Fernverkehr
15. Dez 1994
Stellen Sie sich bitte einmal vor, daß Sie in Berlin Hbf stehen und den InterCityNight in Berlin-Charlottenburg erreichen wollen. Auf der Stadtbahn haben die großen Bauarbeiten begonnen, deshalb planen Sie trotz fahrplanmäßiger 23 Minuten sicherheitshalber eine Stunde ein. Doch der Pendelverkehr ist gestört. Als nach fast 30 Minuten Warten ein von Westen kommender Zug mit Zielschild Ahrensfelde zum Pendelzug nach Friedrichstraße erklärt wird, steigen Sie zwar ein, wissen aber, daß der ICN kaum noch zu erreichen ist. Und sie behalten recht. Voller Verständnis für die Schwierigkeiten der Bahn wollen Sie der Schiene dennoch treu bleiben und sich am Bahnhof Zoo eine Fahrkarte für den ersten Zug am nächsten Morgen holen. Ein Hauch von Metropole weht durch das zu so später Stunde noch immer gut besuchte Reisezentrum. Doch das ändert sich schnell, als Sie erfahren, daß eine Platzreservierung leider nicht mehr möglich ist. Um 22 Uhr wird der Computer in Frankfurt am Main abgeschaltet. Die privatwirtschaftliche Organisation der Bahn hat sich offensichtlich noch nicht bis zu den Computern herumgesprochen, deshalb beharren die auf ihrem pünktlichen Feierabend. Also nehmen Sie eine Fahrkarte ohne Reservierung und geben das ICN-Ticket zurück. Doch erstattet bekommen Sie nur den halben Preis, wie beim Guten-Abend-Ticket. Letzteres ist ein Sonderangebot, das leuchtet Ihnen noch ein. Aber warum beim ICN dieselbe Regelung? Der ICN sollte eigentlich viel teurer sein, die jetzigen moderaten Preise sind das Ergebnis massiver Proteste und laufen bei der Bahn unter "Einführungsangebot", deshalb nur die Erstattung zur Hälfte, erläutert der freundliche Mann hinter dem Tresen. Merke: Wenn die Bahn für ein Produkt wirbt, sind die Konditionen schlechter als üblich. Sie halten das nicht für eine besonders gelungene Marketingstrategie und haben allmählich Zweifel, ob die ganze Geschichte überhaupt stimmt? Leider ja.
IGEB
aus SIGNAL 9-10/1994 (Dezember 1994), Seite 23-24