Schienenverkehrswochen 1993
Mit S-Bahn-Zügen auf nicht elektrifizierten Strecken fahren? Die Hennigsdorfer AEG Schienenfahrzeuge GmbH macht's möglich. Noch im Februar sollen zwei vom Hersteller auf eigene Rechnung mit Dieselmotoren ausgerüstete "Viertelzüge" der Baureihe 485/885 fertiggestellt sein. Der auf den Schienenverkehrs-Wochen vom AEG-Mitarbeiter, Herrn Dipl. Ing. Falk Thomas, genannte Termin hat sich damit um einige Wochen verzögert. Unverändert aktuell sind jedoch die am 23. September 1993 gegebenen Informationen über das zugrundehegende Konzept, über mögliche Einsatzbereiche und über die technische Ausstattung der Züge.
1. Jan 1994
Bei der Reaktivierung von S-Bahn-Linien entfällt oft fast die Hälfte der Investitionen auf die Anlagen für den elektrischen Betrieb. Herr Thomas verdeutlichte das an einem Beispiel: Auf dem 4,4 Kilometer langen Abschnitt der S2 von der Berliner Stadtgrenze bis Blankenfelde wurden allein für die Bahnstromversorgung ca. 21 Mio DM ausgegeben, davon 17 Mio DM für Gleichrichter-Unterwerke und 4 Mio DM für die Stromschiene. Mithin erreichten die Elektrifizierungskosten nahezu den für Strecke und Bahnhöfe erforderlichen Aufwand von 21,7 Mio DM (Anm. d. Red.: Unberücksichtigt sind hierbei Zugangsbereiche, Informationssysteme, Fahrscheinautomaten etc.). Doch unabhängig von den Investitionskosten gibt es bekanntlich einen Grundsatzstreit, ob die Strecken ins Berliner Umland erneut mit Gleichstromschine oder nicht besser mit Wechselstrom-Fahrdraht auszurüsten sind.
Als Interimslösung bietet sich da die "Duo-S-Bahn" an - geeignet für Strecken mit und ohne Stromschiene. Um die Entwicklungskosten gering zu halten, haben die AEG-Konstrukteure auf einen völlig neuen Grundtyp verzichtet und sich stattdessen zur Modifikation vorhandener Züge entschlossen. Das sei, so Falk Thomas, die technisch wie kommerziell vorteilhafteste Lösung. Bei einer künftigen Serienfertigung (optionell auch als komplette Neubauten), wäre der Mehrpreis für den Dieselantrieb auf ca. 10 Prozent des Preises für herkömmliche Fahrzeuge der BR 485/885 zu begrenzen, wobei das letzten Endes von der Stückzahl abhängt. Der zusätzliche Unterhaltungsaufwand bliebe bescheiden, da die Duo-Version den übrigen Serienfahrzeugen weitgehend entspricht. Auch ist sie mit diesen kuppelbarbar. Bis zum Endpunkt eines elektrifizierten Abschnitts könnte also ein Vollzug fahren, von dort ab dann nur der dieselgetriebene Halbzugteil. Mit Klapptritten sind die Wagen für unterschiedlich hohe Bahnsteige geeignet. Die beiden Musterzüge werden für Kantenhöhen von 760 Millimetern ausgestattet sein, prinzipiell ist aber eine Anpassung sogar an 550 Millimeter möglich.
Herr Thomas nannte von der AEG ins Auge gefaßte Strecken für den Einsatz der Duo-S-Bahn:
Denkbar sind außerdem Durchläufe von S-Bahn- Zügen in wichtige Ausflugsgebiete, etwa über Karow hinaus nach Liebenwalde und Groß Schönebeck an der Heidekrautbahn. Nach eingehender Erprobung auf der AEG-eigenen Prüfstrecke Hennigsdorf - Velten sollen die "Musterviertel" 485/885 114 D und 115 D noch im Frühjahr zwischen Hennigsdorf und Oranienburg, später eventuell auch zwischen Hennigsdorf und Gesundbrunnen im Fahrgastbetrieb getestet werden.
