necker, Vorstand Betrieb

1. Mai 2006

Als am 16. Mai 1881 Werner von Siemens vor den Toren Berlins die weltweit erste elektrische Straßenbahn ins Rollen brachte, war ihm wahrscheinlich nicht bewusst, dass er damit den Stammbaum aller elektrischen Bahnen legte. Wie bei einem schön gewachsenen Baum mit vielen Ablegern entwickelte sich daraus nicht nur die uns bekannte „Elektrische", sondern auch U- und S-Bahnen und nicht zuletzt auch der moderne ICE.

Verfolgt man bei allen modernen elektrischen Bahnen ihre technische Entwicklung zurück, dann stellt man fest, dass sie ihren Ursprung in der kleinen Bahn haben, die am 16. Mai 1881 vom heutigen Bahnhof Lichterfelde Ost bis zur Kadettenanstalt den Betrieb für die Öffentlichkeit aufnahm.

Die weitere Entwicklung von der schmalspurigen Bahn mit 180 V Gleichstrom bis zum modernen Niederflurzug mit 600 bzw. 750 V oder zum ICE mit 15 kV Wechselstrom ist in der Fachliteratur umfangreich behandelt, so dass dem Geschriebenen kein weiterer Artikel hinzufügt werden muss. Nachfolgend geht es um die Bedeutung, die die Straßenbahn in Berlin erlangte, und welche Zukunft sie nach wechselvollen Jahren für uns hat.

Dem rührigen Werne von Siemens und seinen kreativen Ingenieuren ist es zu verdanken, dass aus der anfangs belächelten Bahn ein alltagstaugliches Verkehrsmittel wurde. Die technische Entwicklung verlief so rasant, dass bereits im Dezember 1902 das qesamte Berliner Pferdebahnnetz auf elektrischen Betrieb umgestellt war. Die neue Antriebsart hatte für die aufstrebende Metropole einen ungeheuren Einfluss, da die bisherige räumliche Abhängigkeit von Wohnort und Arbeitsplatz aufgehoben werden konnte. Die nun längeren Wege konnten durch leistungsfähige und schnellere Verkehrsmittel wie U-Bahn, Eisenbahn und natürlich die Straßenbahn wieder kompensiert werden.

Zur Zeit der Weimarer Republik war die Straßenbahn mit einem Anteil von 50 % am Gesamtverkehr unumstrittener Spitzenreiter im Berliner Nahverkehr.

Mit Beginn der 1930er Jahre zogen nicht nur für die BVG dunkle schwere Zeiten auf. Die BVG wurde in einen Eigenbetrieb umgewandelt und Teil der machtpolitischen Ziele der Nationalsozialisten. Die ursprünglichen Pläne der BVG zur Modernisierung und zum Ausbau der Straßenbahn wurden gestoppt, da sie den größenwahnsinnigen Plänen der Nationalsozialisten zuwiderliefen. Unmittelbar vor Kriegsende im April 1945 war mit der kompletten Betriebseinstellung aufgrund der Kriegsschäden der Tiefpunkt der Entwicklung erreicht.

In der Nachkriegszeit stand der Wiederaufbau zunächst im Vordergrund. Aber schon bald wurde die Entwicklung der Straßenbahn durch die Teilung der Stadt in zwei unterschiedliche Richtungen gelenkt, da auch die BVG in zwei Betriebsteile aufgeteilt wurde.

In West-Berlin wird die Straßenbahn stillgelegt

Im westlichen Teil fand nun eine verkehrspolitische Entwicklung statt, die sich schon Anfang der 1930er Jahre in Nordamerika zeigte. Der Motorisierungsgrad der Bevölkerung nahm rapide zu. Ebenso veränderten sich das Bewusstsein und die Ansichten zur Straßenbahn. Sie wurde als altmodisch und verkehrsbehindernd angesehen. Der Pkw und der Omnibus waren die Verkehrsmittel der Zukunft. West-Berlin wollte den anderen Metropolen wie Paris, London und New York nicht nachstehen und ebenfalls seine Straßenbahn abschaffen. Innerhalb einer Dekade wurde das gesamte Straßenbahnnetz im westlichen Berlin stillgelegt. Am 2. Oktober 1967 fuhr die letzte Straßenbahn in West-Berlin.

Im östlichen Teil Berlins wurde zunächst eine ähnliche Entwicklung angestrebt, aber der immense Investitionsaufwand zur Herstellung eines reinen U-Bahn/Bussystems war nicht zu schaffen. Mitte der 1970er Jahre erfolgte ein wichtiger Paradigmenwechsel: In den Großwohngebieten im Nordosten der Stadt wurde ein leistungsfähiges, aber bezahlbares Massenverkehrsmittel benötigt. Damit bot sich für das Verkehrsmittel Straßenbahn eine neue Chance, da relativ schnell Neubaustrecken mit einem guten Kosten-Nutzen-Verhältnis gebaut werden konnten. Diese günstigen Bedingungen führten zu einem neuen Aufschwung für die Straßenbahn im Ostteil der Stadt mit einem erheblichen Zuwachs von 26 km Streckennetz und dem Beginn der Beschaffung damals moderner Tatrafahrzeuge im Jahr 1976. Neben der S-Bahn war die Straßenbahn das Rückgrat des städtischen Nahverkehrs.

