Berlin
Am 17. September wird in Berlin für fünf Jahre ein neues Abgeordnetenhausgewählt. In dieser Zeit sind wichtige verkehrspolitische Fragen zu beraten und zu entscheiden. Deswegen wollten wir von den verkehrspolitischen Sprecherinnen und Sprechern der fünf jetzt im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien wissen, wie sie einige der anstehenden Aufgaben bewältigen wollen. (Antworten in alphabetischer Reihenfolge der Abgeordneten)
1. Sep 2006
Christian Gaebler, SPD-Fraktion: Das Abgeordnetenhaus hat auf Antrag von SPD und PDS eine Stärkung der Fahrgastrechte auch im Nahverkehr gefordert. Dabei soll es auch klare Regelungen zu Entschädigungsansprüchen u.a. geben. Eine Schlichtungsstelle kann dies ggf. sinnvoll ergänzen, darf aber nicht zu einer neuen Bürokratie führen.
Claudia Hämmerling, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Eine Schlichtungsstelle begrüßen wir sehr. Schon bei den Eckpunkten für den Nahverkehrsplan 2005-2009 wollten wir Fahrgastrechte festschreiben. Trotz der Ablehnung von SPD und PDS sehen wir uns darin durch viele uns erreichende Beschwerden über den ÖPNV bestätigt.
Alexander Kaczmarek, CDU-Fraktion: Der Vorschlag, eine Schlichtungsstelle nach NRW-Vorbild einzurichten, ist auf jeden Fall eine prüfenswerte Idee, um den Kunden des ÖPNV zu stärken und die Kundenzufriedenheit zu erhöhen. Eigentlich müsste das aber ureigenes Interesse und Thema der Verkehrsunternehmen selbst sein, oder?
Klaus-Peter von Lüdeke, FDP-Fraktion: Der IGEB-Vorschlag für eine Schlichtungsstelle Nahverkehr wird von der FDP befürwortet. Die Stelle soll dem Verbraucherschutz dienen, weswegen sie der Verbraucherzentrale Berlin zuzuordnen ist. Zusätzlich fordert die FDP die Vergabe der BVG-Verkehrsleistungen im Wettbewerb, damit die den Kundeninteressen widersprechende Doppelfunktion Berlins als Aufgabenträger des ÖPNV und Eigentümer der BVG ihr Ende findet.
Jutta Matuschek, Linkspartei. PDS-Fraktion: Den Vorschlag, eine Schlichtungsstelle Nahverkehr einzurichten, unterstützen wir voll und ganz. Bisher haben die verschiedenen Berliner Nahverkehrsunternehmen unterschiedliche freiwillige Kulanzregelungen für die Fälle, in denen der Fahrgast sich ungerecht behandelt fühlt. Das ist gut, aber nicht ausreichend. Im Rahmen der Erarbeitung des neuen Nahverkehrsplans haben gerade wir uns für die Einführung einer verbindlichen Kundencharta im Berliner Nahverkehr, für verbriefte Rechte der Fahrgäste und mehr Transparenz im Umgang mit Beschwerden eingesetzt. Solche Regelungen bedürfen einer unabhängig agierenden Schlichtungsstelle. Nach den bisherigen Erfahrungen kommt die Arbeit einer Schlichtungsstelle auch den Verkehrsunternehmen zugute, da ein bürgernahes, transparentes Beschwerdemanagement schnell die innerbetrieblichen Problemstellen aufzudecken hilft. Wir werden uns dafür einsetzen, dass in der nächsten Legislatur „Nägel mit Köpfen" gemacht werden.
Gaebler: Über das Nahverkehrsangebot in Berlin entscheiden ausschließlich Senat und Abgeordnetenhaus und keine Verkehrsunternehmen. Die Straßenbahn ist ein wesentlicher Bestandteil des Berliner ÖPNV, das Netz soll ausgebaut und nicht abgebaut werden. Für einzelne schwach belegte Streckenabschnitte sind sicher Überlegungen nötig, inwieweit eine Steigerung der Nachfrage oder eine Reduzierung der Betriebskosten möglich sind. Dies muss aber in einer Gesamtbetrachtung einschließlich aller Investitions- und Folgekosten und der verkehrlichen Auswirkungen erfolgen.
Hämmerling: Im neuen Verkehrsvertrag müssen Umfang und Qualität der Verkehrsleistung einer unabhängigen und an parlamentarische Beschlüsse gebundenen Bestellerorganisation übertragen werden - incl. Entscheidungen über Netzausbau. Das Straßenbahnnetz wollen wir erhalten und langfristig ausbauen (z.B. Leipziger Straße). Linien, die die BVG für nicht rentabel hält - wie z.B. die Uferbahn in Schmöckwitz - müssen öffentlich ausgeschrieben werden.
