Regionalverkehr
Bilanz nach einem Jahr
30. Okt 2013
Erst Fahrkarte kaufen, dann Zug fahren!“ Diese anscheinend so eindeutige Regelung führte der VBB zum 9. Dezember 2012 ein – in Abstimmung mit den Ländern Berlin und Brandenburg. Bis dahin war es möglich gewesen, in den DB-Regio-Zügen die Fahrkarte zum „Bordpreis“, also mit einem Zuschlag, zu erwerben. Bei der ODEG und anderen Unternehmen war es sogar grundsätzlich möglich, die VBB-Fahrkarte erst im Zug zu erwerben.
Warum die Möglichkeit zum Fahrkartenkauf im Zug abgeschafft wurde, ist nie ehrlich offen gelegt worden. Offensichtlich gibt es auch nicht den einen Grund.
Eine treibende Kraft war das Land Berlin. Zum 9. Dezember 2012 traten die neuen Verträge für das Netz Stadtbahn in Kraft, zu dem u.a. die gut genutzten RE-Linien 1, 2 und 7 gehören. Es waren die ersten Bruttoverträge, das heißt: Die beauftragten Verkehrsunternehmen DB Regio und ODEG erhalten das gesamte für ihre Dienstleistung benötigte Geld von den Bestellern Berlin und Brandenburg, vertreten durch den VBB, müssen aber alle Fahrgeldeinnahmen an die Besteller abführen. Damit war das Interesse an der Erzielung hoher Fahrgeldeinnahmen von den Verkehrsunternehmen auf die Länder verlagert worden.
Somit sorgte sich nun das Land Berlin, dass bei dem S-Bahnähnlichen Regionalverkehr auf der Stadtbahn viele Fahrgäste in den Zügen sitzen, die bei ihren Kurzstreckenfahrten praktisch nie vom Kundenbetreuer kontrolliert werden. Das sollte mit der Regel „Erst Fahrkarte kaufen, dann Zug fahren!“ unterbunden werden. Schließlich kannten die Berliner Fahrgäste dieses Prinzip ja von S-Bahn und U-Bahn.
Vergessen wurde bei dieser Berlin-zentrierten Betrachtung des Regionalverkehrs, dass zwei Drittel der Bahnhöfe in Brandenburg keine Verkaufsstellen und keine Automaten haben, die einen Fahrscheinerwerb vor Fahrtantritt ermöglichen.
Also musste zu der so klar erscheinenden Regelung gleich eine Ausnahmeregelung eingeführt werden. Auf einem DB-Faltblatt vom Dezember 2012 wurde erläutert:
„Nicht alle Bahnhöfe sind mit Verkaufsstellen oder Automaten ausgestattet. Wenn Sie an einem solchen Bahnhof einsteigen, wenden Sie sich bitte wie gewohnt zum Erwerb des Fahrausweises an den Kundenbetreuer im Zug.“
Damit waren die Streitfälle vorprogrammiert. Muss ein Fahrgast vor dem Hinsetzen durch den RE mit vier oder fünf Wagen laufen, um das Zugpersonal zu finden? Gilt das auch für alte Fahrgäste oder solche mit viel Gepäck? Wie sehe ich, wo der Kundenbetreuer ist, da doch seit dem 9. Dezember 2012 die Züge von den Lokführern abgefertigt werden, so dass die Kundenbetreuer nicht mehr auf den Bahnsteig treten müssen?
„Nein, der Fahrgast kann sich setzen und warten, bis das Zugpersonal zu ihm kommt“, versicherten VBB- und Bahnvertreter zuletzt auch wieder auf dem Sprechtag für Regionalzugfahrgäste (siehe Seite 15/16). Aus der Praxis gibt es jedoch andere Berichte. Nicht wenige Fahrgäste haben deshalb Angst, plötzlich des „Schwarzfahrens“ verdächtigt zu werden, obwohl sie sich so verhalten haben, wie es der VBB empfiehlt.
Zusätzliche Verunsicherung entsteht durch Bahnhöfe mit zwei Bahnsteigen, auf denen aber nur einer mit Automaten ausgestattet ist, z.B. in Berlin-Hohenschönhausen. Muss sich der Fahrgast die Mühe machen, die Treppen zum Bahnsteig mit Automat zu überwinden?
Und wie hat sich der Fahrgast zu verhalten, wenn am einzigen Automaten zwei oder drei andere Fahrgäste vor ihm stehen? Muss er den Zug fahren lassen und eine oder gar zwei Stunden auf den nächsten warten?
Natürlich hatten sich 2012 alle Beteiligten bemüht, überzeugende Begründungen für die Neuregelung zu finden. „Schon heute gilt diese Regelung bereits in der Mehrzahl der Verkehrsverbünde in Deutschland und wird nun auch auf das gesamte VBB-Gebiet im Schienenpersonennahverkehr ausgeweitet. Damit werden Missverständnisse, die bisher durch eine uneinheitliche Regelung entstehen, ausgeschlossen“, hieß es im genannten DB-Faltblatt.
Das war doppelt falsch. Zum einen gibt es viele neue Missverständnisse – siehe oben. Zum anderen gibt es bereits angrenzend an das VBB-Gebiet, wo auch noch vom VBB bestellte Züge fahren, diverse abweichende Regelungen, wie die abgebildete Übersichtskarte von DB Regio zeigt.
Die jetzige am Berliner S- und U-Bahn-Verkehr orientierte Regelung ist fahrgastfeindlich und muss dringend geändert werden. Es muss möglich sein, in alle Regionalzüge ohne Fahrausweis einzusteigen und diesen dann beim Zugpersonal bzw. am Automaten zu erwerben. Das Einsteigen ohne Fahrausweis mit anschließendem Kauf am Automaten ist den Berlinern übrigens nicht fremd: Sie kennen es von der Straßenbahn.
Allerdings ist Dringlichkeit vielen Verantwortlichen nicht ausreichend deutlich. Denn auf vielen Zugfahrten bekommen die Fahrgäste den Kundenbetreuer gar nicht zu sehen. Also kann es auch keine Streitfälle geben. Und potenzielle Streitfälle werden oft dadurch unterbunden, dass das Bahnpersonal kulant ist und dem Fahrgast ohne Fahrschein einen solchen verkauft. Diese löbliche Deeskalation ist jedoch keine Rechtfertigung, die Regelungen so fahrgast- und personalfeindlich zu belassen.
IGEB S-Bahn und Regionalverkehr
aus SIGNAL 5/2013 (November 2013), Seite 16-17