Titelthema
Hundertjährige Jubiläen bei der Berliner U-Bahn
16. Dez 2013
„Schöne Bahnhöfe!“ – Fotografiert man in Berlin U-Bahn-Architektur, wird man dabei ungewöhnlich häufifig (und stets zustimmend) von Fahrgästen angesprochen, wenn man es auf den Stationen der U 3 tut. Die Anlagen der Wilmersdorfer U-Bahn und der anschließenden Dahlemer Schnellbahn gelten als Schmuckstücke. Das war nicht immer so. Am 12. Oktober 2013 wurden sie, zusammen mit der jetzt zur U 1 gehörenden Strecke zur Uhlandstraße und dem U-Bahnhof Wittenbergplatz in seiner heutigen Form, hundert Jahre alt.
Eigentlich stimmt das Datum nicht: Am 12. Oktober 1913 wurde die 8,5 Kilometer lange Wilmersdorf-Dahlemer Strecke vom Wittenbergplatz zum Thielplatz nicht eröffnet, sondern auf ihr wurde nur – frühmorgens zwischen fünf und sechs – der öffentliche Betrieb aufgenommen. Obwohl das an einem Sonntag geschah, gab es keine Feier. Die offizielle Einweihung hatte bereits am 9. Oktober stattgefunden – wie bei der allerersten Berliner Hoch- und Untergrundbahnstrecke 1902 allein in Anwesenheit höherer Herrschaften (ausschließlich Männer). Für sie war in Dahlem eine provisorische Festhalle errichtet worden, in welcher ein luxuriöses Festmahl eingenommen wurde. Das gemeine Volk, mit dessen Steuergeldern die U-Bahn zum größten Teil bezahlt worden war, war bestenfalls als staunender Zaungast zugelassen. Da tobte sich noch einmal die Klassengesellschaft des Kaiserreiches aus, die krasse soziale Unterschiede schamlos zeigte.
In Wilmersdorf, so will es heute scheinen, war dies besonders passend. Nicht nur war die Stadt, die wie ihre Nachbarn keinesfalls nach Berlin eingemeindet werden wollte,
sich aber seit 1912 offiziell „Berlin-Wilmersdorf“ nannte, eher konservativ geprägt. Rückwärts gewandtes Denken schlug sich auch in der Architektur der dortigen U-Bahn nieder.
In Berlin und seinen damaligen Vororten waren unterirdische Bahnsteighallen bis dahin relativ schlicht und funktional gestaltet worden, ähnlich wie in London oder Paris. Zwar hatte der Zeitgeist um 1900 erst allmählich begonnen, sich vom seit Jahrzehnten grassierenden Hang zu lösen, alles mit Ornamenten zu überladen. Aber Tunnelstationen wurden gemeinhin off enkundig nicht als Teil des Stadtbildes betrachtet, weshalb sie architektonisch weitgehend als technische Anlagen behandelt werden durften – ohne Pomp und Schnörkel, ausgekleidet gern mit heller, pfl egeleichter Keramik. Größerer Aufwand wurde allenfalls auf die Schalterhallen verwendet sowie auf die oberirdischen Zugänge.
So war es in Berlin gewesen, ebenso wie in Charlottenburg – als reichste Stadt mal Preußens, mal ganz Deutschlands gehandelt –, das zu seiner Schnellbahn gekommen war, weil eine Verbindung zwischen ihm und Berlin den privaten Bauherrn und Betreibern der Hoch- und Untergrundbahn als besonders lukrativ erschien. Und so war es in Schöneberg, das 1910 die erste deutsche U-Bahn in öffentlichem Besitz eröffnet hatte.
Seit zirka 1890, als die dem Gründerkrach von 1873 folgende Weltwirtschaftskrise endlich überwunden war, erlebte der Berliner Ballungsraum ein enormes Wachstum. So expandierte Schöneberg von rund 29 000 Einwohnern im Jahr 1890 auf rund 173 000 anno 1910. Wilmersdorf zählte 1885 etwa 3000 Einwohner, 1910 waren es mehr als 100 000.
Besserverdienende anzulocken, diente dabei – anders als heute gern suggeriert wird – nicht oder nicht nur dazu, sich die sprichwörtlichen goldenen Bürgersteige leisten zu können. Vor allem war in Windeseile die Infrastruktur für die plötzlich entstandene Großstadt zu schaffen, und dies in einer Zeit, als es noch nicht haufenweise staatliche Subventionen und andere Fördertöpfe gab (dafür aber ein Einkommensteuersystem, bei dem auch die Kommunen von den Abgaben ihrer Bürger profitierten).