Der Fall der Mauer führte zur Wiedervereinigung der beiden Betriebe BVG (West) und BVB (Ost) zur gemeinsamen BVG Anfang der 1990er Jahre und zu einer Neuorientierung in der Verkehrspolitik. Auch die Frage nach der Zukunft der Straßenbahn im Ostteil der Stadt stand auf der Tagesordnung. Es wurde jedoch schnell klar, dass sie zu einem integralen Bestandteil des ÖPNV in Berlin gehörte. In anderen Städten der alten Bundesländer als auch Europas wurde die Straßenbahn auf hohem technischem und städtebaulichem Niveau weiterentwickelt und besonders in Frankreich, wo nur ein Betrieb überlebt hatte, wurden innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl neuer Betriebe eröffnet. Das hatte für die Neuausrichtung der Verkehrsmittel zur Folge, dass die Straßenbahn in Berlin nicht nur in ihrem Bestand erhalten blieb, sondern auch grundlegende Beschlüsse zur Modernisierung und zum Ausbau gefasst wurden.

Nach der Wiedervereinigung umfassende Modernisierung

Modernisiertes Tatra-Fahrzeug und neue Niederflurbahn. Sie sind sichtbares Zeichen für die seit der Wiedervereinigung Berlins von der BVG durchgeführte umfangreiche Modernisierung der Straßenbahn. Foto: Marc Heller

Seither wurde und wird das umfangreichste Modernisierungsprogramm in der Geschiehte der Berliner Straßenbahn durchgeführt und bis zum Jahr 2000 wurden insgesamt 11,8 km neue Strecken in Betrieb genommen. Sichtbarstes Zeichen für die Fahrgäste ist die Modernisierung der Tatrafahrzeuge und die Beschaffung von 150 neuen Niederflurfahrzeugen. Ebenso wurden und werden die Strecken, wie Gleise und Bahnenergieversorgungsanlagen und Haltestellen erneuert und bilden mit den Niederflurfahrzeugen ein integriertes leistungsfähiges Niederflursystem, das allen Fahrgästen einen bequemen Zugang zum Verkehrsmittel Straßenbahn bietet.

Neben den für die Fahrgäste sichtbaren Modernisierungsmaßnahmen sind zugleich moderne Betriebsüberwachungs- und Ausbildungssysteme geschaffen worden, die mit den einhergehenden Rationalisierungsmaßnahmen die Berliner Straßenbahn zu einem der modernsten Straßenbahnsysteme Europas gemacht haben.

Wie sieht die Zukunft der Straßenbahn in Berlin aus?

Die Straßenbahn ist ein fester Bestandteil der Berliner Verkehrsysteme und bleibt auch langfristig bestehen.

Im Innenstadtbereich wird es mehr Straßenbahn geben. Die Eröffnung der Neubaustrecke zum Nordbahnhof steht kurz bevor, der Alexanderplatz wird im Jahr 2007 auch über die Karl-Liebknecht-Straße angebunden und zum Ende dieses Jahrzehnts wird auch der neue Hauptbahnhof über eine leistungsfähige Straßenbahnanbindung verfügen.

Ein weiteres Augenmerk ist derzeit darauf gerichtet, die in die Jahre gekommenen Tatrabahnen durch neue behindertengerechte Fahrzeuge schrittweise innerhalb der nächsten 10 Jahre zu ersetzen. Entsprechende Entscheidungen der Aufsichtsgremien der BVG dafür stehen unmittelbar bevor.

Die wirtschaftliche Lage Berlins und der BVG erfordert es auch, schwach belastete Streckenabschnitte vor dem Anstehen umfangreicher Modernisierungsmaßnahmen hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit auf den Prüfstand zu stellen. Konkret geht es um die Frage, ob die Straßenbahn auf diesen Streckenabschnitten das wirtschaftliche Verkehrsmittel oder der Bus die kostengünstigere Alternative ist. Die Antworten dazu stehen noch aus und werden sorgfältig geprüft.

Es gibt aber auch noch einige Verkehrskorridore, die vom Fahrgastaufkommen her „straßenbahnwürdig" sind. Hier ist trotz oder vielleicht gerade wegen der knappen Mittel ernsthaft zu prüfen, ob nicht eine Investition in Strecken eine Reduzierung der Betriebskosten ermöglicht. Denn eine Umstellung von Bus auf Straßenbahn lässt auch eine Attraktivitätssteigerung des ÖPNV mit zusätzlichen Fahrgastzahlen erwarten.

Das letzte Beispiel einer Umstellung von Bus auf Straßenbahnbetrieb im Zuge der Osloer Straße—Seestraße hat der BVG zweistellige Fahrgastzuwächse auf diesem Streckenabschnitt beschert. Beispiele aus anderen deutschen und europäischen Städten bestätigen diesen Trend und lassen dies auch für ausgewählte Strecken in Berlin erwarten. Damit „rechnet" sich eine Straßenbahnstrecke nicht nur für die BVG, sondern auch für die Stadt.

Wir sind von der Zukunft für die Berliner Straßenbahn überzeugt.

Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), Anstalt des öffentlichen Rechts
Thomas Necker, Vorstand Betrieb

aus SIGNAL 2/2006 (April/Mai 2006), Seite 5-6