SIGNAL SERIE
Licht und Schatten im Untergrund

Der Tiergarten-Tunnel

Kurz nach dem Mauerfall waren noch alle dafür: Michael Cramer von den damals noch als AL firmierenden Grünen äußerte sich zustimmend, SIGNAL-Artikel standen dem Plan positiv gegenüber, die von den Grünen geführte Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz befürwortete das Projekt. Nur die seinerzeitige Senatorin Michaele Schreyer war von der Idee einer nord-südlichen Bahnstrecke durch den Berliner Stadtkern wenig angetan. Doch je wahrscheinlicher der Bau des Tiergartentunnels wurde, desto größer wurden die Bedenken von Umweltschützern und Befürwortern einer alternativen Verkehrspolitik.


Jan Gympel

1. Jan 1996

Inzwischen ist fast alles gesagt, was es zu dem Thema zu sagen gab, das Für und Wider hinsichtlich des Tunnels wie der damit verbundenen Gesamtkonzeption des zukünftigen Berliner Fern- und Regionalverkehrs („Achsenkreuz“, „Pilz“ oder „Ring“?) ist ausgetauscht, gegen die Planfeststellung angerannt und geklagt worden. Die Bauarbeiten bzw. die letzten Vorbereitungen dazu haben Anfang 1996 begonnen. Das vielleicht einzig Unstrittige an dem Tunnel dürfte sein, daß mit ihm ein Traum verwirklicht wird, den Stadt- wie Verkehrsplaner und auch manch einfacher Eisenbahnfan seit rund hundert Jahren hegen: eine nord-südliche Durchquerung der Berliner Innenstadt, als Pendant zur ost-westlich verlaufenden Stadtbahn. Zahllose Pläne dazu wurden in der ersten Hälfte des Jahrhunderts entworfen, deren Verwirklichung vor allem an drei, als unbefriedigend gelöst erachteten Problemen scheiterte: Die Verbindung konnte ohne maßlosen technischen Aufwand nur oberirdisch hergestellt werden (schon der Bau des engen, mit teilweise haarsträubenden Steigerungen und Kurven behafteten Nord-Süd-S-Bahntunnel in den dreißiger Jahren, quer durch die damals dichtest bebaute Innenstadt, war eine technische Meisterleistung); zwar bestanden nur relativ wenige Bedenken, den Tiergarten mit einer weiteren Verkehrstrasse zu zerschneiden. Doch dem Platz der Republik, für den schon in den zwanziger Jahren Pläne für einen Ausbau zum repräsentativen Forum von Reichsregierung und Reichstag existierten, wollte man dies Schicksal ersparen. Auch stand das nördlich angrenzende vornehme Alsenviertel einer Viaduktbahn im Wege, und schließlich hätte die Kreuzung mit der Stadtbahn einen größeren neuen Bahnhof erfordert, der zu einer starken Veränderung des Stadtbilds geführt hätte; von den Folgen für die umliegenden Viertel, die diese Entstehung eines Quasi- Zentralbahnhofs an Stelle des zu den unbedeutenderen Berliner Kopfstationen zählenden Lehrter Bahnhofs ganz zu schweigen. Der absonderlichste Vorschlag, der angesichts dieser Probleme gemacht wurde, war wohl jener in den zwanziger Jahren vorgebrachte, den kaum mehr befahrenen Landwehrkanal zum Eisenbahntunnel umzufunktionieren: Görlitzer, Anhalter und Potsdamer Bahn sollten in dieses viergleisige Bauwerk dort eingeführt werden, wo sie den Kanal berühr(t)en, nördlich der Lichtensteinbrücke wäre die Anbindung an die Stadtbahn erfolgt, von der es dann nur noch einen Abzweig zur Lehrter Bahn hätte geben müssen. Kremmener, Nord- und Stettiner Bahn hätte man über den Nordring angebunden. Auch dieses Konzept hätte freilich den damaligen Nachteil aller Tunnelstrecken nicht gelöst: Der noch allgegenwärtige Dampfbetrieb hätte einen zweimaligen Lokwechsel erfordert, um die Züge auf dem relativ kurzen Tunnelabschnitt elektrisch fortzubewegen.