Wenn mit Charlottenburg und Schöneberg die beiden größten direkten Nachbarn und Konkurrenten ihre Schnellbahnverbindung nach Berlin bekamen, konnte Wilmersdorf – damals, als die Straßenbahn noch langsam war und Autos eher technische Spielzeuge darstellten – nicht zurückstehen. Nicht von ungefähr bemühte sich die Gemeinde bereits seit der Jahrhundertwende um den Bau einer U-Bahn. Und nicht von ungefähr bemühte sich insbesondere Charlottenburg, diesen Bau zu verhindern oder ihn wenigstens möglichst unattraktiv zu gestalten, etwa durch einen Umweg über die Leibnizstraße und den Kurfürstendamm, also über viel Charlottenburger Gebiet.
Charlottenburger Gebiet musste durchquert werden, wollte Wilmersdorf das attraktive Angebot der Hochbahngesellschaft, die alle bestehenden Strecken betrieb, annehmen: Für seine „Entlastungsstrecke“ vom Gleisdreieck über Kurfürstenstraße zum Wittenbergplatz musste das Privatunternehmen im Westen neue Fahrgastpotenziale erschließen. Es bot daher Wilmersdorf an, eine Strecke bis an dessen Grenze zu errichten, wenn die Stadt sich zum Weiterbau verpflichtete. Und dann wollte auch noch die Königliche Kommission zur Aufteilung der Domäne Dahlem – heute hieße so etwas „Entwicklungsgesellschaft“ – die Wilmersdorfer Strecke nach Dahlem weiterführen, wo seit 1901 eine Landhauskolonie entstand und wissenschaftliche Institute angesiedelt wurden. Vom preußischen Staat erhielt Wilmersdorf schließlich ebenso einen dicken Baukostenzuschuss wie von Terraingesellschaften.
Denn wie die 1908 eröffnete Westendlinie oder die Schöneberger U-Bahn sollte auch die Wilmersdorf-Dahlemer Strecke gerade erst bebautes Gebiet (wie die noch allein auf weiter Flur liegenden Anfänge des Rheingau-Viertels am Rüdesheimer Platz) oder noch zu besiedelndes Areal erschließen. Nicht zufällig befinden sich alle fünf damals errichteten Wilmersdorfer Stationen an Plätzen.
Hatten die Nachbarstädte schon schneller eine U-Bahn bekommen, so wollte Wilmersdorf wenigstens etwas Besonderes bieten und ordentlich protzen: Mit Granit, Muschelkalk und Sandstein, Marmor, Mosaiken und Majoliken, klobigen Stützen, kassettierten Decken, aufwendigen Kunstschmiede- und Bildhauerarbeiten, Reliefs und Friesen, Kassenhäuschen aus Eichenholz und hier noch einer Verzierung und dort noch etwas Stuck. Die Zugangstreppen liegen ganz im Freien, damit die prächtigen Tore gut zur Geltung kommen und das Entree pompöser wirkt – pfeif drauf, wenn die Fahrgäste deshalb Wind und Wetter ausgesetzt sind.
Wenngleich diese – in der Stadtverwaltung entworfene – Stationsgestaltung Elemente des ausklingenden Jugendstils oder der Beginnenden Moderne aufweist, wenngleich man bereits die eine oder andere leere Fläche findet oder schlicht auf die glatte Wand gesetzte kleine Schmuckreliefs – die Gesamthaltung entspringt noch dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Historismus mit seiner zunehmend wahl- und maßlosen Prunk- und Dekorationssucht.
Die Bahnsteighallen am Hohenzollern- und am Fehrbelliner Platz erinnern mit ihren dunklen, erdfarbenen Verkleidungen an die düsteren, vollgestopften Salons jener Zeit. Es ist mustergültiger Historismus, eine U-Bahn-Station wie am Heidelberger Platz als Mischung aus Kathedrale und Ratskeller zu gestalten. Am südlichen Zugang umrahmt die runde Pergola bezeichnenderweise nicht – wie ihr von Berlins bedeutendstem U-Bahn-Architekten Alfred Grenander gestaltetes, längst verschwundenes Vorbild an der heutigen Station Mohrenstraße – passgenau eine Treppe, sondern ist Dekoration für eine rechteckige Öffnung. Am Rüdesheimer und am Breitenbachplatz dürften die Details der dunklen Schmuckelemente an den Hintergleisfl ächen früher angesichts der damaligen schwachen Beleuchtung kaum zu erkennen gewesen sein.