Einige Angaben zur technischen Ausstattung: Jeder Beiwagen des Typs "885 D" verfügt über einen mittig liegenden, 304 kW-Unterflur-Dieselmotor mit angeflanschtem Drehstromgenerator. Das Auspuffrohr wird durch den Fahrgastraum geführt. Deshalb und wegen der Fußbodenklappe für die Zugänglichkeit der neuen Aggregate sind die Längssitzbänke in die Wagenmitte verlegt worden. Am dem Triebwagen zugewandten Ende befindet sich ein Geräteschrank, so daß es insgesamt pro Beiwagen sieben Sitzplätze weniger als vorher gibt. Die 660 Liter fassenden Treibstofftanks erlauben auf Strecken ohne Stromschiene einen Aktionsradius von ca. 500 Kilometern. (Anm. d. Red.: Das reicht spielend für einen ganztägigen Einsatz etwa auf der Linie Hennigsdorf - Blankenfelde, da hier pro Umlauf jeweils bis/ab Tegel nur 17 km mit Diesel zu bewältigen wären). Mit Dieselkraft beträgt die Durchschnittsgeschwindigkeit bei 1500 Metern Stationsabstand und je 20 Sekunden Haltezeit ca. 35 km/h gegenüber ca. 42 km/h im elektrischem Betrieb. Das Mehrgewicht von fünf Tonnen pro Viertelzug mindert die Fahrdaten im E-Betrieb nur unwesentlich. Der Wechsel zwischen beiden Betriebsarten erfolgt per Systemschalter vom Führerstand aus. Zusätzlich erforderlich sind dort nur wenige Bedienelemente und Anzeigen, z.B. der zentrale Ein- und Ausschalter für bis zu vier Dieselmotoren im Zugverband. Somit könnten problemlos auch "Diesel-Vollzüge" gebildet werden.
Im übrigen arbeiten die AEG-Ingenieure auch an Studien für eine Duo-S-Bahn wahlweise mit 750 Volt-Gleichstrom- und 15 kV/16 2/3 Hz-Wechselstrombetrieb. Zwar könnten - ausgehend von der BR 485/885 als Basis - auch dabei viele Zusatzeinrichtungen in den Beiwagen untergebracht werden, doch müßten alleine wegen des versenkbaren Stromabnehmers (Profilbegrenzung im Nord-Süd-Tunnel!) 14 Sitzplätze entfallen. Herrn Thomas zufolge würde das Fahrzeug-Mehrgewicht jenes der Gleichstrom-Diesel-Version auf jeden Fall übersteigen, u.a. wegen des erforderlichen Gleichrichters.
In der an den Vortrag anschließenden Diskusion gaben einige Besucher Hinweise, die unverändert aktuell sind: Verantwortliche Reichsbahnexperten - jetzt bei der DB AG - stehen "Zwittern" aller Art ablehnend gegenüber. Sie favorisieren eine klare Trennung zwischen den mit Wechselstrom elektrifizierten Regionalbahnen und dem S-Bahn-Netz. Bahnintern umstritten ist jedoch, ob letzteres weiter ausgedehnt werden soll oder ob es - abgesehen vom Ring und der Strecke nach Spandau - als im wesentlichen vollständig anzusehen ist. Für Fahrgäste aus Falkensee, Velten, Rangsdorf, Teltow und anderen Umlandgemeinden wären dann viele Innenstadtziele auch in Zukunft nur mit Umsteigen erreichbar. Ob sich stattdessen direkt verkehrende Duo-S-Bahnen, gleich welcher Variante, durchsetzen, bleibt skeptisch abzuwarten. Die Bahn AG wird über die Serienbestellung der BR 485/885 D erst nach ausgiebiger Betriebserprobung entscheiden.
IGEB
aus SIGNAL 1/1994 (Januar 1994), Seite 11-12