Titelthema

Das Hamburger Projekt „Linie Fünf“

Ein Community-Projekt zur Erarbeitung einer Zukunftsvision für den Nahverkehr


Johannes Bouchain

13. Okt 2014

Anfang Juli 2014 startete in Hamburg das Projekt „Linie Fünf“ mit einer Website, auf der Vorschläge für den zukünftigen Ausbau des Nahverkehrs in der Elbmetropole gesammelt werden (liniefuenf.de). Es ist eine offene Ideensammlungs- und Diskussionsplattform, bei der alle Interessierten mitmachen können. Im Oktober 2014 startete das Projekt auch in Berlin unter dem Namen „Linie Plus“.

Die Grundidee: offene Bürgerbeteiligung im Internet – und das Beispiel Nexthamburg

Mit dem Aufkommen des „Web 2.0“ wandelte sich das Internet verstärkt von einem passiven Informationsmedium zu einem interaktiven virtuellen Raum. Verschiedenste Unternehmen, Interessengruppen oder z. B. politische Akteure begannen, (konstruktive) Kritik und kreative Ideen aus der breiten Masse der Internetnutzer einzuholen – „Crowdsourcing“, wie es heute heißt.

Auch im Themenfeld Stadtentwicklung erfolgte die klassische Bürgerbeteiligung bei städtischen Planungen und Bauprojekten vermehrt mithilfe des Internets. Denn durch eine oftmals unzureichende und zu späte Einbeziehung der Bürger in den formellen Planungsverfahren hatte sich viel Unmut aufgestaut, der zu Protesten wie denen gegen „Stuttgart 21“ führte.

Titelseite Nexthamburg-Buch Foto: Sven Lohmeyer, Nexthamburg

Ein Beispiel für ein Projekt, das neue Wege in der Bürgerbeteiligung beschreitet, ist die 2009 gestartete Initiative Nexthamburg (nexthamburg.de), aus der heraus die Idee für das hier beschriebene Nahverkehrsprojekt entstand. Auf der Internetseite sind Bürger dazu aufgefordert, Ideen für das Hamburg der Zukunft einzureichen – ganz gleich, welcher Größenordnung. Die Ideen werden diskutiert, redaktionell und von der Community weiterentwickelt und – in der aktuellen Phase – zur Projektreife gebracht. Die Online-Plattform wird dabei von regelmäßigen Offline-Formaten flankiert. Eine Synthese aus den ersten drei Jahren der Ideensammlung und -vertiefung bietet das 2012 erschienene Buch „Nexthamburg: Bürgervisionen für eine neue Stadt“, das thematisch gruppiert die beliebtesten Ideen aus der Sammlung anhand von Illustrationen und erläuternden Texten zeigt.

Crowdsourcing für öffentlichen Nahverkehr?

2012 wurde das beschriebene Modell von Nexthamburg erstmals in andere Städte exportiert. Projekte mit demselben auf die Stadtentwicklung von morgen bezogenen Ansatz entstanden z. B. in Bangalore, Belgrad und Lissabon, später auch u. a. in Istanbul, Kassel und Zürich. Gleichzeitig gab es aber erste Beauftragungen, die inzwischen erprobten Instrumente im Rahmen von formellen Planungsverfahren oder von Entwicklungskonzepten einzubringen.

Einen besonderen Schwerpunkt bildete hier das Thema Verkehr. Für den Hamburger Bezirk Wandsbek wurde im Rahmen des Nexthamburg-Sonderdialoges „Wandsbek Impuls“ in kollaborativer Form eine Vertiefung „Mobilität“ ausgearbeitet.

An erster Stelle ist aber „Bremen bewegen“ (bremenbewegen.de) zu nennen, der überaus erfolgreiche Bürgerdialog zur Ausarbeitung des Verkehrsentwicklungsplans der Freien Hansestadt Bremen. In der ersten Phase des Projekts ab Ende 2012 wurden innerhalb von zwei Monaten über 4000 Beiträge und über 7000 Kommentare eingereicht. In sehr vielen Fällen wurden neben der Benennung von Mängeln und Problemen auch Lösungsvorschläge eingebracht. Das Projekt hat gezeigt, dass das Thema Verkehr ein besonderes Potenzial bietet und die Bürger sich oftmals selbst schon viele Gedanken zu Problemlösungen machen.

Wie aber sieht es beim Thema Öffentlicher Nahverkehr aus? Hier wird in einigen Online-Foren zwar ausführlich diskutiert, viele Blogs und Nachrichtenseiten versorgen den Interessierten mit den wichtigsten Neuigkeiten von lokal bis global und laden zum Kommentieren ein. Das Crowdsourcing im öffentlichen Nahverkehr scheint aber bisher fast ausschließlich auf die Online-Version des „Kummerkastens“ oder – gerade mit dem Bedeutungsgewinn des mobilen Internets wichtig – das Ermitteln von Fahrplan-Echtzeitdaten unter Einbeziehung von Nutzerortung beschränkt zu sein. Gezielt auf die Zukunft des öffentlichen Nahverkehrs ausgerichtete kollaborative Beteiligungsplattformen sind noch neues Terrain. Im Frühjahr 2014 entstand die Idee, eben solch eine Plattform zu gründen. Auslöser waren die in Hamburg stark polarisierte Diskussion „Stadtbahn-Neubau versus U-Bahn-Ausbau“, aber auch der generelle Wunsch, das Nexthamburg-Prinzip einmal auf den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs anzuwenden.

