Aktuell
Service am Bahnhof Gesundbrunnen
1. Jul 2006
Verhältnisse wie im 19. Jahrhundert - in vielen Bereichen sind sie ein Graus, wie etwa die neuerliche Ausbreitung des Manchester-Kapitalismus zeigt. Doch bei der Bahn wären sie, zumindest hinsichtlich des Services, eine Rückkehr ins Paradies. Aber halt, wer wird so miesepetrig sein: Am neu erstandenen Bahnhof Gesundbrunnen gibt es zwar entgegen aller schönen Pläne kein Empfangsgebäude, dafür aber einen Containerbau am Rande einer großen Betonplatte. Stolz verkündete dazu Heft 9/2006 des Bahn-Kundenblattes „Punkt 3" unter der Überschrift „Service am Bahnhof Gesundbrunnen": „Bereits seit Januar bietet der DB Service Store nicht nur Reisebedarf jeder Art von der Zeitung bis zur Zahnbürste, vom Brötchen bis zur Batterie an. Auch das komplette Sortiment an VBB-, Fern- und Regionalfahrscheinen kann man hier kaufen. An zwei Schaltern werden die Reisenden beraten." Damit nicht genug, kann man des Weiteren auflisten: Fahrscheinautomaten und -entwerter, Fahrradabstellplatz, Blindenleitsystem.
Donnerwetter! Zwar ist noch unklar, ob die zwei Schalter, an denen die Reisenden beraten werden, beide dauernd besetzt sind, aber gut informierten Kreisen zufolge soll man in dem „DB Service Store" auch Fahrplanauszüge, Reklamematerial und sogar „Punkt 3" erhalten (solange der Vorrat reicht). Ferner soll jeder Bahnsteig mit Sitzen, Uhren, Zugzielanzeigern (dynamisch!) und Aushängen der Fahrpläne sowie der zirka zwei bis 22 baustellenbedingten Umleitungen, Ausfälle, Pendel- und Ersatzverkehre dienen können. Bei so umfassendem Service ist das Fehlen eines Empfangsgebäudes mit Fahrkartenschaltern, Wartesälen, Gaststätten oder Toiletten - pardon, wir meinen natürlich: Countern, Lounges, Hamburger-Restaurants und McClean-Niederlassungen - sebstredend problemlos zu verkraften. Zumal der zeitgenössische DB-AG-Beförderungsfall am Gesundbrunnen als besondere Attraktion etwas findet, das zunehmend zur Rarität wird, auch mitten in Berlin: (Fast) vollständig überdachte Bahnsteige.
Jan Gympel
aus SIGNAL 3/2006 (Juni/Juli 2006), Seite 7