Aktuell
Es ist soweit. Die Stadtbahn, Berlins längstes Baudenkmal ist Großbaustelle. Gearbeitet wird zwischen Hauptbahnhof und Zoo. Im September fuhren hier die letzten Fernzüge, im Oktober wurde die S-Bahn auf die Ferngleise geführt. Seither müssen die geplagten S-Bahn-Fahrgäste noch mehr Belastungen ertragen: drei S-Bahnhöfe wurden vollständig, ein vierter, Hackescher Markt, "nur" in Fahrtrichtung Westen geschlossen; und natürlich gibt es auch wieder jede Menge Pendelverkehr. Während die einen die umfassende Stadtbahnsanierung als "Bauen für die Zukunft" preisen, beklagen die anderen vor allem die neuerlichen Einschränkungen, zumal diese teilweise vermeidbar gewesen wären.
15. Dez 1994
Natürlich soll die Stadtbahn saniert, modernisiert, elektrifiziert werden. Das ist im Sinne der Reisenden und Fahrgäste. Dafür nehmen sie auch vorübergehende Unannehmlichkeiten und Einschränkungen in Kauf. Das Verständnis endet allerdings dort, wo offensichtlich wird, daß die Bahn ihren Fahrgästen Belastungen zumutet, die vermeidbar wären. Zu nennen sind hier vor allem die Schließung der S-Bahnhöfe Jannowitzbrücke, Hackescher Markt, Bellevue und Tiergarten. Der Berliner Fahrgastverband hat mehrfach aufgezeigt, daß es möglich ist, Behelfsbahnsteige zu bauen. In Fahrtrichtung Osten wäre dies ohne jede Einschränkung möglich gewesen, wie am einzigen realisierten Behelfsbahnsteig Hakkescher Markt zu sehen ist. Behelfsbahnsteige in Fahrtrichtung Westen hätten die Bauarbeiten der Bahn zwar verteuert und verlängert, aber der große Gewinn für tausende täglicher Fahrgäste hätte das nach IGEB-Auffassung gerechtfertigt, zumal die Verteuerungen sich in der Größenordnung der Kosten für den Schienenersatzverkehr per Bus bewegt hätten. Auch gibt es bei solchen Bauprojekten (zumal in Berlin) ohnehin immer Verzögerungen. Ein Verzug von einem Monat, bedingt vor allem durch einen Munitionsfund, ist bereits eingetreten.
Daß es wenigstens am Hackeschen Markt, dem wichtigsten Umsteigeknoten zwischen Stadtbahn und Tram, einen einseitigen Behelfsbahnsteig gibt, ist erst nach massivem öffentlichem Druck erreicht worden. Ursprünglich waren auch am S-Bf Tiergarten und am S-Bf Bellevue Bahnsteige für die Züge in Richtung Osten geplant worden, die dann mit Zustimmung der Senatsverkehrsverwaltung zugunsten des bedeutenderen Bahnhofs "geopfert" wurden. Dabei war insbesondere "Tiergarten" bis zur Schließung keineswegs schlecht frequentiert. Tausende nutzten täglich diese Station in einer ansonsten schlecht erschlossenen Gegend, um zur TU, zu den vielen Arbeitsplätzen beiderseits des Landwehrkanals, ins Wohnquartier zwischen Bachstraße und Spree oder auch zum beliebten Flohmarkt auf der Straße des 17. Juni zu fahren. Fast ebenso viele Arbeitsplätze und noch mehr Anwohner (darunter der Bundespräsident) sind im Einzugsbereich des S-Bfs Bellevue zu finden. Deshalb bemühten sich der Berliner Fahrgastverband und der Bezirk Tiergarten intensiv um eine akzeptable Lösung. Doch die Bahn zeigte sich völlig unflexibel.
Geboten wird den Fahrgästen seither als Ersatz für "Tiergarten" und Bellevue" lediglich ein Schienenersatzverkehr per Bus. Tagsüber wird zwar in annehmbarem Takt gefahren, aber mangels Busspuren sind die Fahrzeuge langsamer als nötig. Hierfür liegt die Verantwortung natürlich nicht bei der Bahn, sondern bei Berlins (Auto-) Verkehrssenator. Daß die Busse ab ca. 21 Uhr nur noch im 20-Minuten-Takt (oder richtiger: mit 20-minütigen Lücken) verkehren, ist aber allein eine Sache der Bahn.