Noch seltsamer wurde es auf der anschließenden, im offenen Einschnitt liegenden Dahlemer Strecke: Als Empfangsgebäude an der Podbielskiallee eine Variation auf ein zinnenbekröntes mittelalterliches Stadttor, in Dahlem-Dorf ein norddeutsches Bauernhaus mit Fachwerk und Reetdach. Immerhin entstand am Thielplatz (übrigens, anders als man heute oft hört, keine Phantasiebezeichnung, denn auf historischen Stadtplänen gibt es einen Thielplatz) ein Zugangsbau, der offenkundig inspiriert wurde von Hermann Muthesius’ als wegweisend erachtetem Haus Freudenberg an der Rehwiese in Nikolassee. Dächer und Aufbauten der Dahlemer Bahnsteige wurden hingegen ganz sachlich ausgeführt.
Schon mancher Zeitgenosse fand seltsam, was da südwestlich Berlins entstanden war. So heißt es in der Abendausgabe des „Berliner Tageblatts“ vom 8. Oktober 1913, der Wilmersdorfer Stadtbaurat Müller „hat sich nicht damit begnügt, den Schmuck aus der technischen Anlage selbst herauszuentwickeln, sondern er fing an, in die Bahnhöfe hineinzubauen, jedem von ihnen einen besonderen architektonischen Charakter erst gewaltsam aufzuprägen. Statt der schlanken, der geringen Höhe der Räume wohlanstehenden Eisenstützen Grenanders nahm der Wilmersdorfer Baumeister das ‚vornehmere’ Material der Granitsäulen. Er erreichte dadurch aber nur, daß wir das Gefühl haben, die Bahnhofdecke liege direkt auf unseren Köpfen. (…) Dann hat ferner bei der Ausgestaltung der Bahnhöfe der Name eine verhängnisvolle Rolle gespielt. (…) der Heidelberger Platz nun gar, wo die tiefe Lage des Bahnhofs eine hohe Wölbung gestattet, ist zu einem richtigen Weinkeller ausgestaltet. Breite granitene Sockel tragen hochstrebende Bogen, von denen die Laternen lustig herniederschaukeln, das ganze sieht fast wie ein Spott auf die Zwecke der Anlage aus. Man vergleiche damit, wie auf dem Bahnhof Inselbrücke [heute Märkisches Museum, J.G.] die hohe Wölbung ausgenutzt ist.“ Das Empfangsgebäude in Dahlem-Dorf nennt der Autor „ein Architekturkuriosum“.
Bereits die „Bauwelt“ vom 22. Mai 1913 hatte sich über „die Zwingburg als Bahnhof“ in Gestalt der Station Podbielskiallee ereifert: „Draußen in Dahlem hat sich die Untergrundbahn ein Bahnhofsgebäude geleistet, das einen Höhepunkt der Unzweckmäßigkeit darstellt. (…) Solche Entgleisungen dürfen nicht mehr passieren, wenn das moderne Berlin, in dem sich gottlob jetzt endlich so viele echt künstlerische Kräfte am Werke zeigen, nicht der Lächerlichkeit anheimfallen soll.“
Welch Geist man in Wilmersdorf wehen lassen wollte, hatte schon die Benennung der neuen Prachtstraße nach den Hohenzollern gezeigt sowie die des zum neuen Stadtzentrum ausersehenen Platzes nach der Schlacht bei Fehrbellin, welche als ein Meilenstein beim Aufstieg Brandenburg-Preußens galt. Am Fehrbelliner wie am Hohenzollernplatz wurden die Tore der U-Bahnhöfe mit Kriegsgerät geschmückt.
Wenige Monate nach der Eröffnung der Wilmersdorf-Dahlemer Strecke begann der Erste Weltkrieg, mit dem auch und gerade in Deutschland eine Gesellschaft unterging und ganz neue Zeiten anbrachen. Danach dürften diese Stationen vollends als letztes Aufbäumen oder, freundlicher ausgedrückt, als Abschiedsgruß eines Zeitalters erschienen sein. Pomp und Dekorationslust, wie sie hier vorgeführt worden waren, fanden denn auch bei der Berliner U-Bahn über Jahrzehnte hinweg keine Nachfolge. Einzige Ausnahme: Die unter dem Namen Thälmannplatz wiederaufgebaute heutige Haltestelle Mohrenstraße, denn Anfang der fünfziger Jahre wollte man in Ost-Berlin auch bei der U-Bahnhof-Gestaltung von Moskau lernen.