Inzwischen haben die Zeitläufe die meisten damaligen Probleme gelöst: Elektrischer Antrieb ist auf den Hauptrelationen des Fernverkehrs die Regel, das Alsenviertel haben die Nazis für ihre monströsen Umgestaltungspläne Berlins beseitigt, der Bau eines Nord-Süd-Tunnels ist ohne allzu große technische Probleme machbar, und vor der Errichtung eines riesigen neuen Zentralbahnhofs schreckt man in dieser durch Krieg. Teilung und Flächenvorhaltung für den Fall der Wiedervereinigung weitgehend brachliegenden Gegend nicht mehr zurück.

Doch auch die Bedeutung der Bahn hat sich auf geradezu dramatische Weise gewandelt. Vor fünfzig, sechzig Jahren noch fast alleiniger Träger des Personenverkehrs, zumal über größere Distanzen, kann sie sich heute bestensfalls mühsam gegen die Konkurrenz von Flugzeug und Auto behaupten. Auch um dies, nicht zuletzt der Umwelt zuliebe, wieder zu ändern wird der Tiergartentunnel mit dem neuen Lehrter Bahnhof gebraucht, sagen dessen Befürworter. Doch die Bahn, für und durch die diese Bauten errichtet werden, scheint nur noch wenig Selbstbewußtsein zu besitzen, allen gegenteiligen Bekundungen zum Trotz. Warum sonst will sie in den Stationen nur noch eine Nebenrolle spielen? Allenthalben giert unsere übersättigte und vom langen Leben in Frieden, Wohlstand und Sicherheit gelangweilte Gesellschaft nach inszenierten, künstlich erzeugten „Erlebnissen“, von „Erlebnisreisen” über „Erlebnisshopping“ bis hin zu „Erlebnisgastronomie“. Die Eisenbahn des 19. Jahrhunderts bot weitestgehend unwillkürliche Inszenierungen ihrer selbst: Natürlich spielte bei Bauten wie dem Anhalter oder dem Lehrter Bahnhof auch das Repräsentationsbedürfnis der Betreibergesellschaften eine Rolle; doch die Ausbildung als Kopfbahnhof, die Höhe der Bahnsteighallen (und damit auch der äußeren, zur Stadt hin gerichteten Gebäudeansicht) hatten damit gar nichts zu tun, und der architektonische Stilmischmasch und Mummenschanz, die geradezu pathologische Sucht, das gesamte Gebäude mit Schmuck zu behängen, erstreckte sich damals auf praktisch jeden, noch so profanen Bau, bis hin zur Fabrikhalle und zur Mietskaserne.

Nun besitzt Berlin auf Grund eigener Dummheit bekanntlich keinen einzigen dieser Kopfbahnhöfe mehr, wenn man einmal vom früh außer Dienst gestellten Hamburger Bahnhof und dem längst bis zur Unkenntlichkeit veränderten früheren Schlesischen Bahnhof absieht.

Doch selbst wenn Anhalter oder Stettiner Bahnhof wiederaufgebaut worden wären - was würde die Deutsche Bahn AG aus ihnen machen? Nachdem man im Bahnhof Zoo unter Mißachtung nahezu aller baudenkmalpflegerischen Aspekte ein Shopping Center eingebaut hat, in dem nebenbei auch noch Fahrkarten verkauft werden und Züge halten, soll das gleiche demnächst mit den Stationen Alexanderplatz und Friedrichstraße geschehen. Bald sehen die Berliner Bahnhöfe dann aus wie der Kölner, der Leipziger oder der Hamburger Hauptbahnhof. Derweil überall Individualität gefragt ist, man jener weltumspannenden ästhetischen Monotonie und Gleichförmigkeit zu entfliehen versucht, die in einer Zeit weltumspannender Kommunikation, kommerzieller Beziehungen und daraus erwachsender kultureller Angleichung logisch, aber dennoch wenig attraktiv ist, setzt die ehemalige Behörde Bahn auf Vermassung und Gesichtslosigkeit. Der „'Bahnhof der Zukunft' - ein multifunktionaler Raum mit Verkehrsflächen. Büros und Gastronomie“, als den eine Broschüre den neuen Lehrter Bahnhof anpreist, droht ein plumper Glaskasten ohne eine innere Gliederung zu werden, die den Raum und das unterschiedliche Geschehen darin wirklich erlebbar machen würde; alles ist hier irgendwie neben- und übereinandergepackt: Rolltreppen, Perrons, Läden - man dürfte letztlich nicht so genau wissen, ob der Zug nun gerade in der Frankfurter Zeil-Galerie, dem Forum Steglitz oder dem Berliner Zentralbahnhof hält.