Das Projekt Linie Fünf

liniefuenf.de
Screenshots der Beitragsübersicht und eines Linienvorschlags für Hamburg. liniefuenf.de

Ein Name für das Hamburger Projekt zur Ausarbeitung einer kollaborativen Zukunftsstrategie für den Nahverkehr war schnell gefunden: „Linie Fünf“. Die umstrittene nächste U-Bahn-Linie trägt diese Liniennummer, ebenso wie die nächste S-Bahn-Linie, wenn die im fortgeschrittenen Planungsstadium befindliche S 4 gebaut ist. Und für die Straßenbahn passt es auch, denn welche Linie würde sich am besten für eine erste neue Linie diesen Verkehrsmittels eignen als die chronisch überlastete Metrobus-Linie 5?

Die Fertigstellung der Plattform zog sich jedoch eine Weile hin. Neben den technischen und inhaltlichen Bausteinen, die in modifizierter Form von anderen Projekten übernommen werden konnten, kamen technisch anspruchsvolle Aufgaben hinzu: Dem Nutzer sollte die Möglichkeit gegeben werden, auf einer Kartengrundlage Linien zu zeichnen, Haltestellen zu setzen und Haltestellennamen einzugeben – neben den textlichen Angaben von Titel und Beschreibung. Zudem sollten die Linien in der Farbe des ausgewählten Verkehrsmittels und die Haltestellen mit dem dem Verkehrsmittel zugeordneten Symbol erscheinen. Daneben wurde die bei anderen Projekten bisher nicht mögliche Bearbeitung vorhandener Beiträge eingerichtet – was bei der Komplexität der Streckenvorschläge sehr wichtig ist, um nachbessern zu können. Nicht zuletzt sollte in der Beitragsübersicht in Kachelform für jeden Vorschlag eine Miniatur-Karte mit dem eingetragenen Strecken- oder Haltestellenvorschlag dargestellt werden. Der Entwicklungsaufwand war also trotz vieler vorhandener Elemente groß.

Doch Anfang Juli 2014 startete das Projekt in seiner jetzigen Form. Durch Bekanntmachung in verschiedenen Nahverkehrsforen wurden gezielt potenziell interessierte Nutzergruppen angesprochen. Der Effekt war groß: Bis Ende August kamen über 350 Vorschläge und weit über 600 Kommentare zusammen. Fast ein Drittel der Vorschläge bezieht sich auf den Ausbau des U-Bahn-Netzes, knapp ein Viertel auf den Bus, jeweils etwa ein Sechstel auf Straßenbahn und S-Bahn. Aber auch weitere Verkehrsmittel wie u. a. die hamburgspezifische AKN, Regionalbahnen oder Hafenfähren sind bereits mit Vorschlägen vertreten. Die Vorschläge lassen sich untergliedern in Linienergänzungen, Streckenneubauten, Haltestellenergänzungen im Bestandsnetz und – im Hinblick auf das Busnetz – viele Vorschläge für die Umstrukturierung von Linienverläufen. Als eigenständige Gruppe sind auch die zahlreichen Vorschläge für zweite Haltestellenzugänge im Bestandsnetz zu sehen. In der überwiegenden Zahl liegen die Vorschläge auf Hamburger Gebiet, aber auch für die Außenbereiche der Metropolregion liegen bereits zahlreiche Ideen vor.

Über den Autor Johannes Bouchain, Dipl.-Ing. Stadtplanung, ist Gründungsgesellschafter von Nexthamburg, welches 2009 basierend auf einer Idee des Hamburger Stadtplaners Julian Petrin offiziell gegründet wurde und inzwischen mit einem großen Team breit aufgestellt ist. Er leitet dort den Bereich Programmierung und hat mit „Linie Fünf“ das Prinzip der interaktiven Bürgerbeteiligung erstmals auf die ÖPNV-Planung übertragen. Foto: Peter Fey, Nexthamburg

