International
30. Okt 2013
Auch 24 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wächst nicht zusammen, was zusammen gehört. Im Gegenteil: Die Bahnverbindungen zwischen Deutschland und unseren östlichen Nachbarländern sind heute schlechter als zu Zeiten des Kalten Krieges.
Zwischen dem bulgarischen Vidin und dem rumänischen Calafat wurde kürzlich eine neue Brücke über die Donau eröffnet. In diese Autobahnbrücke wurde nicht nur eine Eisenbahnlinie, sondern auch ein separater Fahrradstreifen für den Donau-Radweg integriert. Während hier ein nachbarschaftliches Zukunftsprojekt par excellence für das nachhaltige Zusammenwachsen von Europa realisiert wurde,
vernachlässigt Deutschland die grenzüberschreitenden Bahnstrecken. Das demonstrieren die vielen Lücken im Schienennetz zu unseren Nachbarn – so wie auch die Tatsache, dass es 1972 noch 18 tägliche Fernzugverbindungen zwischen Deutschland und Polen gab, während es heute nur noch sechs sind.
Typisch für die Missstände ist die Bahnstrecke zwischen Berlin und Szczecin (Stettin). Hier hat die Deutsche Bahn die letzten 30 km vor der Grenze noch immer nicht elektrifiziert, so dass ab Berlin bzw. Angermünde nur noch Dieseltriebzüge des Nahverkehrs fahren. Für die 150 Kilometer benötigt man heute knapp zwei Stunden – wie vor 100 Jahren. Die Bundesregierung als Ankündigungsweltmeister hat die eigentlich für 2016 geplante Ertüchtigung abermals auf nun 2020 verschoben. Um die Strecke für eine Zuggeschwindigkeit von 160 Stundenkilometern tauglich zu machen und sie zu elektrifizieren, wären etwa 100 Millionen Euro nötig.
Eine Delegation des EU-Verkehrsausschusses hatte sich vom 15. bis 17. Juli 2013 über die grenzüberschreitenden Schienenverbindungen zwischen Deutschland und Polen informiert. Die Mitglieder des Europäischen Parlaments haben dabei auch die Auswirkungen der Elektrifizierungslücke auf der Strecke nach Stettin praktisch „erfahren“ können. Alle Fraktionen waren sich einig, dass dieser Zustand unhaltbar ist und schnellstens Verbesserungen erforderlich sind – ebenso von Berlin nach Wrocław (Breslau) und nach Świnoujście (Swinemünde) über die Karniner Brücke.
An Geldmangel kann es eigentlich nicht liegen. Zehn Milliarden Euro, die sich nach den bisherigen Erfahrungen locker verdoppeln können, stehen für Stuttgart 21 zur Verfügung. Mit diesem Geld soll ein neuer Bahnhof gebaut werden, der nur halb so leistungsfähig ist wie der bestehende und der wegen seiner Schräglage nicht nur den EU-Normen widerspricht, sondern auch ein Gefährdungspotenzial darstellt. Zudem ist die Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm noch steiler als die existierende Geislinger Steige, so dass auch der neue Abschnitt für den Güterverkehr nicht geeignet ist. Dabei wäre eine rege Nutzung durch Güterzüge Voraussetzung für die Wirtschaftlichkeit der Strecke im EU-Korridor Paris—Bratislava.
Trotzdem wird diese drei Milliarden Euro teure Neubaustrecke mit knapp 400 Millionen Euro von der EU kofinanziert. Diese Summe würde reichen, um die Ertüchtigung und Elektrifizierung der drei erwähnten Bahnverbindungen zwischen Deutschland und Polen vollständig zu finanzieren. Nicht nur verkehrspolitisch ist das blamabel. Europapolitisch ist vor allem die eisenbahntechnische Abschottung gegenüber unseren östlichen Nachbarn ignorant. Ohne das mutige Engagement von Solidarność mit Lech Wałesa und der Charta 77 mit Václav Havel wäre der Eiserne Vorhang 1989 nicht gefallen und das gespaltene Deutschland nicht wiedervereinigt worden.
Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament
aus SIGNAL 5/2013 (November 2013), Seite 26