Im Westen hatte man schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg keinen Sinn mehr für Protz. Mit historischen Bauten wurde generell rüde umgegangen, aber alles aus Kaisers Zeiten galt als besonders geschmack- und wertlos. So stößt denn der hohe Gang aus der nördlichen Vorhalle am Heidelberger Platz auf einen viel niedrigeren, der angefügt wurde, als man neue Eingänge auf den seitlichen Bürgersteigen schuf. Zwischenzeitlich demontierte Bodenfl iesen wurden ohne Rücksicht auf das Muster neu verlegt. Deckenmosaiken verschwanden teilweise unter neu hochgezogenen Mauern, die hölzernen Fahrkartenschalter unter dicken Farbschichten.
Auch wurde eine Überbauung der 1929 von Thielplatz bis Krumme Lanke verlängerten Dahlemer Strecke erörtert. Deren „Deckelung“ war zwar von vornherein als Möglichkeit vorgesehen, weshalb man die Querungen nicht als Brücken, sondern als Tunnelstücke ausführte. Dabei verleiht die Führung im Einschnitt der Strecke einen besonderen Charakter. Und vergleicht man sie mit der Hellersdorfer, kann man erkennen, wie eine gut in den zu besiedelnden Raum eingebundene Schnellbahntrasse aussieht – und wie im Falle der U 5 nach Hönow eine schlecht integrierte.
Entlang der Station Thielplatz meinte man, eine weitere Straße bauen zu müssen, weshalb der Blick seither nicht mehr in den Thielpark schweifen kann, sondern auf eine blaue Spundwand stößt. Und bezüglich des Inneren der Dahlemer Empfangsgebäude bemerkte Sabine Bohle-Heintzenberg in ihrem 1980 erschienenen Standardwerk „Architektur der Berliner Hoch- und Untergrundbahn“, sie seien „durch moderne Einund Umbauten in ihrer ursprünglichen Wirkung weitgehend zerstört“.
Dabei hatte sich der Zeitgeist im Laufe der siebziger Jahre grundlegend zu wandeln begonnen: Historische Bauten erfreuten sich wachsender Wertschätzung. Die Wilmersdorf-Dahlemer Stationen, Einzelstücke und bislang fast als bizarre Ungetüme betrachtet, avancierten nun zu nostalgisch bewunderten Zeugnissen einer vermeintlich besseren Zeit. Zudem entsprachen sie der jetzt in West-Berlin herrschenden Doktrin, der zufolge sich die Gestaltung eines U-Bahnhofs auf dessen Namen oder Umgebung beziehen müsse.
In den achtziger Jahren wurde die gesamte Strecke von Wittenbergplatz bis Krumme Lanke unter Denkmalschutz gestellt – ein in West-Berlin einmaliger Vorgang. Als am Thielplatz ein zweiter Ausgang entstand, wurde dieser als äußere Kopie des alten Empfangsgebäudes ausgeführt. Und die Station Hohenzollernplatz beglückte man mit (bis heute vorhandenen) Nachbauten von in der Zwischenkriegszeit auf den S-Bahnhöfen verwendeten Bänken – Hauptsache, irgendwie historisch!
Als Mitte der achtziger Jahre die Postmoderne losbrach, verloren die Wilmersdorf-Dahlemer Stationen dann auch ihre Ausnahmestellung im Berliner U-Bahn-Netz: Die Stationen der U 7 in Spandau oder der U 8 in Reinickendorf konnten kaum bunt, verspielt, verziert, protzig, disfunktional genug gestaltet werden.
In letzter Zeit wurden die meisten Bahnhöfe von 1913 mit viel Aufwand und Liebe zum Detail restauriert, wurde Störendes entfernt – und neues Störendes eingebaut. So sensibel man etwa die einst fast würfelförmigen Leuchten in der Bahnsteighalle am Heidelberger Platz durch Aufsätze ergänzte – wie große Edelsteine wirken sie nun nicht mehr. Weil es im Raum nun heller ist, kommen sie zudem weniger stark zur Geltung. Dabei findet sich am Heidelberger Platz – ebenso wie am Fehrbelliner – immerhin noch der ursprüngliche dunkle Bahnsteigbelag. Aber nicht einmal in Wilmersdorf kann oder will ihn die Denkmalpflege gegen den Einbau eines neuen, viel helleren, viel stärker gemusterten verteidigen, der natürlich den Raumeindruck verändert.
Freilich stößt die Denkmalpflege bei diesen Stationen generell an gewisse Grenzen. So verfälscht die schöne Sitte, die früheren Werbeflächen mit Gemälden oder Fotos zu schmücken, das ursprüngliche Bild. Warcharakteristisch für die Wilmersdorfer U-Bahnhöfe doch gerade der fast schrille Kontrast zwischen der „vornehmen“ Architektur und den Zügen, den für sie notwendigen technischen Einrichtungen und vor allem der auch hier allgegenwärtigen Reklame. Immerhin dies ist am Fehrbelliner Platz zu erleben – noch. Wo alles mittlerweile gern gediegener gemacht wird als es jemals war, muss man fast schon dankbar sein für die Gedankenlosigkeit, mit der man auch hier die Plastiktüten aus den Mülleimern ragen lässt.