„Man dürfte letztlich nicht so genau wissen, ob der Zug nun gerade in der Frankfurter Zeil-Galerie, dem Forum Steglitz oder dem Berliner Zentralbahnhof hält.” - Oder im neuen Untergrundbahnhof Potsdamer Platz? Ausstellungsfoto, „Infobox” Potsdamer Platz, 1996

In einer Zeit, da in gesichtslose Warenhausschachteln wieder Lichthöfe hineingehrochen, Luft und Leere geschaffen werden; da allein aus Repräsentationsgründen Hochhäuser mit möglichst großen Eingangshallen als Hauptsitze von Konzernen wieder eine Konjunktur erleben (ein eklatantes Beispiel dafür ist die neue Zentrale der Dresdner Bank in Frankfurt am Main) - verfällt die Bahn auf die Idee, in Leipzig den größten Kopfbahnhof Europas teilweise mit Parkpaletten zu verstellen, die Empfangshallen mit Ladengalerien zu verbauen oder sich gleich möglichst unauffällig in der Erde zu verkriechen. „Auf dem Potsdamer Platz wird kein Bahnhofsgebäude zu sehen sein“, verkündet die im Auftrag von Bahn und Land Berlin den Tiergartentunnel bauende Projektgesellschaft über den dort entstehenden Regionalbahnhof. Erst von einer fünf Meter hohen und 5.600 Quadratmeter großen Fußgängerpasserelle im zweiten (!) Untergeschoß aus wird man dort durch eine 31x67 Meter große Öffnung im Boden einen Blick auf die Bahn werfen können.

Auch im neuen Lehrter Bahnhof halten die hochgeschwinden Paradezüge tief im Keller für ein paar Minuten, um dann wieder aus der Station, von der die Reisenden kaum einen erwähnenswerten Eindruck gewonnen haben dürften, wie aus der Stadt herauszurauschen. Die Chance zur wahren Trendwende, die kaum deutlicher hätte werden können als mit dem Neubau eines großen Bahnhofs im wieder in seine Hauptstadtfunktionen eingesetzten Berlin, hat die Bahn gründlich verpaßt. Die Verantwortlichen dort haben bis heute nicht verstanden. daß vor allem Kopfbahnhöfe ein Erlebnis sind, das keine Autobahn und kein Flughafen (wenn man einmal von Berlin-Tempelhof absieht) bieten kann: Nicht nur grandiose Raumerlebnisse und Inszenierungen des Reisens, sondern geradezu mythische Orte. Mit ein paar, auf den Anhalter Bahnhof bezogenen Worten, hat Walter Benjamin in seinem Buch „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“ die Magie der Kopfbahnhöfe wohl definitiv beschrieben: „Mutterhöhle der Eisenbahnen, wo die Lokomotiven zu Hause sein und die Züge anhalten mußten.“ - Im Kopfbahnhof verschwinden alle Züge, hier präsentieren sie sich, nebeneinander aufgereiht wie in einer Ausstellung und doch in voller Funktion und rastlosem Betrieb, von hier aus machen sie sich auf den Weg in die weite Welt. Im Kopfbahnhof endet die Strecke, dem Reisenden wird damit vermittelt: Er ist am Ziel und die Stadt so wichtig, daß sie ihn zwingen kann auszusteigen, ob er in ihr verweilen will oder nicht. Nostalgie und Romantik, vor allem aber auch die zahllosen Szenen von dramatischen Abschieden, freudigem Aufbruch oder glücklichem Empfang auf Bahnhöfen in Büchern und Filmen spielen für die mythische Kraft großer Stationen eine entscheidende Rolle. Ein Einkaufszentrum mit ein paar Bahnsteigen, an denen Züge schnell mal halten, kann diese Gefühle niemals bedienen, degradiert das Reisen zu einer profanen, nüchternen Angelegenheit. Und wir sehen schon dem wahrscheinlich gar nicht mehr so fernen Tag entgegen, an dem in irgendeinem Disneyland oder anderem Vergnügungspark ein Fantasie-Kopfbahnhof entsteht, mit prachtvollem Empfangsgebäude und großer, weiter, vor allem leerer Halle, in denen man das lebendige Schnaufen und Zischen der alten und das mysteriöse Singen und Summen der neuen Loks erleben kann. Vom Lehrter Bahnhof, dessen Nord-Süd-Bahnsteighalle im zweiten Untergeschoß den Charme eines etwas groß geratenen 70er Jahre-U-Bahnhofs mit angeschlossener „B-Ebene“ haben dürfte, und durch den („Hier Hauptbahnhof der Bundeshauptstadt. beim Ein- und Aussteigen bitte beeilen“) die Züge rauschen sollen, als handele es sich um eine nachrangige Schnellbahnhaltestelle am Rande der Stadt, kann man dann innerhalb weniger Stunden zum Superduper-Freizeitpark gelangen, um zu erfahren, welch aufregendes sinnliches Erlebnis ein Bahnhof einmal war.