Kaczmarek: Die Straßenbahn wird auch weiterhin eine wichtige Rolle im Berliner ÖPNV spielen. Für Ausbau und Stilliegung gilt: Die BVG kann aus betriebswirtschaftlicher Sicht Vorschläge erarbeiten. Die Entscheidung über Neu- oder Abbau ist aber unter Einbeziehung Verkehrs- und umweltpolitischer Gesichtspunkte vom Senat zu treffen. Sollte sich die BVG außer Stande sehen, eine bestimmte Strecke weiter zu betreiben, sollte der Senat die betreffende Strecke ausschreiben, um einen anderen Betreiber zu finden.
Von Lüdeke: Berlin ist als Aufgabenträger für Art und Umfang des ÖPNV zuständig. Die BVG ist (noch) alleiniger Erbringer der kommunalen Nahverkehrsleistungen und auf diese Funktion zu beschränken. Das Straßenbahnnetz ist (wie auch das Busnetz) auf seine Wirtschaftlichkeit hin zu überprüfen. Strecken mit perspektivisch zu geringem Kostendeckungsgrad sind einzustellen und soweit erforderlich durch Busverkehr zu ersetzen.
Matuschek: Berlin hat das größte Straßenbahnnetz in der Bundesrepublik und das wird auch so bleiben. Für den Netzausbau trägt letztlich der Aufgabenträger, also das Land Berlin,die Verantwortung. In der weiteren Realisierung sind die Straßenbahnabschnitte Alex II und Invalidenstraße. Wir sehen auch in Zukunft Möglichkeiten des Streckenausbaus. Natürlich kann dieser nur in enger Abstimmung mit der BVG erfolgen und nach genauer Prüfung auf Wirtschaftlichkeit. Diese ist dort gegeben, wo durch ein neues Straßenbahnangebot neue Fahrgäste gewonnen werden oder bisherige Fahrgäste schneller und kostengünstiger an ihr Ziel gebracht werden können. Die BVG hat die Aufgabe, die Straßenbahnstrecken zu betreiben, wobei sie dabei die betriebsund volkswirtschaftlichen Effekte im Auge haben muss. Die Bestellung neuer Straßenbahnfahrzeuge ist der Beweis dafür, dass die Straßenbahn in Berlin eine gute Zukunft vor sich hat. Das Streckennetz ist mit einer Länge von 194 km durch das Abgeordnetenhaus festgelegt worden. Sollten an einer Stelle tatsächlich aus nachvollziehbaren Gründen Teilstrecken stillgelegt werden müssen, kann das nur zu Gunsten neuer Strecken erfolgen, um die Gesamtlänge nicht zu unterschreiten.
Gaebler: Die Einbindung durch die S21 in den Nordring wird in den nächsten Jahren fertig gestellt. Die Weiterführung in Richtung Süden wird vermutlich noch längere Zeit dauern. Der S21 -Vorlauf-Verkehr während der WM hat keine erhebliche Fahrgastnachfrage erkennen lassen. Insofern ist zunächst die weitere Entwicklung auf den Regionalzügen in Nord-Süd-Richtung zu beobachten. Ggf. kann ansonsten so ein Zusatzangebot die bestehende Lücke schließen.
Hämmerling: Wir haben vor zwei Jahren einen Beschluss erwirkt, dass Senat und DB AG den Hauptbahnhof Lehrter Bahnhof in Nord-Süd-Richtung durch eine sogenannte Duo-Bahn anbinden sollen. Alternativ kann die Bahn auch zwei der vier Tunnelröhren für die S-Bahn zur Verfügung stellen. Wichtig ist ein System, das sich nahtlos am Gesundbrunnen und Südkreuz ins S-Bahnnetz integrieren lässt. Die planfestgestellte S 21 wird gebaut, wenn Geld da ist. Die Tram zum Hauptbahnhof darf nicht länger durch die geplante integrierte Straßenverbreiterung blockiert werden.
Kaczmarek: Vorerst ist die Verdichtung des Regionalbahnverkehrs zwischen Südkreuz und Gesundbrunnen (sogenannte S 21) eine gute Zwischenlösung, die nur kommuniziert werden müsste. Mittelfristig hilft nur der Bau der „echten" S 21, deren Nordabschnitt jetzt zügig in Angriff genommen werden sollte. Der Weiterbau der U 5 und der Straßenbahn in Richtung Nordbahnhof wird die Anbindung insgesamt weiter verbessern.
