Aktuell
Mit Verwunderung registriert der Berliner Fahrgastverband IGEB neuerliche Planspiele der BVG zur Stilllegung von Straßenbahnstrecken insbesondere in Pankow und Köpenick. Zuständig ist dafür schließlich allein das Land Berlin, das sich überlegen muss, auf welche Weise die Strecken neu vergeben werden, falls die BVG sie tatsächlich nicht mehr befahren will.
1. Jul 2006
125 Jahre nach dem Start der „Elektrischen” in Berlin erlebt dieses Verkehrsmittel weltweit eine Renaissance. Aus verkehrlichen, wirtschaftlichen und umweltpolitischen Gründen haben allein in Europa in den letzten 15 Jahren mehr als 25 Großstädte sogar völlig neue Straßenbahnsysteme aufgebaut. Doch hier in Berlin, der Hauptstadt der Feinstaubbelastung, bekennen sich viele Verantwortliche bestenfalls auf dem Papier zur umweltfreundlichen Straßenbahn. Selbst der Bau hochwirtschaftlicher Strecken wie zum Alexanderplatz („Alex II”) oder zum Hauptbahnhof wird immer wieder verzögert, weil die Verkehrsplaner des Senats dem Autoverkehr Vorrang einräumen.
Anstatt alle Energie in den - gerade auch aus wirtschaftlichen Gründen gebotenen - Ausbau des Straßenbahnnetznetzes zu stecken, wird nun schon wieder, wie bereits in den Jahren nach der Wende, an Stilllegungsplänen gearbeitet. Angeblich zu niedrige Fahrgastzahlen lassen nach Einschätzung der BVG einen Ersatz durch Busse kostengünstiger erscheinen. Für einen großen Teil der zur Disposition gestellten Streckenabschnitte ist dies jedoch ein Trugschluss.
Auf nicht wenigen der in Frage gestellten Abschnitte fährt die Straßenbahn auf einem eigenen Bahnkörper. Busse würden hier im Autoverkehr stecken bleiben und durch längere Fahrzeiten nicht nur für die Fahrgäste unattraktiver sein, sondern auch durch erhöhten Personaleinsatz Mehrkosten verursachen.
Wie wichtig eine Gesamtbetrachtung ist, zeigt das Beispiel der Schmöckwitzer Uferbahn. Um einige hunderttausend Euro für die erforderliche Beseitigung von Langsamfahrstellen einzusparen, will die BVG die Straßenbahnlinie 68 Ende 2007 stilllegen. Damit würde jedoch eine mit Millioneninvestitionen in den 80er und 90er Jahren in einen guten Zustand gebrachte Strecke aufgegeben. Außerdem wären erhebliche Investitionen erforderlich, um die Züge in Grünau statt heute in Schmöckwitz enden lassen zu können.
Schließlich wäre es gar nicht möglich, einen Bus die Strecke der Straßenbahn befahren zu lassen, es sei denn, man würde den Bereich Regattastraße und die Trasse durch den Wald für einen Bus ausbauen, was hoffentlich selbst die autofixiertesten Berliner Verkehrsplaner nicht ernsthaft erwägen.
Die Streckenäste nach Rosenthal und Niederschönhausen sind erst vor einem Jahr zur Metrostraßenbahnlinie M 1 aufgewertet worden. Im Berufsverkehr reichen die 150 Plätze der eingesetzten Züge kaum aus, um den Fahrgastandrang zu bewältigen. Die BVG weigert sich trotz entsprechender Forderungen von Fahrgästen und der Senatsverkehrsverwaltung, hier zusätzliche Züge fahren zu lassen, weil es ihr seit Jahren nicht gelingt, die technischen Voraussetzungen für den Einsatz von Verstärkerzügen zu schaffen. Stattdessen fahren schon jetzt während des Berufsverkehrs Busse parallel.
Der Streckenast nach Buchholz ist erst vor wenigen Jahren in die Neubausiedlung Französisch-Buchholz verlängert worden. Seitdem ist die Strecke mit 10 000 Fahrgästen am Tag nicht nur gut ausgelastet, sondern nach BVG-Standards sogar „metrolinienwürdig"
Die Strecke nach Mahlsdorf sollte nach BVG-Vorstellungen noch vor einem Jahr wegen des erheblichen Fahrgastpotenzials ebenfalls zur Metrolinie aufgewertet werden. Lediglich weil die BVG bei der Streckensanierung der überwiegend eingleisigen Strecke in den 90er Jahren den Einbau einer Ausweichstelle versäumte, ist hier der zunächst beabsichtigte 10-Minuten-Takt noch nicht eingeführt worden, obwohl in Mahlsdorf durch kontinuierliche Neubebauung zusätzliche Fahrgäste gewonnen werden könnten. Noch höhere Fahrgastzahlen wären mit der Durchbindung der Strecke nach Hellersdorf möglich, wie sie im Stadtentwicklungsplan Verkehr des Senats enthalten ist. Auch die Strecke nach Friedrichshagen weist mit ca. 4000 Fahrgästen am Tag eine akzeptable Auslastung auf.
Dass die Berliner Straßenbahn gerade in wirtschaftlicher Hinsicht große Reserven hat, darf bei der Bewertung des bestehenden Straßenbahnnetzes nicht ignoriert werden.
Die Beschleunigungspotenziale für die Straßenbahn sind in Berlin noch längst nicht ausgeschöpft. Nur an den wenigsten Ampeln hat die Straßenbahn eine echte Vorrangschaltung. Häufig bestehen nur Anforderungsschaltungen, die in der Regel aber noch immer mit Wartezeiten von bis zu einer Minute verbunden sind. Andere Städte machen Berlin längst vor, dass eine intelligente Vorrangschaltung an fast allen Kreuzungen auch ohne Beeinträchtigung des Autoverkehrs möglich ist.
Begründet wird die mögliche Einstellung der Straßenbahnstrecken seitens der BVG auch mit der notwendigen Neubeschaffung von Straßenbahnzügen, sobald die Anfang der 90er Jahre modernisierten Tatra-Züge abgeschrieben sind. Die BVG hat jedoch für die neu zu beschaffenden Züge zu hohe Standards festgelegt (z.B. 100%-Niederflurfahrzeug), womit preiswerte Neuanschaffungen, wie z.B. in Leipzig oder Bremen praktiziert, in Berlin ausgeschlossen werden und damit die Wirtschaftlichkeitsschwelle für den Betrieb von Straßenbahnen unnötig hoch gelegt wird.
Bei einer seriösen Bewertung des Straßenbahnnetzes sind auch die stadtplanerischen Entwicklungspotenziale entlang der Strecken einzubeziehen. Insbesondere die Strecken in den Außenbezirken weisen hier die größten Wachstumspotenziale auf.
Das Berliner Straßenbahnnetz ist in den letzten 15 Jahren für viel Geld modernisiert worden. In den nächsten 15 Jahren müssen nun durch Ergänzungen und Lückenschlüsse die Folgen der Berliner Teilung und einer zu autofixierten Verkehrsplanung überwunden werden, anstatt ganze Teilnetze, noch dazu in ...
IGEB Stadtverkehr
aus SIGNAL 3/2006 (Juni/Juli 2006), Seite 8-9