Der gegen Kopfbahnhöfe gerichtete Dogmatismus der Bahn erscheint noch absurder, wenn man die in den letzten Jahrzehnten vollzogene technische Entwicklung bedenkt: Das aufwendige Umsetzen der Lokomotiven, in den fünfziger Jahren noch Alltag, ist längst Geschichte. Wendezug-und Triebkopftechnik, auch und gerade bei den Hochgeschwindigkeitszügen, erlauben ein Kehren (oder „Kopf machen“) in kürzester Zeit und ohne große Probleme. Auch kann der Aufwand zum Betrieb zweier Radial- kaum größer sein als der einer Durchmesserstrecken. Im Gegenteil zeigt sich schon bei der, verglichen mit der Regionalbahn nur winzige Entfernungen überbrückenden Berliner U-Bahn die hohe Störanfälligkeit übermäßig langer Linien. Und schließlich: Wer will eigentlich durch Berlin hindurchfahren? Verkehr in der Innenstadt ist stets zum größten Teil Ziel- und Quell-, nicht Durchgangsverkehr, jedenfalls nicht auf die gesamte Fläche der Innenstadt bezogen betrachtet. Berlin bzw. dessen Stadtkern nimmt in dieser Hinsicht eine zentrale Position für mindestens ganz Brandenburg ein. So wenige Menschen von Köpenick nach Spandau oder von Lichterfelde nach Oranienburg fahren, so wenige bewegen sich von Cottbus nach Wittenberge oder von Frankfurt/Oder nach Brandenburg an der Havel. Zielpunkt der Reise ist meist, als regionales Zentrum, Berlin selbst.

Aus all dem folgt, daß für ein überholtes Dogma in der Betriebsführung, für vermutlich recht wenige Reisende, für die Erfüllung eines alten Traums nun einige Milliarden Mark verbuddelt und womöglich der Tiergarten gefährdet wird. Der Ausbau auch des Südrings und die Schaffung einer neuen großen Kopfstation auf dem Areal des einstigen Potsdamer oder des Anhalter Bahnhofs (vielleicht auch bereits am Landwehrkanal) hätten - bei nur unwesentlich längeren Fahrtzeiten - weniger Geld gekostet, weniger ökologische Risiken heraufbeschworen, den Reisenden mehr geboten und wären wahrscheinlich auch für die Entwicklung des Berliner Stadtkerns sinnvoller gewesen: Mit der Schaffung eines Zentralbahnhofes, wie es ihn in Berlin nie gab und in den meisten von ihrer Größe her vergleichbaren Städten aus gutem Grund bis heute nicht gibt, wird eine umfangreiche Umstrukturierung des bisher halbwegs intakten „Kleine-Leute-Viertels“ Moabit heraufbeschworen; die ehemaligen Standorte der größten. wichtigsten Bahnhöfe (zu denen der Lehrter auf Grund der Zielkonkurrenz mit der Stadtbahn nicht gehörte) erfahren dagegen keine Wiederbelebung.