Attraktiver als der SEV ist das Angebot am geschlossenen S-Bf Jannowitzbrücke. Die Fahrgäste werden hier auf die ab Alexanderplatz parallel verkehrende U8 verwiesen. Allerdings ist das Umsteigen am Alex unbequemer, und kurz nach Mitternacht fahren auf der U8 bereits die letzten Züge, dann gibt es auch hier SEV per Bus.
Immerhin ist wenigstens das Bemühen um hinreichende Kundeninformation zu erkennen. Die rechtzeitige Bereitstellung von Hinweisschildern, Info-Material und digitalen Sprachspeichern für die Bahnsteigaufsichten hat (überwiegend) geklappt. Ärgerlich sind aber die Darstellungen auf dem Berliner Schnellbahn-Liniennetz. So sind geschlossenen S-Bahnhöfe zwar durch Schwärzung besonders hervorgehoben worden, aber es gibt weder grafische noch textliche Hinweise, wie man sie erreichen kann. (Anmerkung des Autors: Liebe Bahn, so schlecht ist euer Schienenersatzverkehr doch nun auch wieder nicht, als daß er völlig verschwiegen werden müßte.) Aber auch die knappe Erklärung "Halt nur in Pfeilrichtung" für die Fahrgäste von und zum Hackeschen Markt ist wenig kundenfreundlich.
Wie weitreichend die Auswirkungen der Stadtbahnsanierung sind, zeigt sich am S-Bahn-Verkehr nach Potsdam. Da die Strecke zwischen Berlin-Wannsee und Potsdam Stadt überwiegend eingleisig ist und der 10-Minuten-Takt deshalb nur mit pünktlichen Zügen funktioniert, kommt der S-Bahn-Verkehr bei Bauarbeiten auf der Stadtbahn regelmäßig durcheinander. Seit Oktober sind die Störungen in Potsdam praktisch der Normalfall. Deshalb sollte die Bahn umgehend auf die bereits früher erprobte Lösung zurückgreifen und die Stadtbahnzüge in Wannsee enden lassen, während die Züge der Wannseebahn (S1) nach Potsdam verlängert werden.
Zwei Monate nach Beginn der Stadtbahnsanierung ist unübersehbar, daß die S-Bahn viele Fahrgäste verloren hat. Es wären noch mehr, wenn der Senat die U-Bahn über die Oberbaumbrücke genauso zügig fertiggestellt hätte, wie die Straße für den Autoverkehr. So aber müssen viele Fahrgäste noch bis Ende 1995 warten, bevor sie in Warschauer Brücke von der S-Bahn auf die Ul bzw. U15 umsteigen können, um damit die Stadtbahn zu meiden. Viele Leidgeprüfte nutzen aber schon heute die Möglichkeit, am Alexanderplatz von der Stadtbahn auf die U-Bahn zu fliehen. Die Züge der U2 von Alex Richtung Zoo wurden in den letzten Wochen kontinuierlich voller.
Doch dieser Fahrgastzuwachs scheint einigen bei der BVG gar nicht zu gefallen. So jedenfalls muß man denken, wenn man wieder mal eingequetscht in einem überfüllten 6-Wagen-Zug steht, obwohl die BVG mit vermehrtem Einsatz von GI-Zügen auf der U2 alle Umläufe bedarfsgerecht mit 8-Wagen-Zügen verkehren lassen könnte. Aber dieses Thema (Stichwort "Gisela") ist SIGNAL-Lesern ja bestens bekannt und braucht an dieser Stelle nicht noch einmal ausgefuhrt zu werden. Darüber hinaus wurde beim "kleinen Fahrplanwechsel" auf der U2 der Wechsel vom 3- zum 5-Minuten-Takt von bisher 9 Uhr auf nun 8 Uhr vorgezogen (gemäß der vom Senat verordneten Leitlinie "Weniger Angebot zu höheren Fahrpreisen").
Bleibt zum Schluß noch die Frage: Schafft es die Bahn, wie angekündigt bis Ende Januar 1996 die Bauarbeiten abzuschließen? Sicher nicht, denn einen Monat Verzug hat sie bereits offiziell eingestanden. Wetten, daß es noch mehr Verzögerungen geben wird? Wir würden diese Wette so gerne verlieren!
IGEB
aus SIGNAL 9-10/1994 (Dezember 1994), Seite 4-7