Nahverkehr
1. Jan 1996
Gibt es so etwas wie kollektive Bestrafung für die Schweinereien einzelner? Ja, gibt es. Wir erinnern uns: Die Zeitungen waren vor kurzer Zeit voll (berechtigter) Empörung über die "modern" werdende Angewohnheit einzelner Leute, Mitreisende gewaltsam aus der fahrenden S-Bahn an die frische Luft zu befördern. Der öffentliche Druck zwang die S-Bahn Berlin GmbH, Maßnahmen zu ergreifen. Dies wurde getan. Jetzt gibt es öffentlichen Druck in anderer Form, nämlich langanhaltend auf den Türen der Altbauzüge. Solange der Zug in voller Fahrt ist, gibt es wahrlich nichts dagegen einzuwenden. Doch welch' Bild bietet sich uns, wenn der Zug im Bahnhof steht. Um einen Überblick zu gewinnen, teilen wir die Nutzer der S-Bahn einmal in Kategorien ein.
Kategorie Eins: Wie aus alten Zeiten gewohnt wird versucht, die Tür schon bei Einfahrt in den Bahnhof zu öffnen. Das Ergebnis ist, falls der Versuch gelingt, die sich sofort wieder schließende Tür. Doch auch nach dem Halt gibt es nun Probleme. Denn das Öffnen ist immer noch erschwert. und es kann passieren, daß der Hintermann die Bretter gleich wieder vor die Nase bekommt.
Kategorie Zwei: Die Wissenden, aber Ungeduldigen. Die S-Bahn steht noch nicht ganz, aber das Gezerre an den Türen beginnt. Denn in einer Minute fährt die nächste Straßenbahn, oder der Bus wurde schon gesehen, wie er um die Ecke kommt. Das Ergebnis entspricht dem in Kategorie Eins.
Kategorie Drei: Die technisch verständnisvollen Idealfahrgäste haben längst durchschaut, daß man ein gewisses Zischen kurz vor Stillstand abwarten sollte, um dann mit gleichmäßig auf beide Arme verteilter Kraft die Türen bis zum Anschlag zu öffnen. Geheimnisvoll lächelnd verlassen sie die rot/gelbe als Sieger des Alltags auf Berliner Bahnsteigen. Aber auch hier gibt es Ausnahmen, wo selbst dieses schlitzohrige Verfahren nicht hilft und sich auch die Türen des nun tatsächlich stehenden Zuges nur mit vereinten Kräften öffnen lassen.
Zu Kategorie Eins und Zwei bliebe anzumerken, daß der Versuch, die Tür vorzeitig zu öffnen, offenbar dazu führt, daß sich Druck aufbaüt, der auch nach dem Stillstand des Wagens nicht aus der Leitung geht. Um die beschriebenen Qualen zu beenden, sollte über eine andere Form der Verriegelung, ggf. mit mechanischem Verschluß, nachgedacht werden.
Frage: Muß so ein simpler Vorgang wie die Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels tatsächlich zum Testfall für das Durchschauen technischer Vorgänge und zum Muskeltrainig mutieren, oder läßt sich wieder ein Zustand hersteilen, der es auch Kindern, mit vollen Einkaufstaschen bepackten Frauen und älteren Herren erlaubt, ohne größere Anstrengung aus der S-Bahn zu kommen?
IGEB
aus SIGNAL 1/1996 (Februar 1996), Seite 21