Aber sind wir denn nicht froh, daß unsere Vorfahren mit der Stadtbahn einen Schienenweg quer durch das Berliner Zentrum geschaffen haben? Und ob. Doch die wesentliche Bedeutung der Stadtbahn, die auch durch ihre kurvenreiche, mehr ökonomischen und stadtplanerischen denn verkehrlichen Aspekten folgende Streckenführung nicht beeinträchtigt wird, ist jene für den Lokalverkehr via S-Bahn. der bekanntlich auch die Feinverteilung zwischen den verschiedenen Haltepunkten der Fernbahn auf der Stadtbahn und in die entlegeneren Gebiete des Großraums Berlin übernehmen sollte. Schon die Tatsache, daß die Stadtbahn mitsamt ihren Ausgangspunkten ursprünglich fünf Fernbahnhöfe bot (und daß die zunächst für den Halt an der Friedrichstraße vorgesehene Bezeichnung „Zentralbahnhof” verworfen wurde) zeigt, daß diese Strecke von vornherein ganz anders konzipiert war als die neue Nord-Süd-Trasse: ein gigantischer, in die Länge gezogener und nachgerade auf mehrere Punkte aufgeteilter Hauptbahnhof gegen eine einzige, monströse Station, in der sich am Ende womöglich der gesamte Verkehr bündelt. (Nebenbei darf daran erinnert werden, daß die Grundidee der Stadtbahn ursprünglich keineswegs auf der Schaffung von Durchmesserlinien im Fernverkehr beruhte: Die von Osten kommenden Züge endeten vielmehr in Charlottenburg, die von Westen kommenden im Schlesischen Bahnhof - auch hier findet sich also bei näherer Betrachtung das alte Kopfbahnhofkonzept wieder.)

Ihren Höhepunkt erreichen die Absurditäten, die sich um den neuen Zentralbahnhof ranken nämlich, wenn man sich anguckt, wie die dort für die Zeit ab 2002 offiziell prognostizierten 200.000 (nach anderen Schätzungen sogar 240.000) Reisenden pro Tag (davon 100.000 „Umsteigebewegungen“) hin- und wieder weggebracht werden sollen: War die Stadtbahn wohlweislich von vornherein als Kombination von Fern- und Nahverkehrsstrecken errichtet worden, so sparte man bei der Nord- Süd-Tunnel- und Zentralbahnhofsplanung die parallel zu bauende S-Bahnlinie („S21“) kurzerhand ein. Aus unerfindlichen Gründen hat sich bei den Verantwortlichen die Vorstellung verfestigt, daß schon in wenigen Jahren fast nur noch die Bewohner von Friedrichshain, Lichtenberg, Hellersdorf und Marzahn die Bahn benutzen werden. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, daß zwar kein Geld für die S21 vorhanden war, wohl aber für die U5, die jetzt schon, oft nur in wenigen hundert Metern Entfernung, parallel zur S-Bahn verläuft und beispielsweise deren Linie 5 dreimal berührt (daß aus der in Aussicht gestellten Verlängerung der U5 Richtung Jungfernheide und Flughafen Tegel jemals etwas wird, glaubt ja wohl niemand ernsthaft oder erinnert sich niemand mehr an die seit fast hundert Jahren fest geplante Verlängerung der U-Bahn von der Warschauer Brücke zum Frankfurter Tor, an die seit über achtzig Jahre geplante Verlängerung von der Uhlandstraße nach Halensee oder an die seit siebzig Jahren geplante Strecke vom Alex nach Weißensee?). Doch selbst U5 und S5 reichen für die Bewältigung der gewaltigen Ströme Reisewilliger aus den östlichen Bezirken in Zukunft offenbar nicht aus, denn auch die Straßenbahn soll aus Richtung Invalidenstraße nur bis zum Lehrter Bahnhof geführt werden - um dann wieder zurückzufahren nach Friedrichshain, Hellersdorf, Marzahn. Die Anbindung des Zentralbahnhofs an die westlichen Bezirke soll hingegen allein die Stadtbahn besorgen, die doch aber angeblich schon in Kürze dermaßen überlastet sein wird, daß die U5 unverzichtbar ist. Und wer aus den nördlichen Vierteln Berlins den hochmodernen Hochgeschwindigkeitsverkehr der neuen Bahn erreichen will, dem dürfte sich dies ungefähr so darstellen: In Frohnau rein in die S-Bahn, bis Friedrichstraße gefahren, mit den Koffern zur Stadtbahn hochgeklettert, eine Station bis Lehrter Bahnhof, dort in den neuen Nord-Süd-Tunnel wieder hinabsteigen.