Von Lüdeke: Es ist zu klären, ob der „WM-Shuttle" der Bahn zwischen Gesundbrunnen und Südkreuz zu einem Wechselstrom-S-Bahnbetrieb für Berlin und sein engeres Umland („Speckgürtel") entwickelt werden kann, der durch den Nord-Süd-Bahntunnel geführt wird. Darauf ist der RE- und S-Bahnverkehr mit dem Ziel klarer Aufgabentrennung, mehr Kunden und mehr Wirtschaftlichkeit abzustimmen. Es besteht hier angesichts schrumpfender Regionalisierungsmittel ein dringender Klärungsbedarf!
Matuschek: Der größte Nachholbedarf bei der Erschließung des Hauptbahnhofs liegt in der Verlängerung der Straßenbahnstrecke vom Nordbahnhof durch die Invalidenstraße. Es ist eine Schande, dass trotz erheblichen Zeitverzugs beim Bau des Hauptbahnhofs die bisherige und auch jetzige Verkehrsverwaltung nicht in der Lage waren, die Straßenbahn zeitgleich zu erstellen und in Betrieb zu nehmen. Durch Planungsfehler ist leider eine weitere Verzögerung eingetreten. Anschließend sollte - nach entsprechendem Nachweis der Wirtschaftlichkeit und Planungsverfahren - die Straßenbahn weiter nach Moabit verlängert werden, um den Hauptbahnhof auch aus den nordwestlichen Stadtteilen schnell und umsteigefrei zu erreichen. Der Bau der S 21 ist im ersten Abschnitt begonnen und muss fortgesetzt werden. Da die Bundesregierung den Weiterbau der U 55 erzwungen hat, wird der Hauptbahnhof künftig auch mit einer U-Bahn erreichbar sein. Angesichts der fehlenden Finanzmittel für das Gesamtsystem Nahverkehr muss der Weiterbau der U 55 nach unserer Ansicht dennoch noch einmal kritisch hinterfragt werden. Es kann nicht sein, dass sämtliche Finanzierungsmittel für die Berliner Nahverkehrsinfrastruktur in den nächsten 10 Jahren durch den Bau der U 55 gebunden sein werden. Darüber muss noch einmal - auch mit der Bundesregierung - verhandelt werden. Es geht um das Gesamtnetz und seine Funktionalität und nicht um ein Prestigevorhaben aus alter Rechthaberei.
Gaebler: In den mittelfristigen Planungen der Verkehrsunternehmen sind Steigerungen der Fahrgeldeinnahmen nachvollziehbar fest eingeplant. Dies muss nicht zwingend bzw. ausschließlich durch Fahrpreiserhöhungen erfolgen. Grundsätzlich ist aber eine regelmäßige maßvolle Erhöhung absehbar. Stammkunden sollen weniger belastet werden als bei vergangenen Erhöhungen und die familienfreundlichen Komponenten müssen erhalten bleiben (deutliche Rabattierung der Schülerkarten), ebenso das Sozialticket. Ziel ist eine Gültigkeit für alle VBB-Verkehrsmittel im Stadtgebiet und die Möglichkeit, Anschlusstickets zu erwerben.
Hämmerling: Wir befürchten nach der Wahl eine deutliche Erhöhung der Fahrpreise. Wir wollen stattdessen billigere Tickets durch mehr ÖPNV-Nachfrage, durch flexiblere Angebote (z.B. Abend- und Wochenend-Monatskarten, Innenstadttickets) und durch eine Berlin-Vignette für Autopendler.
Kaczmarek: Ich hoffe auf möglichst stabile Tarife. Grundsätzliche Änderungen sind zurzeit nicht nötig. An den Details muss aber weiter gefeilt werden. Warum sollte es nicht wieder eine - leicht rabattierte - Sammelkarte für den Gelegenheitsnutzer geben? Und ein echter Kurzstreckenfahrschein mit Umsteigeberechtigung wäre erstrebenswert.
Von Lüdeke: Die Fahrpreise des Nahverkehrs in Berlin müssen die Beförderungsleistung stärker abbilden, d. h. die Beförderungsdistanz und die Benutzung mehrerer Verkehrsmittel (z.B. Bahn/Bus). Dies gilt für die Bar- und Zeittarife, denen ein übersichtlicher Ermäßigungstarif für Soziales, Azubis und Schüler zuzuordnen ist. Ferner ist ein übersichtlicherer Tarif für Tagesnutzer/Touristen vonnöten.