Wünscht man Werbung in solchen historischen Räumen, stellt sich die Frage, ob diese in einem besonderen Stil ausgeführt werden sollte: Plakate von vor hundert Jahren wirken heute dekorativ – und zwar womöglich dekorativer als dereinst. Der Blick hat sich eben genauso geändert wie der Geschmack. So entbrannte um Grenanders Empfangsgebäude auf dem Wittenbergplatz vor hundert Jahren ein heftiger Streit. Die Gegner sahen den Platz verschandelt. Und selbst ein Freund der 1913 fertiggestellten Anlage wie Preußens Minister der öff entlichen Arbeiten Paul von Breitenbach bezeichnete sie als „in harmonischen Formen geschaff enen Nützlichkeitsbau“. Auch der – schon damals abwertend gemeinte – Begriff „Zweckbau“ kursierte. Zum Inneren bemerkte die „Baugewerks-Zeitung“, Nr. 45/1913: „Die Farbgebung überrascht allerdings ungünstig beim Eintritt (…).“
Heute gilt der „Nützlichkeitsbau“ als beeindruckendes Monument und Schmuckstück. Nicht von ungefähr war dies 1980 das erste Bauwerk der Berliner U-Bahn, welches in West-Berlin unter Denkmalschutz gestellt wurde. Darauf folgte der umfassende Versuch, das ursprüngliche Erscheinungsbild (samt der „ungünstigen Farbgebung“) zu rekonstruieren – als wäre das Empfangsgebäude nicht im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt und danach vereinfacht wiederaufgebaut worden. Die völlig neue Innengestaltung mit weißen Glasplatten und abgehängten Lichtdecken sah man um 1980 nur als Notbehelf. Ebenso zeittypisch wurde nun mühsam neu geschaffen, was in der BVG-Schrift „50 Jahre Berliner U-Bahn“ 1952 noch als „überladene Verzierungen“ bezeichnet worden war.
Die zumindest von der Gleiszahl her größte Bahnsteighalle der Berliner U-Bahn entstand, weil am Wittenbergplatz sowohl die Wilmersdorf-Dahlemer Strecke als auch die von Charlottenburg gewünschte Kurfürstendamm-Strecke an die bestehende Trasse angeschlossen wurden (übrigens ohne dafür den U-Bahn-Verkehr zwischen Nollendorfplatz und Zoo für anderthalb Jahre zu unterbrechen – damals schaffte man so etwas noch).
Charlottenburg, zu dem der Wittenbergplatz seinerzeit gehörte, hatte im „Schnellbahnkampf“ der westlichen Vororte widerstrebend eingelenkt. Die Grenze zu Wilmersdorf verlief durch die 1959 aufgegebene Station Nürnberger Platz, und den naheliegenden Irrtum, deshalb wäre der nördliche, Charlottenburger Zugang samt Portal im relativ schlichten damaligen Einheitsstil der Hochbahngesellschaft und aus Eisen gestaltet worden, der südliche, Wilmersdorfer aber mit einigem Aufwand und aus Stein, hat der Schreiber dieser Zeilen in die Welt gesetzt (man findet diesen Blödsinn immer noch bei Wikipedia). Fotos zeigen hingegen: Der südliche Zugang war schlicht, weil er auf einer Mittelinsel der Spichernstraße lag, der nördliche pompöser, weil er sich im Zentrum des Nürnberger Platzes befand.
Die dortige, von Grenander gestaltete Bahnsteighalle sah – allerdings mit Gelb als Kennfarbe – aus wie jene der Station Uhlandstraße, dem ursprünglich einzigen Halt auf dem 1,5 Kilometer langen Abzweig zum Ku’damm. Optimistisch hatte der „Berliner Lokal-Anzeiger“ vom 13. Oktober 1913 erklärt: „Die Fortsetzung der Charlottenburger Linie nach Halensee und Grunewald ist nur eine Frage der Zeit.“ Immerhin ist dieser „Vorratsbau“, im Gegensatz zu so vielen anderen der Berliner U-Bahn, in Betrieb. Man darf gespannt sein, ob die Kurfürstendamm-Strecke im Laufe der nächsten hundert Jahre gebaut wird
Jan Gympel
aus SIGNAL 6/2013 (Dezember 2013/Januar 2014), Seite 6-10