Freilich könnte man auch schon am Gesundbrunnen in die Regionalbahn wechseln, für die die dortige Station völlig neugebaut werden soll. Doch wie schon im Falle des Lehrter Bahnhofs hat man auch für diesen neuen Bahnhaltepunkt und jenen an der Papestraße, der noch stärker dazu beitragen soll, daß der Lehrter eben nicht zum Zentralbahnhof wird, einen seltsamen Standpunkt ausgesucht: Nur bezogen auf die Kreuzung mit anderen Strecken, mit wenig Blick für das städtische Umfeld. Im Falle Gesundbrunnen handelt es sich abermals um entweder strukturell bisher weitgehend unveränderte Arbeiterviertel bzw. durch Kahlschlagsanierung entstandene fast monofunktionale „Schlafsiedlungen“, im Falle Papestraße um etwas, das man im Englischen mit „in the middle of nowhere“ sehr viel vornehmer beschreibt als im Deutschen: einen Siedlungsbrei, der noch trostloser ist als die Umgebung der jetzt noch „Hauptbahnhof” genannten Station.

Natürlich soll dank der Bahn diese Gegend ganz gewaltig „entwickelt“ werden, mit Büros noch und noch und auch ein paar Wohnungen. Doch vielleicht werden die neuen Bahnhöfen ja gar nicht gebaut. Die Finanznot der öffentlichen Hand, mangelnde Möglichkeiten (oder mangelndes Geschick?) der Bahn bei der Vermarktung der Flächen in den Bahnhöfe und um sie herum, ein andauerndes Überangebot an Büroräumen und ein Ausbleiben der großspurig prognostizierten Zuwachszahlen bei den Bahnfahrgästen (Prognose für 2010: rund fünfzig Millionen im Fern-, 85 Millionen im Regionalverkehr) wie auch eine weniger rosige Metropolenentwicklung Berlins, könnten die Pläne noch ganz zum Platzen bringen. Das Abspecken hat schon begonnen, etwa bei den Planungen für die Bahnhöfe Gesundbrunnen und Spandau. Auch scheint der Terminplan für Tunnel- und Bahnhofsbau allen Dementis zum Trotz ins Rutschen geraten zu sein: Erst war von einer Fertigstellung im Jahre 2000 die Rede, dann von 2002, inzwischen geistert schon der Termin 2004 herum. Und wenn die Bahn, wie gerüchteweise auch immer wieder zu hören ist, beispielsweise den ICE nur am Lehrter Bahnhof halten ließe und nicht wenigstens auch in Papestraße, wäre ersterer noch mehr zum wirklichen Zentralbahnhof geworden und die Bahnfahrt dorthin würde sich von Süden aus ebenso umständlich gestalten wie es für die nördlichen Bezirke beschrieben worden ist.

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Sehen wir zu schwarz? Mag sein, aber all die schönen, mit so großen Worten und Prophezeiungen aus dem Boden gestampften Riesenprojekte früherer Jahrzehnte - vom Steglitzer Kreisel über das Neue Kreuzberger Zentrum und die Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße bis hin zur Neugestaltung von Leipziger Straße und Alexanderplatz -, die dann mehr oder minder kläglich gescheitert sind und heute als blasse Schatten dessen herumstehen, was sie einmal sein sollten, haben eine gewisse Grundskepsis gegenüber derlei wachsen lassen. Andererseits: Warum sollten künftige Generationen nicht auch etwas haben, das sie über die absurden Vorstellungen und Pläne der Vergangenheit den Kopf schütteln läßt?

Jan Gympel

aus SIGNAL 1/1996 (Februar 1996), Seite 14-16