Matuschek: Der VBB-Tarif weist in einigen Bereichen Ungereimtheiten und auch Härten auf. Der Sprung von einem Einzelfahrschein zum Monatsangebot ist preislich zu groß. Das Einzelticket selbst wird angesichts der Nettoeinkommen der überwiegenden Bevölkerung in Berlin als zu teuer empfunden. Die Stammkunden (Monats- und Jahreskarteninhaber) wurden bei den letzten Preiserhöhungen kräftig zur Kasse gebeten. Deshalb muss bei allen Überlegungen der Fahrpreisentwicklung an diesen Stellen nachgebessert werden. Die Vorzüge des VBB-Tarifs mit einer Schüler- und Geschwisterkarte, die Einheitlichkeit des Angebots für die Gesamtstadt und die Möglichkeiten, gruppenspezifische Angebote wie Semesterticket und Jobticket anzubieten, müssen unbedingt erhalten werden. Allerdings gibt es sicherlich noch Möglichkeiten, durch Rationalisierungen beim Vertrieb Erleichterungen für die Fahrgäste zu schaffen. Auch sollten endlich die vorhandenen Möglichkeiten von „Schnuppertarifen" ausgeschöpft werden, um auszuloten, welche Tarifangebote für bisher nicht erschlossene Fahrgastpotenziale Wirkung erzielen können. Nicht zuletzt sollte endlich die Formulierung der sogenannten Beförderungsbedingungen, also die Erläuterungen darüber, welcher Tarif für welches Angebot gilt und der beste ist, einfach und verständlich formuliert und im VBB einheitlich umgesetzt werden.
Hämmerling: Die wirtschaftliche Sanierung der BVG ist bei ihrem Schuldenberg von 800 Millionen Euro überlebenswichtig. Geboten sind Kostenreduzierung und Transparenz durch rechnungstechnische Trennung von Netz und Betrieb. Wir brauchen keinen teuren Schnickschnack wie S-Bahn-Fernsehen, sondern einen preiswerten umweit und stadtverträglichen Verkehr. Auf neue Autobahnen und Straßen muss verzichtet werden. Mit Werbung verklebte Fenster bei Bus und Bahn soll es zukünftig nicht mehr geben. Auf die Bahnhöfe gehört Personal.
Kaczmarek: Wichtig ist, dass bei allen Sparnotwendigkeiten das vorbildliche Berliner Nahverkehrsnetz nicht zerstört wird. Wichtige Investitionsvorhaben wie das Ostkreuz, die U 5 oder die Falkenseer S-Bahn müssen endlich voran gehen. Für den Kunden ist wichtig, dass die Qualität stimmt: Graffiti-verschmierte und „gescratchte" Züge und Busse sind kein Aushängeschild. Videoüberwachung ist ein Weg - besser noch ist es, wieder mehr Personal auf die Bahnhöfe und in die Züge und Busse zu bringen.
Von Lüdeke: Die FDP will mehr Wettbewerb im Berliner ÖPNV. Sie orientiert sich am Beispiel Kopenhagen, das seit Jahren die Nahverkehrsleistungen öffentlich ausschreibt mit der Folge, dass etwa 15% der Nahverkehrskosten eingespart und zugleich die Qualität des Nahverkehrs verbessert werden konnten.
Matuschek: Die Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsoge ist Schwerpunkt der Linkspartei. PDS. Dazu gehört eindeutig die Bestandssicherung der BVG mit ihren 11.000 Arbeitsplätzen und ihrem hervorragenden Nahverkehrsangebot. Dies soll nach unserer Meinung durch den Abschluss einer Verkehrsfinanzierungsvereinbarung erfolgen, die den Berliner Nahverkehr bis 2020 sichert. Auch das andere große Berliner Nahverkehrsunternehmen S-Bahn GmbH soll weiterhin gute Arbeitsbedingungen haben, um die vielfältigen Mobilitätswünsche der Berliner, der Umlandbewohner und der vielen Gäste Berlins zu befriedigen. Der mit der S-Bahn abgeschlossene Verkehrsvertrag soll in vollem Umfang gesichert werden. Allerdings hat die Bundesregierung die den Ländern zustehenden Nahverkehrsgelder erheblich gekürzt. Deshalb wird in der neuen Legislatur die Finanzierung des Nahverkehrsangebots bei mindestens gleicher, wenn nicht sogar besserer Qualität, Schwerpunkt der Verkehrspolitik sein. Insgesamt wird es zukünftig um mehr Kooperation der verschiedenen Verkehrsunternehmen gehen, um das Heben der viel beschworenen Synergien aus dem Vorhandenen, um mehr Transparenz im Angebot und um mehr Kundenfreundlichkeit.
Berliner Fahrgastverband IGEB
aus SIGNAL 4/2006 (August/September 2006), Seite 18-20