Auffällig ist, dass einige Nutzer sehr viele Beiträge verfassen – teilweise werden alle Linien eines Gesamtkonzepts als Einzelbeiträge eingestellt. Dies geschieht sicherlich auch im Hinblick auf die nächsten Phasen des Projekts. Noch 2014 wird die Phase der Expertenbewertungen und der Priorisierung folgen. Gleichzeitig wird es den Nutzern dann ermöglicht, ihre eigenen Vorschläge oder die anderer zu Gesamtkonzepten zusammenzufassen. In dieser Phase können dann erstmals Bewertungen der Vorschläge erfolgen, wobei hier auch Experten zu Wort kommen sollen: Verkehrsplaner von Seiten der Stadt oder aus Planungsbüros, Experten aus dem universitären Umfeld und weitere mit dem Thema professionell befasste Akteure werden um Statements zu ausgewählten Vorschlägen gebeten. In der dritten Phase werden die am besten bewerteten Vorschläge und Konzepte gemeinschaftlich zu einer Zukunftsvision zusammengestellt, die dann – ebenso wie 2012 das Nexthamburg-Buch – in gedruckter Form erscheinen soll. Gerade in Phase 2 und 3 wird die Online-Aktivität durch verschiedene Veranstaltungen begleitet. Und danach geht es wieder von vorne los mit einer neuen Sammlungsphase.

Was kann man erreichen?

Man mag sich nun fragen, was das Ziel des Ganzen ist. Eine Umsetzung kann sicherlich nur bei kleinen, kurzfristigen Maßnahmen der nächste Schritt sein, z. B. bei kleinen Ergänzungen oder Änderungen im Busnetz. Komplette U- oder S-Bahn-Linien neu zu bauen, was viele vorschlagen, scheint oft auch langfristig unwahrscheinlich. Hauptziel eines derartigen Projekts kann es also nicht sein, alle Vorschläge eins zu eins zu realisieren. Vielmehr geht es vordergründig darum, den kreativen Mitdenkern des Nahverkehrs der Zukunft einen Raum zu geben, der frei von finanziellen oder politischen Grenzen das Entwerfen und Zusammenstellen einer eigenen Nahverkehrsvision ermöglicht. Ein Raum, in dem man gezielt mit anderen Interessierten in einen Dialog zu den eingebrachten Ideen treten kann und der es schließlich ermöglicht, den einen oder anderen entscheidungsfähigen Experten mit der einen oder anderen Idee anzustecken – und sei es auch nur bezüglich kleiner Teilaspekte der großen Vorschlagsvielfalt.

Der Grundgedanke ist, der Kreativität freien Lauf zu lassen und später einzelne Rosinen aus diesem Kuchen tatsächlich in die politische bzw. verkehrsplanerische Diskussion einzubringen. Der gesamte „Kuchen“ aber, die gesamte aus dem Projekt Linie Fünf entstandene Nahverkehrsvision wird – verziert und ausgeschmückt – in eine schöne, gedruckte Form gebracht. Ein Buch, das vielleicht doch den einen oder anderen Aha-Effekt hinsichtlich neuer und interessanter Ideen auslöst, so utopisch sie auch sein mögen. Ein Endprodukt, das eine große Bedeutung als Abschluss der ersten Runde von Linie Fünf hat und das den Wert einer gemeinschaftlichen, zugleich spielerischen und fundierten Ideensammlung für den Nahverkehr der Zukunft aufzeigt.

Was ist für Berlin geplant – und für eventuelle weitere Städte?

Das Projekt für die Hauptstadt geht hiermit an den Start. Seit Anfang Oktober 2014 ist es online – und der Ablauf der Phasen von den einzelnen Ideen über die Konzepte zur gemeinschaftlichen Vision wird zeitversetzt dem in Hamburg entsprechen. Der Vorteil ist aber, dass die Redaktion und Moderation hier von vornherein breiter aufgestellt ist, um auf die hoffentlich große Zahl an Vorschlägen eingehen zu können. Auch die mediale Präsenz der Berliner Variante ist bereits von Anfang an stärker. Zudem sind hier gleich zu Beginn weitere Filter eingerichtet, die helfen, neben der möglichen Auswahl bestimmter Verkehrsmittel, Nutzer oder Ortsteile und Gemeinden einen Überblick über die Vielzahl der Vorschläge zu gewinnen. Einfach auf linieplus.de vorbeischauen und loslegen!

Verkehrsplanung für alle verspricht das Hamburger Projekt „Linie Fünf“, welches nun auch für Berlin gestartet ist. Weitere Städte sollen folgen Foto und Montage: Raul Stoll

Auch der Grundstein für weitere Ausweitungen ist damit gelegt, denn mit relativ geringem Aufwand lässt sich für jede Stadt und Region ein eigenes Unterprojekt für Linie Plus erstellen – vorausgesetzt, dass sich ein Team für die Redaktion und technische Betreuung der jeweiligen Unterseite findet. Denn zumindest derzeit ist die finanzielle Unterstützung der Projekte ausbaufähig – und Interessierte, die redaktionell und technisch unterstützen möchten, sind immer willkommen. Auch für die Projekte in Hamburg und Berlin.

Bei Interesse einfach eine E-Mail an post (ät) liniefuenf.de schreiben.

Johannes Bouchain

aus SIGNAL 5/2014 (Oktober/November 2014), Seite 4-5